BGer I 755/2005
 
BGer I 755/2005 vom 11.05.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 755/05
Urteil vom 11. Mai 2006
IV. Kammer
Besetzung
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön
und Frésard; Gerichtsschreiberin Kopp Käch
Parteien
IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109,
4102 Binningen, Beschwerdeführerin,
gegen
M.________, 1986, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal
(Entscheid vom 15. Juni 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1986 geborene M.________ leidet seit ca. Oktober 1999 an einem Chronic Fatigue Syndrom (CFS), welches nach einer Hepatitis A/B Impfung auftrat. Er konnte in der Folge die begonnene Sekundarschule nicht mehr besuchen, sondern wurde ab Herbst 2002 vom Schulzentrum X.________ auf progymnasialer Stufe unterrichtet. Mit Schreiben vom 8. März 2004 ersuchte die Mutter von M.________, unterstützt durch das Schulzentrum X.________, bei der Invalidenversicherung um die Gewährung beruflicher Massnahmen. Nach Abklärung der gesundheitlichen Situation verneinte die IV-Stelle Basel-Landschaft mit Verfügung vom 11. Oktober 2004 einen Anspruch auf berufliche Massnahmen und sprach M.________ mit Verfügung vom 3. November 2004 eine ganze Invalidenrente ab 1. November 2004 zu. Die gegen die Verfügung betreffend berufliche Massnahmen vom 11. Oktober 2004 erhobene Einsprache wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 16. November 2004 ab.
B.
M.________ erhob gegen den Einspracheentscheid vom 16. November 2004 Beschwerde und beantragte die Gewährung beruflicher Massnahmen in Form von Berufsberatung und erstmaliger beruflicher Ausbildung. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 2005 gut und verpflichtete die IV-Stelle, die Kosten für die beruflichen Massnahmen (gymnasiale Ausbildung in den Fächern Mathematik und Englisch) zu übernehmen.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des Entscheids vom 15. Juni 2005, eventualiter die Rückweisung der Angelegenheit zu weiteren Abklärungen.
M.________ schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, das Bundesamt für Sozialversicherung auf deren Gutheissung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat zunächst zutreffend dargelegt, dass in zeitlicher Hinsicht das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die dazu ergangene Verordnung vom 11. September 2002 sowie die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 (4. IV-Revision) und die entsprechende Verordnung vom 21. Mai 2003 anwendbar sind.
1.2 Richtig wiedergegeben hat die Vorinstanz sodann die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität nicht erwerbstätiger Minderjähriger (Art. 8 Abs. 2 ATSG) sowie zum Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und auf berufliche Massnahmen, namentlich auf erstmalige berufliche Ausbildung im Speziellen (Art. 8 Abs. 3 lit. b IVG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 IVG und Art. 5 Abs. 1 IVV). Korrekt sind schliesslich auch die Ausführungen zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung von medizinischen Berichten und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
1.3 Zu betonen ist, dass nach Art. 16 Abs. 1 IVG Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, Anspruch auf Ersatz dieser Kosten haben, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten des Versicherten entspricht und unter der weiteren Voraussetzung, dass das Eingliederungsziel dadurch voraussichtlich erreicht werden kann (vgl. BGE 124 V 110 vor Erw. 2b und AHI 1997 S. 81 f. Erw. 2b/aa mit Hinweisen). Unter erstmaliger beruflicher Ausbildung im Sinne dieser Bestimmung ist eine gezielte und planmässige Förderung in beruflicher Hinsicht zu verstehen, mit andern Worten der Erwerb oder die Vermittlung spezifisch beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten (vgl. AHI 1997 S. 80 Erw. 1b).
2.
Aus den Akten ersichtlich und unbestritten ist, dass der Beschwerdegegner seit ca. Oktober 1999 an einem Chronic Fatigue Syndrom leidet. Streitig und zu prüfen ist, ob ihm die Beschwerdeführerin Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art zu gewähren hat.
2.1 Die Vorinstanz bejaht den Anspruch des Versicherten auf berufliche Massnahmen in Form von gymnasialer Ausbildung in den Fächern Mathematik und Englisch. Sie stützt sich auf das Gutachten des Dr. med. C.________ vom 28. Juli 2004, gemäss welchem die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdegegners seit Oktober 1999 mindestens 50 % betrage und durch medizinische Massnahmen nicht zu verringern sei. Hingegen könne gemäss Ausführungen des Arztes die Erwerbsfähigkeit durch geeignete berufliche Massnahmen erheblich verbessert werden. Unterbrochen durch mehrere längere Pausen sei der Versicherte in der Lage, verteilt auf den ganzen Tag ein Arbeitspensum von vier bis fünf Stunden zu absolvieren. Eine Zukunftsprognose betreffend Entwicklung des Versicherten - so das kantonale Gericht - sei insoweit möglich, als davon ausgegangen werden könne, die Eingliederungsfähigkeit und somit die Möglichkeit einer späteren teilweisen Erwerbsfähigkeit werde durch das Erlernen des gymnasialen Stoffes in den Fächern Mathematik und Englisch wesentlich verbessert. Bei beiden Fächern handle es sich um relevantes Wissen, welches im Zusammenhang mit dem Berufswunsch des Beschwerdegegners, im Bereich Informatik tätig zu werden, von Bedeutung sei. Das Absolvieren einer Teilmatura lasse sich wirtschaftlich verwerten, weshalb auch in sachlicher Hinsicht davon auszugehen sei, dass die angestrebten beruflichen Massnahmen für den Versicherten notwendig seien, um zu gegebener Zeit zumindest einen Teil seines Unterhaltes selber zu bestreiten.
2.2 Die IV-Stelle hält die Eingliederungsfähigkeit des Beschwerdegegners nicht für hinreichend ausgewiesen, da der Bericht des Dr. med. C.________ insofern widersprüchlich sei, als darin eine mindestens 50%ige Arbeitsunfähigkeit festgestellt, gleichzeitig aber die Möglichkeit der Absolvierung eines vier- bis fünfstündigen täglichen Arbeitspensums bescheinigt werde. Nicht erkennbar ist sodann für die IV-Stelle die Eingliederungswirksamkeit einer Teilmatura in den Fächern Mathematik und Englisch. Diese vom kantonalen Gericht zugesprochene berufliche Massnahme führe zu keinem offiziell anerkannten Schulabschluss, welcher indessen für den Einstieg in eine konkrete berufliche Ausbildung unabdingbar sei. Auch im Bereich Informatik seien die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt in der heutigen Zeit derart hoch, dass nur mit einer fundierten Grundausbildung die Chance bestehe, ein relevantes Erwerbseinkommen zu erzielen. Schliesslich erscheine auch das Kosten-/Nutzenverhältnis der zugesprochenen beruflichen Massnahme äusserst fraglich, könne doch aufgrund der Aktenlage nicht beurteilt werden, wie lange der Versicherte für die Erlernung des gymnasialen Stoffes in den beiden Fächern brauche und welche Kosten dabei anfielen. Diesen Ausführungen der IV-Stelle schliesst sich das Bundesamt für Sozialversicherung an.
2.3 Der Beschwerdegegner demgegenüber macht geltend, seine Leistungsfähigkeit betrage ca. 40 %. Um eine Berufsausbildung im Bereich Informatik zu erlangen, seien Kenntnisse in Mathematik und Englisch auf höchstem Niveau erforderlich. Mit optimalen Vorkenntnissen werde es ihm möglich sein, via PC eine Fernausbildung im EDV-Bereich absolvieren zu können, um in der Folge Projekte vom Arbeitsplatz zu Hause aus und in individueller Zeiteinteilung zu bearbeiten. Die Ermöglichung der Teilmatura in den Fächern Mathematik und Englisch stelle daher eine angemessene notwendige berufliche Massnahme dar.
3.
3.1 Soweit die IV-Stelle zunächst geltend macht, die gesundheitlichen Einschränkungen des Versicherten seien derart gravierend, dass berufliche Massnahmen nicht durchführbar seien, kann dieser Auffassung nicht gefolgt werden. Im erwähnten Gutachten des Dr. med. C.________ vom 28. Juli 2004, auf welches sich die Vorinstanz gestützt hat, bejaht der Arzt die Möglichkeit einer erheblichen Verbesserung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch berufliche Massnahmen, welche die eindeutig vorhandenen intellektuellen Stärken und Interessen berücksichtigen. Am ehesten wäre der Beschwerdegegner - so Dr. med. C.________ - im Softwarebereich einzusetzen. Im Vordergrund stünden vorwiegend intellektuelle Tätigkeiten. Das Arbeitspensum könne mit vier bis fünf Stunden pro Tag beziffert werden, wobei die Arbeitsleistung portionenweise über den Tag verteilt erbracht werden müsse. Bezüglich Arbeitstempo könne über einen kürzeren Zeitraum mit weit überdurchschnittlichen Leistungen gerechnet werden, über den ganzen Tag gemittelt dürfte es durchschnittlich sein. Aus der gutachterlichen Stellungnahme der Frau Dr. med. O._______, Oberärztin, und Frau lic. phil. P.________, Psychologin, beide im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Y.________, vom 20. Juni 2002 sowie dem Zusatzblatt zum IV-Arztbericht vom 2. August 2002 geht des weiteren hervor, dass der Versicherte sehr bemüht, äusserst leistungsfreudig und interessiert ist. Er arbeite zielstrebig, schnell und gut, wobei er eine eher perfektionistische Arbeitsweise sowie eine fast pedantische Arbeitsgenauigkeit zeige. Der Beschwerdegegner sei überdurchschnittlich intelligent und verfüge über ein überdurchschnittliches Wissen. Er besitze eine leichte und schnelle Auffassungsgabe und zeige sich im Gespräch gut ansprechbar sowie vif. Andrerseits ermüde der Versicherte schnell. Die Grundaktiviertheit und Vigilanz seien reduziert, in der selektiven Aufnahme sei er verlangsamt. Die Prognose - so Oberärztin und Psychologin - sei sehr unbestimmt, es könne auch zu Spontanheilungen kommen. Wichtig sei auf jeden Fall, dass der Versicherte sein intellektuelles Potential so gut wie möglich ausschöpfen könne, dies mit dem Ziel, einen Schulabschluss und eine berufliche Eingliederung zu erreichen.
Eine Würdigung dieser Berichte ergibt, dass sämtliche beigezogenen Fachpersonen schlüssig und nachvollziehbar die Möglichkeit einer beruflichen Eingliederung des Versicherten durch entsprechende Massnahmen bejahen. Bei dieser Ausgangslage ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass beim Beschwerdegegner durch berufliche Massnahmen eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit erzielt werden kann. Solche nicht zu gewähren wäre denn auch unter dem Gesichtspunkt, dass bei der Krankheit des Versicherten Spontanheilungen möglich sind, sehr problematisch.
3.2 Nach der Rechtsprechung muss die berufliche Massnahme ein bestimmtes Mass an Eingliederungswirksamkeit aufweisen. Eine erstmalige berufliche Ausbildung umfasst - wie in Erw. 1.3 hievor dargelegt - eine gezielte und planmässige Förderung im Hinblick auf ein bestimmtes Eingliederungsziel. Eine Eingliederungsmassnahme in Form der Gewährung von Unterricht in den Fächern Mathematik und Englisch wäre von der Invalidenversicherung daher nur gestützt auf einen konkreten Eingliederungsplan zu übernehmen. Ein solcher lässt sich den Akten nicht entnehmen. Wohl wird von einer Tätigkeit im EDV-Bereich gesprochen, doch fehlen konkrete Angaben zu einer möglichen Ausbildung des Versicherten. Mit Hilfe der Berufsberatung ist daher zuerst nach Erwerbsmöglichkeiten und entsprechenden Ausbildungen zu suchen, bei welchen sich die erwähnten guten Voraussetzungen für eine berufliche Tätigkeit voll auswirken und die rasche Ermüdbarkeit sowie die andern Einschränkungen möglichst wenig hinderlich sind. Zu suchen ist dabei nach einer zweckmässigen und geeigneten Vorkehr zur Eingliederung des Beschwerdegegners ins Erwerbsleben, welche die Umstände des konkreten Falles in objektiver sowie subjektiver Hinsicht berücksichtigt und den Eingliederungszweck auf angemessene Weise sicherzustellen vermag. Alsdann ist ein Eingliederungsplan zu erstellen, gestützt auf welchen die Verwaltung zu prüfen haben wird, ob die gewünschte Ausbildung in Mathematik und Englisch oder allenfalls andere berufliche Massnahmen zu gewähren sind.
3.3 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher teilweise gutzuheissen und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die entsprechenden Abklärungen vornehme und neu über den Leistungsanspruch des Versicherten verfüge.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 15. Juni 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Basel-Landschaft vom 16. November 2004 aufgehoben, und es wird die Sache an die IV-Stelle Basel-Landschaft zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch des Beschwerdegegners auf Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, der Ausgleichskasse Basel-Landschaft und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 11. Mai 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Vorsitzende der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: