BGer I 324/2005
 
BGer I 324/2005 vom 12.12.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 324/05
Urteil vom 12. Dezember 2005
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Flückiger
Parteien
N.________, 1952, Beschwerdeführer, vertreten durch die DAS Rechtsschutz-Versicherung, Seilerstrasse 24, 3001 Bern,
gegen
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 4. April 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1952 geborene N.________ war seit 1978 als Bauarbeiter/Kranführer bei der Firma S.________ AG angestellt. Am 21. Januar 2002 wurde er bei einem Arbeitsunfall von einem schweren umstürzenden Schalungselement im Bereich der linken Flanke und des Kreuzes getroffen. Wegen anhaltender Schmerzen meldete sich der Versicherte am 24. Oktober 2002 bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern zog die Akten der Schweizerischen Unfallversicherung (SUVA) bei. Ausserdem holte sie einen Arbeitgeberbericht vom 26. November 2002 sowie Berichte des Dr. med. F.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 9. Januar, 5. Februar, 24. April und 17. Oktober 2003 ein und gab bei Frau Dr. med. L.________, Neurochirurgie FMH, und Dr. med. H.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ein Gutachten in Auftrag, welches am 16. bzw. 18. Dezember 2003 erstattet wurde. Anschliessend lehnte es die Verwaltung mit Verfügung vom 10. März 2004 ab, eine Rente auszurichten. Daran wurde auf Einsprache hin - nach Beizug einer Stellungnahme der SUVA sowie zusätzlicher Angaben der Arbeitgeberin vom 12. Mai 2004 - mit Entscheid vom 21. Dezember 2004 festgehalten.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 4. April 2005).
C.
N.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm "die gesetzliche IV-Rente auszurichten". Eventualiter wird die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zur Ergänzung der Abklärungen beantragt.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Wie die Vorinstanz erwogen hat, ist der Rentenanspruch in der hier gegebenen Konstellation für die Zeit bis 31. Dezember 2002 nach den bis zu diesem Datum gültig gewesenen Bestimmungen, für das Jahr 2003 unter zusätzlicher Berücksichtigung des ATSG, der ATSV und der damit verbundenen Rechtsänderungen sowie ab 1. Januar 2004 entsprechend der seither geltenden Normenlage zu beurteilen (vgl. BGE 130 V 445 ff. Erw. 1). Richtig ist auch, dass die von der Rechtsprechung zu den Begriffen der Erwerbsunfähigkeit und der Invalidität sowie zur Bestimmung des Invaliditätsgrades herausgebildeten Grundsätze unter der Herrschaft des ATSG prinzipiell weiterhin Geltung haben (BGE 130 V 352 Erw. 3.6).
1.2 Das kantonale Gericht hat die jeweils geltenden Regelungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG, seit 1. Januar 2003 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 7 ATSG) sowie die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen, Art. 28 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Ebenfalls beizupflichten ist den vorinstanzlichen Erwägungen zur Invalidität bei seelischen Störungen mit Krankheitswert (BGE 127 V 298 Erw. 4c, 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b) und zur invalidenversicherungsrechtlichen Behandlung somatoformer Schmerzstörungen (BGE 130 V 353 ff. Erw. 2.2).
1.3 Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG; damit inhaltsgleich war der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesene Art. 28 Abs. 2 IVG).
2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der Eidgenössischen Invalidenversicherung und in diesem Rahmen der Invaliditätsgrad.
2.1 In medizinischer Hinsicht gelangte die Vorinstanz bezüglich des somatischen Beschwerdebildes zum Ergebnis, der Versicherte leide - als Diagnose mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit - an einem lumbovertebralen Schmerzsyndrom mit pseudoradikulärer Ausstrahlung in das linke Bein. Er könne aus diesem Grund die bisherige Tätigkeit als Bauarbeiter nicht mehr ausüben. Dagegen seien ihm Arbeiten mit Heben und Tragen von Gewichten unter 8 kg, einer Steh- und Sitzdauer von nicht mehr als einer Stunde und ohne Verrichtungen in gebückter Stellung ganztags mit entsprechender Stundenzahl zumutbar. Dieser Beurteilung, welche auf der Stellungnahme von Frau Dr. med. L.________ beruht und mit den Aussagen des Dr. med. F.________ sowie den Ergebnissen der durch die SUVA veranlassten Abklärungen vereinbart werden kann, ist zuzustimmen. Diesbezüglich wird der kantonale Entscheid auch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht beanstandet.
2.2 Umstritten ist dagegen die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht. Verwaltung und Vorinstanz verneinten diesbezüglich das Bestehen eines invalidisierenden Gesundheitsschadens, während der Beschwerdeführer gestützt auf das Teilgutachten des Dr. med. H.________ vom 18. Dezember 2003 einen solchen bejaht.
2.3 Nach der durch die Vorinstanz richtig wiedergegebenen Rechtsprechung vermag eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu bewirken. Ein Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in Betracht, wenn die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft bei objektiver Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind - sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist. Die - nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien voraus. So sprechen unter Umständen (1) chronische körperliche Begleiterkrankungen und ein mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, (2) ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, (3) ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn ["Flucht in die Krankheit"]) oder schliesslich (4) unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person für die ausnahmsweise Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung (BGE 131 V 50 Erw. 1.2, 130 V 354 f. Erw. 2.2.3, je mit Hinweisen).
Die (rein) psychiatrische Erklärbarkeit der Schmerzsymptomatik allein - bei weitgehendem Fehlen eines somatischen Befundes - genügt nach dem Gesagten nicht, um einen Leistungsanspruch zu begründen. Deshalb hat die begutachtende Fachperson der Psychiatrie im Rahmen der Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit und der Darlegungen zu den der versicherten Person noch zumutbaren Arbeitsleistungen die Aufgabe, durch die ihr zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten fachkundiger Exploration der Verwaltung (und im Streitfall dem Gericht) aufzuzeigen, ob und inwiefern die versicherte Person über psychische Ressourcen verfügt, die es ihr - auch mit Blick auf die vorstehend genannten Kriterien - erlauben, mit ihren Schmerzen umzugehen. Entscheidend ist, ob die betroffene Person, von ihrer psychischen Verfassung her besehen, objektiv an sich die Möglichkeit hat, trotz ihrer subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (vgl. BGE 130 V 355 Erw. 2.2.4).
2.4 Dr. med. H.________ führt in seinem Teilgutachten vom 18. Dezember 2003 aus, es habe sich ein hartnäckiges Schmerzempfinden eingestellt, welches mehrere Körperteile umfasse und eine Ausweitungstendenz zeige. Laut dem Gutachter bestehen Hinweise auf das Vorliegen einer Somatisierungsstörung. Gemäss ICD-10 sei für diese Krankheiten typisch, dass die Betroffenen phasenweise fixiert und depressiv sind, hypochondrische Befürchtungen zeigen und eine Schmerzausweitung aufweisen. Beim Versicherten sei dies der Fall. Er scheine sich allerdings phasenweise von der Störung innerlich lösen zu können. Seine Arbeitsfähigkeit werde um ca. 40 % eingeschränkt. Eine eigenständige psychische Krankheit lasse sich nicht nachweisen. Phasenweise auftretende Verstimmungen könnten im Rahmen der psychosomatischen Krankheit gesehen werden. Der Versicherte besitze einen guten familiären Rückhalt, was ihm die Verarbeitung der Schmerzen erleichtere. Es bestünden ungünstige krankheitsfremde Faktoren, welche die Erwerbsfähigkeit einschränkten: Emigration, mässige Assimilation, fehlende Ausbildung, Krankheitsgewinn. Diese müssten bei der Beurteilung der krankheitsbedingten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht berücksichtigt werden.
2.5 Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass die Attestierung einer Arbeitsunfähigkeit von 40 % (in Bezug auf die aus somatischer Sicht noch zumutbaren Tätigkeiten) durch Dr. med. H.________ für die Bestimmung des Invaliditätsgrades nicht unbesehen übernommen werden kann. Dem Gutachten lässt sich nicht entnehmen, warum es dem Beschwerdeführer in diesem Ausmass nicht möglich sein sollte, trotz der subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit nachzugehen. Demgegenüber wird nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass keine psychisch ausgewiesene Komorbidität im Sinne der dargelegten Rechtsprechung vorliegt. Was die Faktoren anbelangt, welche bei Fehlen einer derartigen Komorbidität zu berücksichtigen sind, gelangte das kantonale Gericht mit Recht zum Ergebnis, diese seien nicht in einem Ausmass und einer Intensität erfüllt, welche es rechtfertigten, der somatoformen Schmerzstörung invalidisierenden Charakter beizumessen. So sind - abgesehen von den Rückenbeschwerden, deren Ausweitung der Schmerzstörung zu Grunde liegt - keine körperlichen Begleiterkrankungen gegeben. Nach Lage der Akten hat sich der Beschwerdeführer auch nicht vollständig in die Familie zurückzogen, sodass nicht näher geprüft werden muss, ob diesfalls der praxisgemäss vorausgesetzte soziale Rückzug in allen Belangen des Lebens erfüllt sein könnte. Die unternommenen Therapieversuche wiesen die rechtsprechungsgemäss verlangte Vielfältigkeit bisher nicht auf. Ein Krankheitsgewinn wird zwar im Gutachten von Dr. med. H.________ erwähnt; es dürfte sich dabei jedoch eher um einen so genannten sekundären Krankheitsgewinn handeln, der invalidenversicherungsrechtlich unbeachtlich ist (BGE 130 V 359 Erw. 3.3.2 mit Hinweis). Die Akten lassen somit eine für die Anspruchsprüfung ausreichende Beurteilung der genannten Kriterien zu; von weitere Abklärungen ist abzusehen, da sie keine zusätzlichen relevanten Erkenntnisse versprechen (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 2 Erw. 2.3 mit Hinweisen). Mit dem kantonalen Gericht bleibt demzufolge festzuhalten, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung einer relevanten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit durch die Schmerzstörung beim Beschwerdeführer nicht erfüllt sind.
3.
Im Rahmen des für die Bemessung des Invaliditätsgrades durchzuführenden Einkommensvergleichs hat das kantonale Gericht das Valideneinkommen gestützt auf die Angaben im Arbeitgeberbericht vom 26. November 2002 zu Recht mit Fr. 59'831.- beziffert. Das Invalideneinkommen wurde auf der Basis des aus den somatischen Einschränkungen abzuleitenden Zumutbarkeitsprofils sowie ausgehend von den Werten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2002 festgesetzt, was ebenfalls korrekt ist (zu den Grundlagen dieses Vorgehens BGE 126 V 76 f. Erw. 3b/bb mit Hinweisen). Auch der prozentuale Abzug (dazu BGE 126 V 79 f. Erw. 5b mit Hinweisen) von 10 % lässt sich im Rahmen der Angemessenheitskontrolle (BGE 126 V 81 Erw. 6) nicht beanstanden. Der resultierende Invaliditätsgrad von 13 % begründet keinen Rentenanspruch.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 12. Dezember 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: