Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6P.147/2005
6S.475/2005 /sza
Urteil vom 13. Februar 2006
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Zünd,
Gerichtsschreiber Borner.
Parteien
H.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Serge Flury,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
Gegenstand
6P.147/2005
Art. 9 BV (Strafverfahren; Willkür, Grundsatz
"in dubio pro reo"),
6S.475/2005
Strafzumessung; bedingter Strafvollzug,
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.147/2005) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.475/2005) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 3. November 2005.
Sachverhalt:
A.
H.________ fuhr am 9. August 2003, ca. 22.15 Uhr, mit seinem Personenwagen BMW 325i Touring von Rottenschwil in Richtung Hermetschwil. In einer leichten Linkskurve lenkte er sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 96 km/h auf die Gegenfahrbahn, wo er mit einem korrekt entgegenkommenden Motorrad frontal zusammenstiess. Der Motorradlenker und seine Beifahrerin wurden durch den Aufprall getötet (Dekapitation bzw. Genickbruch). H.________ wurde erheblich verletzt (mehrere Frakturen, Schädel-Hirn-Trauma, Schnitt- und Quetschungsverletzungen).
B.
Das Bezirksgericht Muri verurteilte H.________ am 21. April 2005 wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung und Nichttragens der Sicherheitsgurte zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 10 Monaten und Fr. 1'500.-- Busse als Zusatzurteil zu einer 10-tägigen Gefängnisstrafe, die das Bezirksamt Baden am 8. September 2003 unter anderem wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs ausgesprochen hatte.
Eine Berufung des Verurteilten wies das Obergericht des Kantons Aargau am 3. November 2005 ab.
C.
H.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen zu den Beschwerden verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I. Staatsrechtliche Beschwerde
1.
Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, es habe bei der Beweiswürdigung gegen das Willkürverbot und den Grundsatz "in dubio pro reo" verstossen.
1.1 Gemäss dem in Art. 32 Abs. 1 BV und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Grundsatz "in dubio pro reo" ist bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.
Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Inwiefern dieser Grundsatz verletzt ist, prüft das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der Willkür, d.h. es greift nur ein, wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche bzw. schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden. Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Eine materielle Rechtsverweigerung ist nicht schon gegeben, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erschiene, sondern nur, wenn das Ergebnis schlechterdings mit vernünftigen Gründen nicht zu vertreten ist (BGE 127 I 38 E. 2a; 123 I 1 E. 4a S. 5 je mit Hinweisen).
1.2 Den Einwand des Beschwerdeführers, er sei einem Tier ausgewichen und deshalb auf die Gegenfahrbahn geraten, beurteilte das Obergericht als bloss theoretische Möglichkeit, die sich in Würdigung der objektiven Sachlage auf keinen Fall aufdränge.
Diese Schlussfolgerung rügt der Beschwerdeführer als willkürlich. Da er die Linkskurve selbst mit der übersetzten Geschwindigkeit von 96 km/h problemlos auf seiner Fahrbahn hätte ausfahren können, mache ein Lenken auf die Gegenfahrbahn ohne Ausweichmanöver überhaupt keinen Sinn und könne anders nicht begründet werden.
Mit dieser Argumentation versucht der Beschwerdeführer von der Tatsache abzulenken, dass das fragliche Schneiden der unübersichtlichen Kurve ohne weiteres mit seinem damaligen allgemeinen Fahrstil vereinbar ist. So verursachte er von 1997 bis 2003 drei Selbstunfälle. Dreimal wurde ihm der Führerausweis entzogen, zweimal wurde er verwarnt. Grund für die Administrativmassnahmen bildeten neben den Selbstunfällen (Unaufmerksamkeit) immer wieder Geschwindigkeitsüberschreitungen. Glaubwürdige Zeugen beurteilten ihn als Schnellfahrer/Raser bzw. seinen Fahrstil als sehr riskant.
Dass der Beschwerdeführer einem Tier ausgewichen sein soll, dafür gibt es keinerlei konkrete Anhaltspunkte. Um die These des Beschwerdeführers zu stützen, hätten zudem kumulativ folgende Voraussetzungen gegeben sein müssen: Das Tier hätte nicht erst unmittelbar vor der Kollision, sondern schon vorher auftauchen müssen. Denn sonst wäre die Längsachse des Fahrzeugs im Zeitpunkt der Kollision noch nicht wieder parallel zum Strassenverlauf gewesen, eine Position, die beim Schneiden einer Kurve gesucht wird. Das Tier hätte bloss auf die rechte Fahrbahn laufen dürfen, dort anhalten und auf dieselbe Seite zurückkehren müssen. Wäre es nämlich auf die linke Strassenseite gelangt, wäre es vom Fahrzeug des Beschwerdeführers erfasst worden. Schliesslich will der Beschwerdeführer ohne Einleiten eines Bremsmanövers abrupt nach links ausgewichen sein. Die allgemeine Lebenserfahrung lehrt jedoch, dass man bei überraschendem Auftauchen eines Hindernisses reflexartig abbremst bzw. "auf die Bremsen steht".
Unter all diesen Umständen durfte das Obergericht willkürfrei annehmen, bei der Variante "Ausweichmanöver" handle es sich um eine bloss theoretische Möglichkeit. Damit erweist sich die Rüge als unbegründet, der Grundsatz "in dubio pro reo" sei verletzt.
II. Nichtigkeitsbeschwerde
2.
Der Beschwerdeführer beanstandet die Strafzumessung der Vorinstanz.
2.1 Diese habe sich zu wenig zum Mass der Pflichtwidrigkeit geäussert und damit die Schwere des Verschuldens nicht nachvollziehbar begründet. Wenn man nicht genau wisse, weshalb der Beschwerdeführer auf die andere Fahrbahnhälfte geraten sei, könne man nicht einfach davon ausgehen, dass der zugrunde liegende Fehler ein schwerer sei.
Mit dieser Rüge widerspricht der Beschwerdeführer teilweise dem verbindlich festgestellten Sachverhalt, was unzulässig ist (Art. 273 Abs. 1 lit. b und Art. 277bis Abs. 1 BStP ). Die Vorinstanz hält nämlich fest, er habe ohne zwingenden Grund die Kurve geschnitten. Damit ist aber auch klar, dass der Beschwerdeführer nicht bloss wegen einer Unaufmerksamkeit von Sekundenbruchteilen auf die Gegenfahrbahn "geraten" ist.
Der Beschwerdeführer hat die langgezogene Linkskurve mit übersetzter Geschwindigkeit geschnitten und dabei auf den entgegenkommenden Verkehr zu wenig geachtet (sonst hätte er den Lichtstrahl des Motorrads bemerken und reagieren müssen). Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, hat er damit gleichzeitig drei Verkehrsregeln (Höchstgeschwindigkeit, Rechtsfahrgebot, Beherrschen des Fahrzeugs) verletzt, die der Sicherheit und Unfallverhütung dienen. Bei einer derart rücksichtslosen Fahrweise bedurfte es keiner längeren Begründung mehr, um das Verschulden des Beschwerdeführers als schwer einzustufen. Insbesondere musste die Vorinstanz keine psychologischen Deutungen vornehmen, ob der Beschwerdeführer nun aus Geltungsdrang, Selbstüberschätzung, "Coolness" oder aus anderen respektlosen Motiven derart gefährlich unterwegs war. Die Vorinstanz hat das Ausmass der Pflichtwidrigkeit des Beschwerdeführers ausreichend und nachvollziehbar begründet.
2.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz sei bei ihrer Beurteilung, er sei nicht wirklich einsichtig und reuig, vom Bericht des Verkehrspsychologen abgewichen, ohne dies zu begründen. Der Vorwurf ist nicht stichhaltig. Denn die Vorinstanz zeigt detailliert auf, wie der Beschwerdeführer noch anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung seine früheren Selbstunfälle und zu schnelles Fahren generell bagatellisierte. Damit kam sie auch hier ihrer Begründungspflicht nach.
2.3 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz halte im Zusammenhang mit dem Vorleben lediglich das strafrechtlich relevante Verhalten fest. Sie befasse sich aber nicht mit den einzelnen Vorfällen. Alle Fehler bewegten sich administrativrechtlich im Bereich der fakultativen Entzugsgründe. Die Vorinstanz hätte aber berücksichtigen müssen, dass er sich - abgesehen von den Verfehlungen im Strassenverkehr - unauffällig und straflos verhalten habe.
Die Vorinstanz hält dem Beschwerdeführer zugut, dass er in einigermassen gefestigten Verhältnissen lebt, seit mehreren Jahren beim gleichen Arbeitgeber tätig ist, eine feste Beziehung hat, und sie verweist im Übrigen auf die erstinstanzlichen Ausführungen. Danach hat er mit seiner Ex-Freundin ein Kind, für welches er monatlich Fr. 800.-- an den Lebensunterhalt zahlt. Die Vorinstanz billigt ihm deshalb insgesamt eine leicht erhöhte Strafempfindlichkeit zu. Als weiteren Umstand in den persönlichen Verhältnissen macht der Beschwerdeführer geltend, dass er zusammen mit seiner Lebenspartnerin auch für deren Kind sorgt. Dies allein vermag jedoch die Strafempfindlichkeit, wie sie die Vorinstanz beurteilt hat, nicht wesentlich zu ändern. Inwiefern sein Herkommen, das Verhältnis zu den Eltern sowie seine Erziehung und Ausbildung sich im Rahmen der persönlichen Umstände zu Gunsten des Beschwerdeführers auf die Strafzumessung auswirken sollten, legt der Beschwerdeführer nicht dar und ist auch nicht ersichtlich. Zudem gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Vorinstanz die fünf ADMAS-Einträge nicht als fakultative Massnahmen beurteilt haben könnte.
2.4 Damit ging die Vorinstanz von den wesentlichen Beurteilungsmerkmalen aus und hat diese auch richtig gewichtet. Mit einer Gefängnisstrafe von 10 Monaten blieb sie durchaus im Rahmen ihres Ermessens. Eine Verletzung von Bundesrecht ist zu verneinen.
3.
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe ihm zu Unrecht den bedingten Strafvollzug nicht gewährt.
Soweit er dabei Erwägungen der ersten Instanz beanstandet, geht seine Kritik an der Sache vorbei. Der Verweis der Vorinstanz auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil betrifft nämlich ausschliesslich die allgemeinen Erwägungen zum bedingten Strafvollzug.
Mit den übrigen Vorbringen stellt der Beschwerdeführer hauptsächlich die vorinstanzliche Beweiswürdigung in Frage, was unzulässig ist. Die Vorinstanz kommt nämlich zum Schluss, dass er in Bezug auf sein Verhalten im Strassenverkehr einsichtslos sei. Diesen Umstand vermögen sein strafloses Verhalten in den übrigen Rechtsgebieten und seine persönlichen Verhältnisse nicht aufzuwiegen. Insgesamt hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, als sie dem Beschwerdeführer den bedingten Strafvollzug verweigerte.
4.
Nach dem Gesagten ist die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
III. Kosten
5.
Da der Beschwerdeführer mit beiden Beschwerden unterliegt, hat er die bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG und Art. 278 Abs. 1 BStP).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
3.
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 4'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 13. Februar 2006
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: