BGer I 231/2005
 
BGer I 231/2005 vom 27.12.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 231/05
Entscheid vom 27. Dezember 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Hofer
Parteien
A.________, 1996, Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Mutter, und diese vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,
gegen
IV-Stelle Glarus, Zwinglistrasse 6, 8750 Glarus, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, Glarus
(Entscheid vom 15. Februar 2005)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 11. Februar 2004 setzte die IV-Stelle Glarus gestützt auf die im Rahmen der 4. IVG-Revision geänderten Bestimmungen die Hilflosenentschädigung und den Pflegekostenbeitrag der 1996 geborenen A.________ neu fest. Dabei ging sie von einer Entschädigung wegen mittlerer Hilflosigkeit und einem zusätzlichen Intensivpflegezuschlag von Fr. 14.- pro Tag bei Aufenthalt zu Hause aus. Dagegen gab die Mutter der Versicherten am 18. Februar 2004 eine Einsprache zu Protokoll. Am 30. Juni 2004 erliess die IV-Stelle eine Wiedererwägungsverfügung, mit welcher sie auf die angefochtene Verfügung vom 11. Februar 2004 zurückkam und gestützt auf das Rundschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) Nr. 195 vom 16. April 2004, wonach für durch Sonderschulbesuch im Externat angebrochene Tage nur noch der halbe Ansatz des Intensivpflegezuschlags auszurichten war, einen Intensivpflegezuschlag von Fr. 28.- pro Tag bei Aufenthalt zu Hause und von Fr. 14.- bei Aufenthalt in der Schule zusprach. Die dagegen erhobene Einsprache wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 29. Juli 2004 ab.
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 15. Februar 2005 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Mutter der Versicherten beantragen, es sei für die Sonderschultage im Externat ein ganzer Intensivpflegezuschlag zuzusprechen.
Am 11. April 2005 gab die Mutter der Versicherten eine Information des BSV an die IV-Stellen vom 1. April 2005 zu den Akten, gemäss welcher das Rundschreiben Nr. 195 vom 16. April 2004 widerrufen wurde und ab sofort nicht mehr anzuwenden sei.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme. Das BSV hält in der Vernehmlassung fest, der Widerruf des Kreisschreibens Nr. 195 führe dazu, dass in denjenigen Fällen, in welchen eine minderjährige Versicherte die Sonderschule im Externat besuche, diese den normalen Ansatz des Intensivpflegezuschlags zur Hilflosenentschädigung erhalte. Für die bisher anders entschiedenen Fälle werde der Differenzbetrag rückwirkend nachbezahlt.
Mit Eingabe vom 10. Oktober 2005 teilte die Rechtsvertreterin der Mutter der Versicherten mit, ihrem Rechtsbegehren sei entsprochen und die Nachzahlung vorgenommen worden. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde werde aus diesem Grund zurückgezogen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Mit IV-Rundschreiben Nr. 218 vom 21. April 2005 hat das BSV das IV-Rundschreiben Nr. 195 vom 16. April 2004 widerrufen und festgehalten, dass minderjährige Versicherte neu auch bei Besuch der Sonderschule im Externat den vollen Ansatz des Intensivpflegezuschlags erhalten. Diese Regelung erlange rückwirkend ab dem 1. Januar 2004, also ab Einführung des Intensivpflegezuschlags, Gültigkeit und sei auf alle hängigen und künftigen Gesuche anzuwenden. Für die bisher nach Rundschreiben Nr. 195 entschiedenen Fälle sei der Differenzbetrag rückwirkend per 1. Januar 2004 nachzuzahlen. Offene Rechnungen seien im Sinne der neuen Regelung zu begleichen. Mit Eingabe vom 10. Oktober 2005 teilte die Beschwerdeführerin dem Eidgenössischen Versicherungsgericht mit, die Verwaltung habe ihrem Rechtsbegehren entsprochen und die Nachzahlung vorgenommen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 5. April 2005 werde daher zurückgezogen.
Mit der Nachzahlung von Intensivpflegebeiträgen für Tage, an welchen die Versicherte die Sonderschule im Externat besuchte und der Zusicherung, weiterhin entsprechende Zahlungen zu leisten, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegenstandslos geworden und hat zu deren Rückzug geführt. Diese ist demnach abzuschreiben.
1.2 Wird ein Rechtsstreit gegenstandslos oder fällt er mangels rechtlichen Interesses dahin, entscheidet das Eidgenössische Versicherungsgericht mit summarischer Begründung über die Prozesskosten aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 40 OG und Art. 72 BZP). Bei der Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen. Dabei geht es nicht darum, die Prozessaussichten im einzelnen zu prüfen und dadurch weitere Umtriebe zu verursachen. Vielmehr muss es bei einer knappen Beurteilung der Aktenlage sein Bewenden haben. Auf dem Weg über den Kostenentscheid soll nicht ein materielles Urteil gefällt und unter Umständen der Entscheid in einer heiklen Rechtsfrage präjudiziert werden. Lässt sich der mutmassliche Ausgang eines Verfahrens im konkreten Fall nicht ohne weiteres feststellen, ist auf allgemein zivilprozessrechtliche Kriterien zurückzugreifen. Danach wird in erster Linie jene Partei kosten- und entschädigungspflichtig, die das gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst oder bei der die Gründe eingetreten sind, die zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens geführt haben (SVR 1998 UV Nr. 11 S. 33 Erw. 6a mit Hinweisen).
1.3
1.3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die IV-Stelle sei auf eine Verfügung zurückgekommen, die aufgrund der einspracheweisen Anfechtung noch gar nicht in formelle Rechtskraft erwachsen sei. Dagegen sei grundsätzlich nichts einzuwenden. Hingegen sei der Versicherten nicht die Möglichkeit eingeräumt worden, einem im Ergebnis zu ihren Ungunsten lautenden Entscheid entgegenzutreten, da die Verwaltung sie nicht im Sinne von Art. 12 ATSV auf eine drohende reformatio in peius und auf die Rückzugsmöglichkeit hingewiesen habe. Indessen habe sie die Verfügung vom 30. Juni 2004 wiederum einspracheweise anfechten können, sodass insgesamt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliege.
1.3.2 Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts hat der Bundesrat mit Art. 12 Abs. 2 ATSV, wonach der Versicherungsträger die Einsprache führende Person nicht nur auf die drohende Schlechterstellung (reformatio in peius), sondern auch auf die Möglichkeit eines Rückzugs ihrer Einsprache aufmerksam machen muss, die nach Art. 61 lit. d ATSG im Beschwerdeverfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht geltenden Grundsätze auch auf das Einspracheverfahren des jeweils verfügenden Versicherers übertragen. Diese doppelte Aufklärungspflicht wäre ihrer Bedeutung entleert, würde man dem Sozialversicherer gleichzeitig gestatten, seine mittels Einsprache angefochtene Verfügung (ohne die erwähnte, der Sicherstellung eines fairen Verfahrens dienenden Hinweise an den Einsprecher) durch Erlass einer Wiedererwägungsverfügung im Sinne einer reformatio in peius aufzuheben oder abzuändern und hernach die Einsprache unter Berufung auf die nicht mehr existierende ursprüngliche Verfügung als gegenstandslos geworden abzuschreiben (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil S. vom 23. September 2005, I 335/05).
1.3.3 Ob sich die Rechtsstellung der Versicherten durch die Verfügung vom 30. Juni 2004 infolge der Halbierung des Intensivpflegezuschlages für Sonderschultage im Externat tatsächlich verschlechtert hat, lässt sich nicht ohne weiteres sagen, da sich jedenfalls betragsmässig insofern nichts geändert hat, als der Verfügung vom 11. Februar 2004 für den Intensivpflegezuschlag ein Ansatz von Fr. 14.- zugrunde lag, welcher gemäss Wiedererwägungsverfügung bei Aufenthalt zu Hause neu entsprechend einer täglichen Betreuung von mindestens 6 Stunden auf Fr. 28.- erhöht und bei Aufenthalt in der Schule auf Fr. 14.- festgesetzt wurde.
1.4
1.4.1 In materieller Hinsicht hat die Vorinstanz erwogen, die Weisung des BSV gemäss IV-Rundschreiben Nr. 195 vom 16. April 2004 stehe mit dem Gesetz in Einklang. Durch den Sonderschulbesuch im Externat falle zudem ein erheblicher Teil des ansonsten zuhause zu leistenden Betreuungs- und Überwachungsaufwandes dahin. Sodann habe die bisherige Hauspflegeentschädigung den gleichen Zweck erfüllt wie der heutige Intensivpflegezuschlag, nur mit anderen Anspruchsvoraussetzungen. Eine sinngemässe Anwendung der altrechtlichen Regelung (Halbierung der Hauspflegeentschädigung bei angebrochenen Tagen) erscheine daher für die Bemessung des neurechtlichen Intensivpflegezuschlages als sachgerecht, weshalb gegen die Halbierung bei Sonderschulbesuch nichts einzuwenden sei.
1.4.2 Die Beschwerdeführerin stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, eine Halbierung des Intensivpflegezuschlages an Tagen des Sonderschulbesuchs im Externat sei gesetz- und verordnungswidrig. Der Vorschlag, im Hinblick auf die 5. IV-Revision eine Halbierung des Intensivpflegezuschlages bei Besuch einer Sonderschule im Externat gesetzlich festzuschreiben, mache deutlich, dass der Gesetzgeber davon ausgehe, eine Kürzung sei gestützt auf die geltende Regelung nicht möglich.
1.4.3 Bei der Behandlung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wäre somit die heikle Rechtsfrage zu beurteilen gewesen, ob die Weisung des BSV gemäss IV-Rundschreiben Nr. 195 vom 16. April 2004 gesetzmässig ist. Aufgrund einer summarischen Betrachtung lässt sich der mutmassliche Ausgang des Verfahrens nicht feststellen. Für den Entscheid über die Entschädigungsfolgen sind daher, wie dargelegt (vgl. Erw. 1.2), die beiden anderen Kriterien heranzuziehen. Unter diesem Gesichtswinkel ist festzuhalten, dass die Verwaltung mit dem Widerruf des obigen Rundschreibens durch das IV-Rundschreiben Nr. 218 vom 21. April 2005 die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht gegenstandslos geworden ist. Dies rechtfertigt es, der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht zuzusprechen (Art. 159 OG). Gerichtskosten sind keine zu verlegen, da das Verfahren kostenlos ist (Art. 134 OG).
2.
Den Entscheid über Kosten und Parteientschädigungen im kantonalen Verfahren kann das Eidgenössische Versicherungsgericht nach Art. 157 und Art. 159 Abs. 6 OG nur abändern, wenn es auch den Entscheid in der Sache selber ändert (BGE 91 II 150 Erw. 3; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts X. vom 15. November 2005, 1A.164/2005). Das ist, wenn wie hier die Sache gegenstandslos geworden ist, nicht der Fall. Da der angefochtene Entscheid infolge Widerrufs des IV-Rundschreibens Nr. 195 vom 16. April 2004 und erfolgter Nachzahlung ebenfalls gegenstandslos geworden ist, rechtfertigt es sich, diesen Umstand im Rahmen der Billigkeit im letztinstanzlichen Verfahren bei der Höhe der Parteientschädigung zu berücksichtigen.
beschliesst das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird als durch Rückzug erledigt vom Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle Glarus hat der Beschwerdeführerin für das gesamte Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieser Entscheid wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. Dezember 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: