BGer I 648/2005
 
BGer I 648/2005 vom 23.12.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 648/05
Urteil vom 23. Dezember 2005
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Hadorn
Parteien
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdeführerin,
gegen
T.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dr. Roland Strauss, Blumenrain 20, 4001 Basel
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel
(Entscheid vom 17. August 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1943 geborene T.________ bezog seit dem 1. Oktober 1991 eine halbe Invalidenrente, welche bei mehreren Revisionen jeweils bestätigt wurde. Am 29. April 2004 verfügte die IV-Stelle Basel-Stadt, dass die Rente wegen einer Meldepflichtverletzung rückwirkend auf den 1. April 1999 aufgehoben werde. Einer allfälligen Einsprache entzog sie die aufschiebende Wirkung. In einer weiteren Verfügung vom 30. April 2004 hielt die IV-Stelle fest, dass sie die vom 1. April 1999 bis 31. März 2004 ausgerichteten Rentenbetreffnisse zurückfordere. Auch einer gegen diese Verfügung gerichteten Einsprache entzog sie die aufschiebende Wirkung. Mit Verfügung vom 12. Mai 2004 bezifferte sie den Rückforderungsbetrag auf Fr. 90'960.-.
T.________ erhob Einsprache gegen die Verfügungen vom 29. und 30. April 2004 und liess unter anderem die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen. Dieses Gesuch wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 18. August 2004 ab.
B.
Auf Beschwerde von T.________ hin stellte das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 17. August 2005 die aufschiebende Wirkung der Einsprache gegen die Verfügungen vom 29. und 30. April 2005 wieder her. Zugleich verpflichtete es die IV-Stelle, T.________ eine Parteientschädigung von Fr. 2800.- (zuzüglich Mehrwertsteuer) auszurichten.
C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren, der Einsprache gegen die Verfügung vom 29. April 2004 sei die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Eventuell sei die ihr auferlegte Parteientschädigung auf Fr. 1400.- zu reduzieren.
Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt äussert sich zur Sache, ohne einen konkreten Antrag zu stellen. T.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, ist der Entzug der aufschiebenden Wirkung bei Verfügungen, die eine Rückforderung von zu Unrecht ausgerichteten Leistungen zum Gegenstand haben, nicht möglich (BGE 130 V 413 Erw. 3.4). Das bestreitet auch die Beschwerdeführerin nicht. Umstritten und zu prüfen ist nur der Entzug der aufschiebenden Wirkung bezüglich der am 29. April 2004 verfügten rückwirkenden Renteneinstellung.
2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zur aufschiebenden Wirkung (Art. 11 Abs. 1 und 2 ATSV; Art. 97 AHVG in Verbindung mit Art. 66 IVG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung, insbesondere zur Abwägung der für und gegen die aufschiebende Wirkung sprechenden Interessen (BGE 124 V 88 Erw. 6a; Urteil S. vom 24. Februar 2004, I 46/04), richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
Bei der Prüfung der Frage, ob der Entzug der aufschiebenden Wirkung angezeigt sei, steht der Behörde ein gewisser Ermessensspielraum zu. Im allgemeinen wird sie ihren Entscheid auf den Sachverhalt abstützen, der sich aus den vorhandenen Akten ergibt, ohne zeitraubende weitere Erhebungen anzustellen. Bei der Abwägung der Gründe können auch die Aussichten auf den Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache ins Gewicht fallen; sie müssen allerdings eindeutig sein. Im übrigen darf die verfügende Behörde die aufschiebende Wirkung nur entziehen, wenn sie dafür überzeugende Gründe geltend machen kann (BGE 124 V 88 Erw. 6a mit Hinweisen).
3.1 Die IV-Stelle hob die Rentenzahlung auf, da sie auf Grund von Akten aus einer Strafuntersuchung zum Schluss kam, dass der Versicherte seine Meldepflicht verletzt habe. Seit 1999 habe er heimlich ein rentenausschliessendes Einkommen erzielt, indem er ein Gastlokal mit Spielbetrieb geführt, dabei monatlich rund Fr. 6000.- verdient und parallel dazu weiterhin die halbe IV-Rente bezogen habe. Die Vorinstanz hingegen schätzte das erwähnte Einkommen auf Fr. 12'000.- im Jahr, was zweifellos keinen Einfluss auf die Rente habe. Daher werde der Versicherte im Hauptverfahren mit grosser Wahrscheinlichkeit obsiegen, weshalb es sich nicht rechtfertige, der Einsprache die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Diese Interessenabwägung wiederum bemängelt die Beschwerdeführerin als einseitig.
3.2 Vorliegend erhielt die IV-Stelle am 23. März 2004 (Datum des Eingangsstempels) einen Bericht des Fahndungsdienstes der Kantonspolizei Basel-Stadt vom 18. Februar 2004, wonach gegen den Versicherten ein Verdacht auf Betrug beim Bezug von Sozialleistungen bestehe. Diesem Bericht ist zu entnehmen, dass der Genannte seit 1. Juni 1990 Wirt im Clublokal X.________ ist. Dort soll um Geld gespielt werden. Der Versicherte soll erklärt haben, dass er einen Umsatz von monatlich etwa Fr. 15'000.- erwirtschafte, wovon ihm netto rund Fr. 6000.- verblieben.
Hierauf holte die IV-Stelle Erkundigungen bei der Steuerverwaltung und bei der Ausgleichskasse ein. Gemäss Auskunft der ersteren vom 22. März 2004 und nach den von der Kasse zugestellten Individuellen Konten über den Versicherten waren keinerlei Einkünfte aus dem Gastlokal deklariert worden. Am 29. April 2004 verfügte die IV-Stelle die streitige Aufhebung der bisher ausgerichteten Invalidenrente und entzog einer Einsprache die aufschiebende Wirkung. In der Folge reichte der Versicherte die Jahresrechnungen des Vereins X.________ ein, laut welchen ihm jedes Jahr Fr. 500.- Spesen und Fr. 500.- Lohn ausgezahlt worden sind. Die IV-Stelle hielt am 18. August 2004 am Entzug der aufschiebenden Wirkung fest, da sich aus den Akten der Staatsanwaltschaft ergebe, dass der Beschwerdegegner ein rentenausschliessendes Einkommen erzielt habe.
3.3 In diesen Akten findet sich unter anderem ein Einvernahmeprotokoll vom 20. Januar 2005, worin der Kassier des Vereins aussagt, der Versicherte sei für das Lokal verantwortlich und zugleich Vereinspräsident. Er habe die Getränke bestellt, die Lebensmittel eingekauft, das Lokal geöffnet und geschlossen und sei meistens dort gewesen. Bis März 2004 sei der Betrieb jeweils von Dienstag bis Sonntag von 14 Uhr bis Mitternacht geöffnet gewesen. Seit 1999 habe der Versicherte immer monatlich Fr. 1000.- erhalten. Überschüsse hätten dem Verein gehört und seien in der Lokalkasse geblieben.
Mittels Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt vom 21. März 2005 wird der Beschwerdegegner wegen Betrugs angeklagt. Laut der Begründung dieser Schrift geht die Staatsanwaltschaft von nicht deklarierten Bezügen von Fr. 1000.- im Monat aus.
3.4 Gestützt auf die Angaben, welche der IV-Stelle bis zum Erlass der rentenaufhebenden Verfügung vom 29. April 2004 vorlagen, namentlich die Einvernahme der Staatsanwaltschaft sowie die Auskünfte der Steuerverwaltung und die Auszüge aus den Individuellen Konten, musste die Verwaltung davon ausgehen, dass der Beschwerdegegner seit längerer Zeit ein rentenausschliessendes Einkommen verheimlicht hatte. Zudem stand damals nicht fest, ob der Versicherte aus dem Spielbetrieb in seinem Lokal, der vielleicht ganz oder teilweise illegal durchgeführt wurde, weitere nicht deklarierte Einnahmen erzielte. Es war der Verwaltung nicht zuzumuten, das Ende des voraussichtlich länger dauernden Strafverfahrens abzuwarten und bis dahin die halbe Rente weiter auszurichten. Denn die Gefahr, dass allenfalls zu Unrecht erbrachte Leistungen nicht mehr erhältlich sein würden, lag auf der Hand. Erschwerend für den Versicherten kommt hinzu, dass sein Verhalten, nämlich Einkünfte zu verschweigen, keinen Schutz verdient. Die Buchhaltungsunterlagen halten wohl eine monatliche Auszahlung von Fr. 1000.- fest; doch durfte angesichts des laufenden Strafverfahrens und der mit dem Spielbetrieb zusammenhängenden Untersuchungen nicht ohne Weiteres darauf abgestellt werden. Selbst wenn dies der Wahrheit entsprach und die Hälfte dieser Fr. 1000.- im Monat effektiv Spesen darstellte, wäre der Versicherte gesetzlich verpflichtet gewesen, einen jährlichen Verdienst von Fr. 6000.- (12 x Fr. 500.-) zu deklarieren, sind doch nur Nebenverdienste von höchstens Fr. 2000.- im Jahr nicht ahv-beitragspflichtig (Art. 8bis AHVV). Zudem ist für das Weiterbestehen des Rentenanspruchs nicht entscheidend, ob der Versicherte in seiner offenbar teilweise ehrenamtlichen Tätigkeit ein rentenausschliessendes Einkommen erzielt hat. Massgebend ist, ob er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage wäre, ein solches zu erzielen. Hier ist zu berücksichtigen, dass er offenbar während Jahren an sechs Tagen in der Woche während mehr als zehn Stunden (Öffnungszeiten des Lokals gemäss Auskunft des Kassiers von 14 - 24 Uhr plus Vorbereitungs- und Abschlussarbeiten) arbeiten konnte und dies verheimlicht hat. Damit steht der Ausgang des Hauptverfahrens unabhängig vom Betrag des erzielten Einkommens keineswegs zum Vornherein fest. Bei dieser Sachlage fällt die Interessenabwägung zu Gunsten der Verwaltung aus, weshalb der kantonale Entscheid aufzuheben ist.
4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens unterliegt der Beschwerdegegner vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht, weshalb ihm hiefür kein Anspruch auf eine Parteientschädigung zusteht. Zu prüfen ist jedoch die ihm im kantonalen Prozess zugesprochene Entschädigung.
4.1 Im vorinstanzlichen Verfahren hat der Versicherte gegen den Entzug der aufschiebenden Wirkung bei den zwei Verfügungen vom 29. und 30. April 2004 rekurriert. Dabei hat er vor dem kantonalen Gericht vollumfänglich obsiegt. Da ein Entzug der aufschiebenden Wirkung bei einer Rückzahlungsverfügung nicht möglich ist (Erw. 1 hievor) und die IV-Stelle dies denn auch nicht angefochten hat, blieb der vorinstanzliche Entscheid betreffend die Verfügung vom 30. April 2004 unangetastet. Diesbezüglich hat der Versicherte im kantonalen Verfahren somit definitiv obsiegt. Hingegen unterliegt er nach dem Ergebnis des letztinstanzlichen Verfahrens in Bezug auf den Entzug der aufschiebenden Wirkung bei der Verfügung vom 29. April 2004. Somit wird die Vorinstanz die Parteientschädigung ohnehin neu zu bemessen haben, da nach dem Gesagten nur noch ein teilweises Obsiegen vorliegt.
4.2 Die Bemessung der Parteientschädigung ist mangels bundesrechtlicher Bestimmung dem kantonalen Recht überlassen, mit welchem sich das Eidgenössische Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen hat (Art. 128 OG in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 Abs. 1 VwVG). Es darf die Höhe der Entschädigung nur daraufhin überprüfen, ob die Anwendung der für ihre Bemessung einschlägigen kantonalen Bestimmungen, sei es bereits auf Grund ihrer Ausgestaltung oder aber auf Grund des Ergebnisses im konkreten Fall, zu einer Verletzung von Bundesrecht geführt hat (Art. 104 lit. a OG). Dabei fällt praktisch nur das in Art. 9 BV verankerte Willkürverbot in Betracht (BGE 125 V 408 Erw. 3a). Dabei steht dem kantonalen Gericht bei der Bemessung der Entschädigung praxisgemäss ein weiter Ermessensspielraum offen (BGE 114 V 87 Erw. 4b). Es hat für die Bestimmung des Honorars die Wichtigkeit und Schwierigkeit der Streitsache, den Umfang der Arbeitsleistung und den Zeitaufwand des Anwalts zu berücksichtigen. Dabei kann das durchschnittliche Anwaltshonorar pro Stunde je nach der kantonalen Anwaltsgebühren-Regelung willkürfrei innerhalb einer relativ weiten Bandbreite von Fr. 160.- bis Fr. 320.- festgesetzt werden (zum Ganzen: SVR 2002 AlV Nr. 3 S. 5 [Urteil W. vom 11. Juni 2001, C 130/99] mit zahlreichen Hinweisen). Die Vorinstanz wird sich bei der Neufestsetzung des Honorars von diesen Erwägungen leiten lassen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 17. August 2005 aufgehoben, soweit er die aufschiebende Wirkung der Einsprache gegen die Verfügung der IV-Stelle Basel-Stadt vom 29. April 2004 wieder herstellt.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wird über eine Neuverlegung der Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt zugestellt.
Luzern, 23. Dezember 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i. V.