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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2P.101/2006 /leb
Urteil vom 16. Mai 2006
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Betschart, Hungerbühler,
Gerichtsschreiber Küng.
Parteien
A.________,
B.________,
Beschwerdeführer,
beide vertreten durch
Rechtsanwalt Peter Jans,
gegen
Justiz- und Polizeidepartement des Kantons
St. Gallen, Oberer Graben 32, 9001 St. Gallen,
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Spisergasse 41, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
Art. 29 Abs. 3 BV (Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung; Familiennachzug),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 9. März 2006.
Sachverhalt:
A.
Der mazedonische Staatsangehörige A.________ (geb. 1941) erhielt am 14. November 1991, nachdem er seit 1985 in der Schweiz als Saisonnier gearbeitet hatte, eine Aufenthaltsbewilligung. Am 9. Juli 1992 wurde sein Gesuch um Nachzug für seine Ehefrau (geb. 1948) und die gemeinsame Tochter (geb. 1981) abgewiesen. Am 18. April 1996 wurde A.________ die Niederlassungsbewilligung erteilt. Nachdem seine Ehefrau im März 2000 in Mazedonien verstorben war, heiratete er im selben Jahr in Mazedonien B.________ (geb. 1961). Sein erstes Gesuch um deren Nachzug in die Schweiz wurde am 19. November 2002 vom Ausländeramt des Kantons St. Gallen abgelehnt, da er nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfüge. Ein erneutes Gesuch wurde am 10. August 2005 abgewiesen. Dagegen gelangte A.________ an das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen, welches seinen Rekurs am 20. Februar 2006 abwies. Gegen diesen Entscheid erhob A.________ Rekurs beim Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen. Mit Verfügung vom 9. März 2006 wies dessen Präsident das Gesuch von A.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung ab.
B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 7. April 2006 beantragen A.________ und B.________ dem Bundesgericht, die Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. März 2006 aufzuheben.
Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der in Anwendung von kantonalem Recht (Art. 99 Abs. 2 des Gesetzes vom 16. Mai 1965 über die Verwaltungsrechtspflege [VRP/SG] in Verbindung mit Art. 281 Abs. 1 des Zivilprozessgesetzes vom 20. Dezember 1990 [ZPG/SG]) ergangene Entscheid der kantonalen Rechtsmittelinstanz über die Nichtgewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung ist ein kantonal letztinstanzlicher Zwischenentscheid, der gesondert mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden kann, auch wenn in der Sache selbst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist (BGE 123 I 275).
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV, mithin des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Dieser Anspruch wird in erster Linie durch das kantonale Prozessrecht geregelt. Unabhängig davon besteht ein solcher Anspruch unmittelbar aufgrund von Art. 29 Abs. 3 BV. Die Auslegung und Anwendung der kantonalen Gesetzesbestimmungen über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung prüft das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots. Ob der durch die Bundesverfassung garantierte Anspruch verletzt ist, untersucht es in rechtlicher Hinsicht frei; soweit es um tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz geht, ist seine Prüfungsbefugnis auf Willkür beschränkt (BGE 129 I 129 E. 2.1 mit Hinweisen).
2.2 Der Beschwerdeführer rügt allein eine Verletzung des verfassungsmässigen Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege. Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV haben Personen, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügen und deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Falls es darüber hinaus zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, haben sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (BGE 130 I 180 E. 2.2, mit Hinweisen).
2.2.1 Der Beschwerdeführer ist unbestrittenermassen bedürftig. Zu prüfen ist somit nur die Beurteilung der Aussichtslosigkeit durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts.
2.2.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde; eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet (BGE 129 I 129 E. 2.3.1).
2.2.3 Die kantonalen Behörden haben, da der Beschwerdeführer eine Niederlassungsbewilligung besitzt, seinen gestützt auf Art. 17 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) und Art. 8 Ziff. 1 EMRK geltend gemachten Anspruch auf Nachzug der Ehefrau im Grundsatz anerkannt. Sie verweigerten diesen indessen wegen drohender fortgesetzter und erheblicher Fürsorgeabhängigkeit im Sinne des Ausweisungsgrundes von Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG.
2.2.4 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erlischt der Anspruch auf Familiennachzug, wenn ein Ausweisungsgrund wie hier die drohende Fürsorgebedürftigkeit vorliegt. Voraussetzung dafür ist aber, dass konkret die Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit besteht; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht (BGE 125 II 633 E. 3c, mit Hinweisen).
2.2.5 Gemäss den Feststellungen im Entscheid des kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes vom 20. Februar 2006 bezieht der Beschwerdeführer, der seit 1994 nicht mehr voll erwerbsfähig ist, seit dem 1. Mai 2003 eine volle Invalidenrente von monatlich Fr. 1'136.25. Zusätzlich erhält er (seit 1. Januar 2005) monatliche Ergänzungsleistungen im Betrag von Fr. 1'151.--. Sein Einkommen beträgt somit Fr. 2'287.25. Bei einem Nachzug der Ehefrau würde der nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) berechnete Mindestbedarf Fr. 2'531.40 betragen. Die Ergänzungsleistungen würden sich beim Zuzug der Ehefrau, soweit ihr eine Erwerbstätigkeit zugemutet werden kann, durch Anrechnung eines entsprechenden (hypothetischen) Einkommens reduzieren. Der Fehlbetrag von Fr. 244.-- würde sich insoweit noch vergrössern, falls die Ehefrau trotz entsprechender Bemühungen kein eigenes Zusatzeinkommen erzielen könnte. Einen Arbeitsvertrag für die Ehefrau, die inzwischen mit einem Besuchervisum in die Schweiz eingereist ist und beim Beschwerdeführer lebt, hat dieser im kantonalen Verfahren nicht eingereicht. Falls die Ehefrau trotz intensiver Suche keine Arbeit finden könnte, ergäbe sich hingegen für den Beschwerdeführer anstelle der Reduktion eine Erhöhung der Ergänzungsleistungen. Das Departement erblickt ein Fürsorgerisiko darin, dass ungewiss sei, ob die Ehefrau sich genügend intensiv um eine Arbeitsstelle bemühen werde und ob ihre Anstrengungen von der Sozialversicherungsanstalt als ausreichend betrachtet würden, um für sie kein hypothetisches Einkommen anzurechnen. Da die seitens der Ehefrau erklärte Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nicht durchsetzbar sei, bestehe aufgrund der knappen finanziellen Verhältnisse eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fürsorgeabhängigkeit.
Der Präsident des Verwaltungsgerichts begründete die Abweisung des Gesuches um unentgeltliche Prozessführung damit, dass unwahrscheinlich sei, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers ohne Deutschkenntnisse und in Anbetracht der geltend gemachten Betreuungsbedürftigkeit ihres Ehemannes ein nennenswertes Einkommen erzielen könne. Der Ehemann sei nicht in der Lage, aus eigener Kraft den Unterhalt für sich und seine Ehefrau zu bestreiten. Damit bestehe die konkrete Gefahr, dass sich die "Abhängigkeit von Sozialleistungen" bei einem Nachzug der Ehefrau erheblich vergrössern würde.
2.2.6 Der angefochtene Entscheid verkennt, dass Sozialversicherungsleistungen wie Invalidenrenten und Ergänzungsleistungen, auf welche der invalide Beschwerdeführer einen gesetzlichen Anspruch hat (Art. 2 Abs. 2 lit. a des Gesetzes vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG; SR 831.30]; vgl. auch Urteil 2A.397/2001 vom 17. Januar 2002 E. 4b) und welche dem Betrag entsprechen, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 3a Abs. 1 ELG), nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht zu den Fürsorgeleistungen im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG zählen (Urteil 2A.495/2005 vom 13. Januar 2005 E. 2.2 mit Hinweisen, publ. in: Praxis 2005 Nr. 143). Es kommt hinzu, dass es das Bundesgericht stets als zweifelhaft bezeichnet hat, ob für die Beurteilung eines auf Art. 17 Abs. 2 ANAG gestützten Familiennachzuges überhaupt auf das nach den SKOS-Richtlinien berechnete soziale, d.h. fürsorgerische Existenzminimum abgestellt werden dürfe (BGE 122 II 1 E. 3c S. 9; 119 Ib 81 E. 2e; Urteil 2A.397/2001 vom 17. Januar 2002 E. 3).
Aufgrund der dargelegten Umstände besteht zwar in der Tat ein Risiko, dass die Ehegatten selbst mit den gewährten, in ungewisser Weise vom künftigen Verhalten der Ehefrau bzw. von der Einstufung ihrer Arbeitsfähigkeit abhängigen Ergänzungsleistungen ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend bestreiten können. Die finanziellen Mittel werden aufgrund der zum vornherein beschränkten Erwerbsmöglichkeiten der Ehefrau auf jeden Fall höchstens knapp genügen. Der Beschwerdeführer musste vom Sozialamt X.________ denn auch schon mit Fürsorgegeldern im Betrag von Fr. 15'923.25 unterstützt werden. Die für den Entscheid über das Familiennachzugsgesuch vorzunehmende Prognose über die finanziellen Verhältnisse erscheint nach der jetzigen Akten- und Beweislage aber nicht als derart eindeutig ungünstig, dass für das vor Verwaltungsgericht hängige Verfahren die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung mangels genügender Erfolgsaussichten verweigert werden dürfte. Der angefochtene Entscheid verletzt daher Art. 29 Abs. 3 BV.
3.
Die Beschwerde ist aus diesen Gründen gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang hat der Kanton St. Gallen die Kosten des Verfahrens vor Bundesgericht zu tragen (Art. 156 Abs. 2 OG). Dieser hat dem Beschwerdeführer zudem eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 OG).
4.
Mit der Gutheissung der Beschwerde ist das Gesuch der Beschwerdeführer um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht gegenstandslos geworden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. März 2006 aufgehoben.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Kanton St. Gallen auferlegt.
3.
Der Kanton St. Gallen hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern sowie dem Justiz- und Polizeidepartement und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 16. Mai 2006
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: