Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 574/05
Urteil vom 16. Dezember 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Fessler
Parteien
M.________, 1982, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
(Entscheid vom 23. Juni 2005)
Sachverhalt:
A.
Die 1982 geborene M.________ schloss im Sommer 2002 die dreijährige Lehre als Detailhandelsangestellte Fachrichtung Textil Damen ab. Danach stand sie in befristeten Arbeitsverhältnissen, u.a. von Februar bis Anfang Juli 2003 als Verkaufsberaterin auf Abruf im Rahmen eines Zwischenverdienstes. Wegen Rückenbeschwerden (Status nach Spondylodese Th5-L3 bei idiopathischer Skoliose vom 26. September 1994) ersuchte sie im April 2003 die Invalidenversicherung um berufliche Massnahmen (Berufsberatung, Umschulung, Arbeitsvermittlung). Die IV-Stelle Luzern holte bei der Klinik X.________ und beim Hausarzt Dr. med. E.________ schriftliche Auskünfte ein. Mit Verfügung vom 6. November 2003 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf Umschulung mit der Begründung, eine weitere Ausbildung führte zu keiner wesentlich besser angepassten Tätigkeit, da die behinderungsbedingten Einschränkungen in allen Tätigkeiten zum Tragen kämen. Mit Einspracheentscheid vom 31. August 2004 bestätigte die Verwaltung die Ablehnung des Leistungsbegehrens.
B.
Die Beschwerde der M.________ wies die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern mit Entscheid vom 23. Juni 2005 ab.
C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem sinngemässen Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass Anspruch auf Umschulung bestehe.
Kantonales Gericht und IV-Stelle beantragen je die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat zum streitigen Anspruch auf Umschulung (Art. 8 Abs. 3 lit. b IVG sowie Art. 17 IVG und Art. 6 Abs. 1 IVV) erwogen, aufgrund der medizinischen Unterlagen sei der Versicherten die bisher ausgeübte Erwerbstätigkeit nicht voll zumutbar gewesen. Dies bedeute indessen nicht, dass der (erlernte) Beruf einer Detailhandelsangestellten aus gesundheitlichen Gründen ausser Betracht falle. Es komme darauf an, welche Arbeiten im Einzelnen auszuführen seien. Je nach Aufgabenzuteilung im Betrieb könnten neben der Kundenbetreuung und dem tagelangen Verkauf andere, sitzende Tätigkeiten wie Kommunikation mit Lieferanten, Abrechnungen, Erstellen von Verkaufsstatistiken und andere Büroarbeiten anfallen. Wenn die Versicherte im Besonderen einen häufigen Stellungswechsel vom Sitzen zum Stehen oder Laufen vornehmen und das Heben von schweren Lasten, vornübergebeugtes Arbeiten über einen längeren Zeitraum sowie Arbeiten über Kopfhöhe gänzlich vermeiden könne, sei ihr gemäss Bericht der Klinik X.________ vom 3. Juli 2003 eine hundertprozentige Arbeitstätigkeit zumutbar. Ob die gesundheitlich bedingten Einschränkungen allenfalls zu einer dauernden Erwerbseinbusse von mindestens 20 % führten, was für den Anspruch auf Umschulung vorausgesetzt sei (vgl. BGE 124 V 110 Erw. 2b), könne offen bleiben; sie bestünden auch in einem kaufmännischen Beruf, sodass hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigung aus der beantragten Umschulung keine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit resultierte und diese somit nicht zweckmässig sei. Die IV-Stelle habe daher zu Recht Umschulungsmassnahmen abgelehnt. Sollte im Übrigen die durch die Verwaltung unterstützte Stellensuche zeigen, dass eine dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % bestehe, müssten auf erneutes Begehren hin (immer noch) andere Umschulungsmassnahmen ins Auge gefasst werden.
2.
Es steht fest und ist aufgrund der Akten zu Recht unbestritten, dass die Beschwerdeführerin im erlernten Beruf als Detailhandelsangestellte gesundheitlich bedingt eingeschränkt ist. Gemäss Bericht der Klinik X.________ vom 13. Mai 2003 besteht aufgrund der starken Schmerzen lediglich eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Im Bericht derselben Klinik vom 3. Juli 2003 wird mit Bezug auf andere zumutbare Tätigkeiten (mit häufigem Stellungswechsel vom Sitzen zum Stehen oder Laufen, ohne Heben von schwereren Lasten und ohne Arbeiten in vornübergeneigter Haltung über einen längeren Zeitraum oder über Kopfhöhe) eine anzustrebende hundertprozentige Arbeitsfähigkeit postuliert. Im «Protokoll per 13.09.2004» der IV-Stelle wurde unter dem Datum des 3. November 2003 u.a. festgehalten, die Versicherte sei von Seiten der Invalidenversicherung bereits vor Beginn der Lehre als Detailhandelsangestellte darauf hingewiesen worden, die Ausbildung sei ihrer Behinderung nicht angepasst. Bei dieser Sachlage kann nicht offen gelassen werden, ob die für den Umschulungsanspruch geforderte Erheblichkeitsschwelle (bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 %) erreicht ist. Die Begründung der Vorinstanz dazu überzeugt nicht: Einerseits bezeichnet sie das Tätigkeitsfeld einer Detailhandelsangestellten als weit; dazu gehörten auch sitzende (Büro-) Arbeiten. Anderseits bestünden die gleichen gesundheitlich bedingten Einschränkungen auch in einem kaufmännischen Beruf; eine Umschulung sei daher nicht zweckmässig. In diesem Zusammenhang wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht vorgebracht, dass der Anspruch auf Umschulung umfassend und nicht bloss eingeschränkt auf den kaufmännischen Bereich oder sogar auf den Beruf einer kaufmännischen Angestellten zu prüfen ist. Dies gilt namentlich mit Blick auf die lange Arbeitsdauer (Art. 8 Abs. 1 letzter Satz IVG), welcher Gesichtspunkt auch von Bedeutung ist für die Frage der annähernden Gleichwertigkeit der Erwerbsmöglichkeit im angestammten Bereich und in einer neuen Tätigkeit nach der Umschulung (BGE 124 V 108). Abgesehen davon zeigte die Versicherte Interesse für verschiedene Berufe, u.a. Dentalassistentin, Schalterbedienstete und kaufmännische Angestellte. Schliesslich kann, entgegen kantonalem Gericht und IV-Stelle, nicht ohne weiteres gesagt werden, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen wirkten sich erwerblich in einem kaufmännischen Beruf gleich aus wie in den als Detailhandelsangestellte in Betracht fallenden Tätigkeiten.
Der Sachverhalt ist somit nicht hinreichend abgeklärt. Es betrifft dies vorab die Frage, ob die für den Umschulungsanspruch geforderte bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % besteht. Sodann ist unklar, welche erwerblichen Tätigkeiten der Versicherten trotz ihrer gesundheitlichen Defizite zumutbar sind. In diesem Zusammenhang kann aufgrund der Akten nicht gesagt werden, ob die Beschwerdeführerin als Detailhandelsangestellte im Modebereich unter Berücksichtigung ihres Gesundheitsschadens - bei prognostischer Beurteilung im Zeitpunkt der Anmeldung oder des Beginns einer beruflichen Massnahme (vgl. BGE 124 V 111 unten, 98 V 34 f. Erw. 2) - genügend eingegliedert ist. Die IV-Stelle wird dazu weitere Abklärungen vorzunehmen haben. Im Rahmen dieser Rückweisung wird die Verwaltung auch zu prüfen haben, ob allenfalls Anspruch auf Massnahmen beruflicher Art nach Art. 16 Abs. 2 IVG besteht. Danach wird die IV-Stelle neu verfügen.
3.
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung ( Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht und Art. 160 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 23. Juni 2005 und der Einspracheentscheid vom 31. August 2004 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Umschulungsanspruch neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben
3.
Die IV-Stelle Luzern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. Dezember 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: