Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5P.386/2005 /bnm
Urteil vom 28. November 2005
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Zbinden.
Parteien
X.________ AG,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Karl Spühler,
gegen
Z.________ AG in Nachlassliquidation,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Hans Hofstetter,
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12 A, 8500 Frauenfeld.
Gegenstand
Art. 9 BV (paulianische Anfechtung/ Fristwiederherstellung),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 31. August 2005.
Sachverhalt:
A.
A.a Die Z.________ AG in Nachlassliquidation (nachfolgend Z.________ AG) und die X.________ AG reichten gegen das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen vom 13. November 2003 rechtzeitig Berufung beim Obergericht des Kantons Thurgau ein. Das Obergericht setzte beiden Parteien am 30. September 2004 eine nicht erstreckbare Frist, um schriftlich Berufungsanträge zu stellen und allfällige Noven geltend zu machen oder aber die Durchführung des schriftlichen Verfahrens zu verlangen. Laut Verfügung hatten die Parteien überdies innert derselben Frist einen Kostenvorschuss zu leisten. Die X.________ AG leistete fristgerecht den Kostenvorschuss, doch erfolgte ihre Eingabe auf Durchführung eines schriftlichen Verfahrens unbestrittenermassen einen Tag zu spät.
A.b Sie beantragte deshalb am 1. November 2004 durch ihren Anwalt, es sei ihr die Frist wiederherzustellen, um schriftlich die Berufungsanträge zu stellen und allfällige Noven geltend zu machen oder die Durchführung des schriftlichen Verfahrens zu verlangen. Zur Begründung machte sie geltend, in der betroffenen Anwaltskanzlei bestehe das Vieraugenprinzip, indem Anwalt und Sekretärin die Fristen unabhängig voneinander bearbeiteten und sich dabei gegenseitig überprüften. Wegen Ferienabwesenheit der Sekretärin hätten im vorliegenden Fall sowohl Rechtsanwalt V.________ als auch Rechtsanwalt Y.________ die laufenden Fristen unabhängig voneinander berechnet. Nach der Rückkehr aus den Ferien habe die Sekretärin die Frist unter dem zutreffenden Datum (21. Oktober 2004) in der Kanzleiagenda und in der Agenda von Rechtsanwalt Y.________ eingetragen; als fristgebundene Handlung sei indes nur der Kostenvorschuss, nicht aber die Antragstellung eingetragen worden. Nach der Überweisung des Kostenvorschusses sei die Frist als erledigt abgehakt worden.
A.c Mit einer vier Seiten umfassenden Eingabe vom 15. November 2004 liess die Z.________ AG Abweisung des Gesuchs beantragen. Sie führte unter anderem aus, auch nach der Darstellung der X.________ AG sei davon auszugehen, dass sowohl dem Anwalt als auch der Sekretärin als Hilfsperson ein gravierender, nicht zu entschuldigender Fehler unterlaufen sei. Dem Anwalt sei schon beim Eingang des fristauslösenden Schreibens des Obergerichts vom 30. September 2004 entgangen, dass er zwei Fristen zu notieren gehabt hätte. Der Anwalt habe auch nicht eingegriffen, als seine Sekretärin fälschlicherweise nur eine Frist - nämlich jene zur Leistung des Kostenvorschusses - aufgenommen habe, wobei dieser Fehler dem Anwalt auch anlässlich der zweiten Kontrolle am 18. Oktober 2004 nach seiner Ferienrückkehr nicht aufgefallen sei.
A.d Das Obergericht des Kantons Thurgau stellte der X.________ AG die Stellungnahme nicht zu, sondern wies das Gesuch um Fristwiederherstellung mit Beschluss vom 7. Dezember 2004 ab. Mit Urteil vom 15. März 2005 hiess das Bundesgericht deshalb die von der X.________ AG dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gut und hob den obergerichtlichen Beschluss auf (5P.18/2005).
B.
Das Obergericht stellte in der Folge der X.________ AG die erwähnte Stellungnahme zu. Nachdem die X.________ AG am 20. Mai 2005 sich zur Stellungnahme geäussert hatte und diese Stellungnahme ihrerseits der Z.________ AG zugestellt worden war, wies das Obergericht das Gesuch um Fristwiederherstellung erneut ab. Es ging davon aus, die Beschwerdeführerin bzw. deren Anwalt habe die Fristversäumnis verschuldet, womit die Frist zur Einreichung der Berufungsanträge und zur Geltendmachung von Noven nicht wiederhergestellt werden könne (Beschluss vom 31. August 2005).
C.
Die X.________ AG führt staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht im Wesentlichen mit dem Antrag, den obergerichtlichen Beschluss vom 31. August 2005 aufzuheben. Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Die gerügten Verfassungsverletzungen sind der staatsrechtlichen Beschwerde zugänglich und können mit keinem anderen Rechtsmittel beim Bundesgericht vorgetragen werden (Art. 84 Abs. 1 lit. a und 84 Abs. 2 OG). Beim angefochtenen Beschluss handelt es sich um einen selbständig eröffneten, letztinstanzlichen Zwischenentscheid betreffend Abweisung des Gesuchs um Fristwiederherstellung (Art. 86 Abs. 1, Art. 87 Abs. 2 OG ).
1.2 Mit der Abweisung des Gesuchs um Fristwiederherstellung endet das Verfahren für die Beschwerdeführerin mit einem Prozessverlust; durch die Verfügung erleidet sie demnach einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil, weshalb unter diesem Gesichtspunkt auf die staatsrechtliche Beschwerde eingetreten werden kann.
2.
Nach § 70 Abs. 2 ZPO/TG kann das Gericht auf Antrag der säumigen Partei eine Frist wiederherstellen, falls kein Verschulden vorliegt. Mit der Zustimmung der Gegenpartei ist die Wiederherstellung in allen Fällen zu bewilligen. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin einer Fristwiederherstellung nicht zugestimmt, weshalb das Obergericht abzuklären hatte, ob die Beschwerdeführerin bzw. deren Anwalt ein Verschulden an der Fristversäumnis trifft. In Beantwortung der gestellten Rechtsfrage hat es die Verfügung vom 30. September 2004 als klar und verständlich bewertet und das Verhalten des Anwalts der Beschwerdeführerin als schuldhaft qualifiziert.
3.
3.1
3.1.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Obergericht sei auf die im kantonalen Verfahren geltend gemachte besondere und verwirrliche Art des Schreibens des Obergerichts vom 30. September 2004 mit keinem Wort eingegangen und habe damit den massgebenden Sachverhalt unvollständig festgestellt. Es gehe aktenwidrig davon aus, es seien zwei getrennte Fristen angesetzt worden und habe dabei übersehen, dass nur von "Frist" nicht aber von "Fristen" die Rede sei. Im zweiten Absatz des Schreibens werde nämlich ausgeführt: "innert derselben Frist von 20 Tagen" sei für das Berufungsverfahren ein Kostenvorschuss zu leisten, womit sich aus dem Schreiben gerade nicht ergebe, dass zwei getrennte Fristen angesetzt worden seien. Es sei nur einmal, und zwar im ersten Absatz von einer "nicht erstreckbaren Verwirkungsfrist von 20 Tagen" die Rede. Weiter unten werde dann auf diese Frist mit den Worten "in derselben Frist" Bezug genommen. Die fetten Hervorhebungen gewisser Passagen indizierten eine einzige Frist. Das Obergericht habe dies übersehen und damit den Sachverhalt krass unrichtig festgestellt.
Unter dem Gesichtspunkt der Willkür macht die Beschwerdeführerin ferner geltend, aufgrund der Gesamtumstände erweise sich der Beschluss als willkürlich. Auszugehen sei vom unklaren, ja verwirrlichen Schreiben des Obergerichts vom 30. September 2004. Dass Fristansetzungen nicht in klarer, übersichtlich strukturierter Verfügungsform erfolgten, sei unüblich. Dazu komme die verwirrliche Hervorhebung bestimmter Passagen. Sodann sei es nach moderner Prozessauffassung stossend, wenn in solchen Fällen ein Wiederherstellungsgesuch abgelehnt werde; dies vor allem deshalb weil das Obergericht ausdrücklich feststelle, dass das Fristüberwachungssystem durchaus sorgfältig und zweckmässig ausgestaltet sei.
3.1.2 Es trifft zu, dass das Obergericht in seinem Beschluss wörtlich von zwei Fristen ausgeht, während in der Verfügung vom 30. September 2004 nur von einer Frist die Rede ist. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin sind indes nicht geeignet, den angefochtenen Beschluss als im Ergebnis willkürlich erscheinen zu lassen (BGE 128 I 81 E. 2 S. 86). Liest jemand nur die beiden fett gedruckten Passagen ("innert nicht erstreckbarer Frist von 20 Tagen ....... Kostenvorschuss von Fr. 10'000.--") könnte der Eindruck entstehen, es sei innert der Frist von 20 Tagen nur ein Kostenvorschuss zu leisten. Bei Lektüre der ganzen Verfügung ist jedoch klar, dass innert dieser Frist zwei Prozesshandlungen vorzunehmen sind (1. Einreichung der Berufungsanträge und Geltendmachung allfälliger Noven; 2. Leistung eines Kostenvorschusses von Fr. 10'000.-- für das Berufungsverfahren). Vom Adressaten einer Verfügung und namentlich von einem Anwalt ist zu erwarten, dass er die an ihn adressierte Verfügung ganz liest und nicht nur die fett gedruckten Passagen.
Soweit die Beschwerdeführerin die unübliche Art der Fristansetzung anprangert oder auf die moderne Prozessauffassung hinweist, handelt es sich um appellatorische und damit unzulässige Kritik (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 III 279 E. 1c S. 282). Unbehelflich ist der Hinweis auf das zweckmässige Fristkontrollsystem, zumal das Obergericht ausdrücklich feststellt, die Anwälte hätten sich in diesem Fall nicht daran gehalten. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin sind damit insgesamt nicht geeignet, Willkür darzulegen.
3.2 Als offensichtlich unrichtig und damit willkürlich beanstandet die Beschwerdeführerin sodann die Feststellung des Obergerichts, es sei entgegen den bürointernen Richtlinien gerade keine Nachkontrolle dessen erfolgt, was die Sekretärin in den Agenden vermerkt habe. Der zuständige Rechtsanwalt habe nach seiner Rückkehr aus den Ferien die Nachkontrolle in Übereinstimmung mit den Richtlinien vorgenommen und festgestellt, dass die Frist in der Agenda eingetragen und bereits erfüllt war. Der von der Sekretärin vorgenommene Eintrag habe sich aber nur auf den Kostenvorschuss bezogen. Das Obergericht habe der Sekretärin kein Verschulden angerechnet.
Wie bereits dargelegt (E. 3.1.2) waren nach der massgebenden Verfügung vom 30. September 2004 innert derselben Verwirkungsfrist zwei Prozesshandlungen vorzunehmen, was nach den Feststellungen des Obergerichts sowohl der Sekretärin als auch dem Anwalt entgangen war. Die Beschwerdeführerin selbst gibt denn auch zu, dass sich der Eintrag nur auf den Kostenvorschuss bezogen hat. Ist ihr bzw. ihrem Anwalt entgangen, dass zwei Prozesshandlungen vorzunehmen waren, so erweist sich die Feststellung des Obergerichts, bezüglich des Entscheids der Sekretärin bzw. ihrer Eintragungen sei keinerlei Nachkontrolle erfolgt, nicht als willkürlich.
4.
Zur Begründung ihres Vorwurfs, der obergerichtliche Beschluss verletze den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV), macht die Beschwerdeführerin geltend, nach dem besagten Grundsatz dürften Verfügungen nicht unklar sein. Dabei komme es nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gerade auch auf den Fettdruck an. Zudem bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Anwalt erkannt habe, dass effektiv zwei Fristen liefen.
Die Argumentation der Beschwerdeführerin scheitert auch hier am Umstand, dass die Verfügung des Obergerichts ungeachtet des Fettdrucks es nicht an Deutlichkeit hat fehlen lassen und damit weder irreführend noch missverständlich war. Zudem lässt sich die Rechtsprechung (2A.537/2004), auf welche die Beschwerdeführerin hinweist, nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen, ging es doch im besagten Fall um eine mehrseitige unklare Verfügung, welche dem Betroffenen direkt zugestellt worden war. Hier steht demgegenüber eine inhaltlich klare Verfügung zur Diskussion, welche die massgebenden Informationen bereits in den ersten beiden Absätzen für jeden aufmerksamen Leser verständlich enthält. Überdies richtet sie sich hier nicht an einen "einfachen Bürger", sondern an eine Anwaltskanzlei, die über geschulte und im Umgang mit richterlichen Fristansetzungen geübte Fachkräfte verfügt, von denen erwartet werden darf und muss, dass sie richterliche Verfügungen aufmerksam lesen. Der Vorwurf der Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben erweist sich damit als unbegründet. Dass der Anwalt nicht erkannt hat, dass zwei Prozesshandlungen innert der besagten Frist vorzunehmen waren, ist nicht geeignet, eine Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben darzutun.
5.
Die Beschwerdeführerin bringt schliesslich vor, angesichts der aufgezeigten Umstände hätten die vom Obergericht aufgeführten Gründe der Rechtssicherheit eine Ablehnung des Fristwiederherstellungsgesuchs nicht erfordert, zumal hier singuläre Umstände vorgelegen hätten. Das Obergericht habe § 70 Abs. 2 ZPO/TG mit übertriebener Schärfe angewendet und ihr damit den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt.
5.1 Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Bürgern und Bürgerinnen den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183). Der Vorwurf ist unbegründet.
5.2 Prozessuale Zeitbestimmungen und daran geknüpfte Säumnisfolgen sind erforderlich und geeignet, um eine im Interesse der Herstellung des Rechtsfriedens liegende beförderliche Durchführung des Verfahrens durchzusetzen. Ihre strikte Anwendung liegt somit im öffentlichen Interesse und stellt damit keinen überspitzten Formalismus dar, zumal die Beschwerdeführerin bzw. ihr Anwalt im Schreiben des Obergerichts vom 30. September 2004 ausdrücklich auf die Säumnisfolgen hingewiesen worden ist (vgl. BGE 96 I 521 E. 4 S. 523). Soweit die Beschwerdeführerin mit den "besonderen Umständen" die angeblich unklare Ausgestaltung der Verfügung anspricht, geht sie von einer unzutreffenden Auffassung über die tatsächlichen Gegebenheiten aus (vgl. E. 3.2.1).
6.
Damit ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie schuldet der Beschwerdegegnerin allerdings keine Parteientschädigung, da keine Vernehmlassung eingeholt worden ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 28. November 2005
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: