Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 459/05
Urteil vom 24. Juli 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Schüpfer
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
H.________, 1973, Beschwerdegegner,
vertreten durch Beistand P.________
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 17. Mai 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1973 geborene H.________ zog sich im Jahre 1984 bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu. Die Invalidenversicherung erbrachte in der Folge verschiedene Leistungen. Seit dem 1. November 1991 bezieht er eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit und seit 1. Januar 1993 eine ganze Invalidenrente. Der Versicherte wird von seiner Mutter betreut, bei der er auch lebt. Die IV-Stelle Bern informierte H.________ mit Verfügung vom 16. September 2004 über seine Ansprüche nach In-Kraft-Treten der 4. IVG-Revision am 1. Januar 2004. Demnach werde ihm für die Monate Januar, Juni, Juli und August 2004 eine ganze Hilflosenentschädigung im Betrag von Fr. 1055.-, in den Monaten Februar bis Mai sowie ab September 2004 nur eine solche zum halben Ansatz von Fr. 528.- ausgerichtet, weil er sich in jenen Monaten teilweise im Heim X.________ aufgehalten habe. Daran hielt die IV-Stelle auch auf Einsprache hin fest (Entscheid vom 10. Dezember 2004).
B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die dagegen geführte Beschwerde mit Entscheid vom 17. Mai 2005 gut, hob den Einspracheentscheid auf und wies die IV-Stelle an, auch für die Monate Februar bis Mai und September bis Dezember 2004 eine Hilflosenentschädigung zum vollen Ansatz von Fr. 1055.- auszurichten.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 10. Dezember 2004 sei zu bestätigen.
H.________ lässt, vertreten durch seinen Beistand, Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Weiter ersucht er um Auszahlung der ausstehenden Beträge für die Jahre 2004 und 2005 zuzüglich Zins und Zinseszins und um Ausrichtung einer Parteientschädigung. Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Versicherte hat den kantonalen Entscheid nicht innerhalb der Frist von 30 Tagen gemäss Art. 106 Abs. 1 OG durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten. Er kann deshalb im letztinstanzlichen Verfahren kein Begehren im Sinne eines Antrages stellen, der über den durch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde bestimmten Streitgegenstand (BGE 122 V 244 Erw. 2a, 117 V 295 Erw. 2a) hinausgeht. Da vorinstanzlich kein Antrag auf Ausrichtung von Verzugszinsen gestellt worden war, bildet letztinstanzlich einzig die Frage Streitgegenstand, ob die IV-Stelle den Anspruch auf Hilflosenentschädigung in den Monaten, in welchen der Beschwerdegegner nicht vollumfänglich zu Hause lebte, zu Recht auf die Hälfte gekürzt hat. Das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren kennt - von hier nicht bestehenden spezialgesetzlichen Ausnahmen abgesehen - das Institut der Anschlussbeschwerde nicht (BGE 125 V 413, 124 V 155 Erw. 1 mit Hinweis). Auf das Begehren des Beschwerdegegners, es sei ihm für die nachzuzahlenden Leistungen ein Verzugszins mit Zinseszins zu bezahlen, ist deshalb nicht einzutreten.
Dasselbe gilt für den vom Beschwerdegegner letztinstanzlich gestellten Antrag auf Zusprechung von vollen Hilflosenentschädigungen für das Jahr 2005. Ein Sachverhalt ist rechtsprechungsgemäss bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides zu prüfen. Dieser datiert vom 10. Dezember 2004, womit ein Anspruch im Jahre 2005 nicht in diesem Verfahren zu überprüfen ist.
2.
2.1 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössische Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis zum 30. Juni 2006 geltenden Fassung von Art. 132 OG.
2.2 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Grundlagen bezüglich der Ausrichtung von Hilflosenentschädigung in der Invalidenversicherung (Art. 9 ATSG, Art. 42 IVG) und deren Abstufung in drei Schweregrade (Art. 37 IVV) richtig wiedergegeben. Es wird darauf verwiesen.
Hinzuzufügen bleibt, dass gemäss den Übergangsbestimmungen zum In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision die nach bisherigem Recht zugesprochenen Hilflosenentschädigungen innert eines Jahres nach In-Kraft-Treten dieser Gesetzesänderung zu überprüfen sind. Die erhöhten Ansätze der Hilflosenentschädigung gelten ab In-Kraft-Treten dieser Gesetzesänderung (lit. a Abs. 1 und 2 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 21. März 2003 [4. IV-Revision]).
3.
3.1 In ihrer Verfügung vom 16. September 2004 ging die IV-Stelle davon aus, der Versicherte habe sich in den Monaten Januar sowie Juni bis August 2004 ausschliesslich zu Hause beziehungsweise ausserhalb einer von der Invalidenversicherung subventionierten Institution aufgehalten und deshalb Anspruch auf eine volle Hilflosenentschädigung. In den Monaten Februar bis Mai 2004 und voraussichtlich ab September 2004 halte er sich mindestens teilweise in einem Heim auf, weshalb für diese Zeit nur Anspruch auf den halben Ansatz bestehe.
Den Akten ist zu entnehmen, dass sich der Versicherte regelmässig während eines Wochenendes pro Monat jeweils mit zwei Übernachtungen von Freitag bis Sonntag dem 20. bis 22. Februar, 19. bis 21. März, 14. bis 16. Mai und in der Osterwoche vom 12. bis 18. April 2004 im Heim X.________ aufgehalten hatte. Weitere Wochenendaufenthalte waren in den Monaten September bis Dezember 2004 geplant. Nach Ansicht der IV-Stelle und des Beschwerde führenden Bundesamtes genügt auch nur ein minimaler Aufenthalt von einer oder zwei Nächten pro Monat in einem Heim, um nur noch die Hälfte des vollen Ansatzes der jeweiligen Hilflosenentschädigung auszurichten.
3.2 Strittig ist die Auslegung von Satz 1 von Art. 42ter Abs. 2 IVG. Dieser lautet wie folgt:
Die Hilflosenentschädigung für Versicherte, die sich in einem Heim aufhalten, beträgt die Hälfte der Ansätze nach Absatz 1.
Die IV-Stelle beruft sich in ihrem Einspracheentscheid auf ein Rundschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung Nr. 196 vom 16. April 2004, wonach der volle Ansatz der Hilflosenentschädigung nur zur Anwendung komme, wenn die versicherte Person vollumfänglich zu Hause wohne, während volljährige Versicherte, die teils zu Hause und teils in einem Heim lebten, keinen Anspruch auf den vollen Ansatz hätten.
3.3 Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 131 V 45 Erw. 2.3, 130 V 172 Erw. 4.3.1, 232 Erw. 2.1, 129 V 204 Erw. 3.2, 127 V 61 Erw. 3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a).
3.4
3.4.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die in der Gesetzesbestimmung und der Verwaltungsweisung verwendeten Begriffe "leben", "aufhalten" und "wohnen" seien einander gleichzusetzen. Massgebend sei demnach, an welches Zentrum beziehungsweise an welche Zentren die Lebensbeziehungen des Versicherten schwerpunktmässig anknüpften. Angesichts der nur sporadischen, sehr kurzen Heimaufenthalten von jeweils drei Tagen beziehungsweise zwei Nächten könne nicht angenommen werden, dass sich zwei Lebensmittelpunkte gebildet hätten. Die Vorinstanz kam zum Schluss, eine Auslegung von Art. 42ter Abs. 2 IVG, wie sie das Bundesamt für Sozialversicherung mit dem genannten Rundschreiben Nr. 196 vorgenommen hat, sei nicht nur ungerechtfertigt und stossend, sondern würde auch dem Zweck der Gesetzesbestimmung widersprechen. Demgemäss sprach das Verwaltungsgericht des Kantons Bern dem Versicherten in Aufhebung des Einspracheentscheides auch für die Monate Februar bis Mai und September bis Dezember 2004 eine volle Hilflosenentschädigung zu.
3.4.2 Das Beschwerde führende Bundesamt hält dafür, dass mit der 4. IV-Revision eine Besserstellung von volljährigen Behinderten angestrebt worden sei. Diese sollten mit der Anhebung der Hilflosenentschädigung wählen können, ob sie möglichst lange selbstständig wohnen und einen allfälligen Heimeintritt vermeiden wolle. Die Pflege und Betreuung in einem Heim werde durch kollektive Leistungen der Invalidenversicherung unterstützt. Diese Mittel sollen auch ausserhalb von entsprechenden Institutionen Wohnenden durch die Verdoppelung der bisherigen Ansätze ermöglichen, die notwendige Dritthilfe "einzukaufen". Die ratio legis gebiete es, den vollen Ansatz der Hilflosenentschädigung nur jenen Versicherten zukommen zu lassen, die vollumfänglich zu Hause wohnen und damit die Dienste subventionierter Institutionen nicht in Anspruch nehmen. Die sei mit dem Rundschreiben Nr. 196 vom 16. April 2004 präzisiert worden.
3.4.3 Der Gesetzesbestimmung selbst kann nicht entnommen werden, wo die zeitliche Grenze zwischen dem vollen und dem halben Ansatz zu ziehen ist. In einem kürzlich ergangenen und zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil in Sachen B. vom 4. Juli 2006 (I 92/05; vgl. auch Urteil in Sachen M. vom 4. Juli 2006, I 226/05) hat das Eidgenössische Versicherunggericht erkannt, dass die Frage, ob Anspruch auf die ganze oder die halbe Hilflosenentschädigung bestehe, jeweils in monatlichen Perioden zu beurteilen sei. Versicherte, die pro Kalendermonat mehr als fünfzehn Nächte in einem Heim verbringen, halten sich dort im Sinne von Art. 42ter Abs. 2 Satz 1 IVG auf und haben daher nur Anspruch auf die Hälfte einer vollen Hilflosenentschädigung. Das Gericht hat weiter präzisiert, dass es nur die zwei vom Gesetz in Art. 42ter Abs. 2 IVG vorgesehenen Ansätze der Hilflosenentschädigung - also jeweils die ganze oder halbe Entschädigung je in den drei Graden, leichte, mittelschwere oder schwere Hilflosigkeit gemäss Art. 42ter Abs. 1 IVG - gebe. Für eine weitere Abstufung bestehe kein Raum.
3.5 Da der Versicherte - mit Ausnahme des Monats April 2004 - jeweils nur zwei Nächte pro Monat in einem Heim verbrachte und auch im April nur während einer knappen Woche dort weilte, hat er deshalb während des ganzen Jahres 2004 Anspruch auf den vollen Ansatz der Hilflosenentschädigung mittleren Grades, somit von Fr. 1055.- pro Monat. Damit ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen.
4.
Der den Versicherten vertretende Beistand stellt in eigenem Namen den Antrag, es sei ihm für seine, den gewöhnlichen Aufwand einer Beistandschaft übersteigende Mehrarbeit eine Aufwandentschädigung von Fr. 800.- auszurichten.
Da vorliegend nicht die unentgeltliche Verbeiständung zur Diskussion steht, hat der Vertreter einer Prozesspartei keinen eigenen Anspruch auf eine Entschädigung. Soweit der Antrag dahingehend zu interpretieren ist, dass für den Versicherten eine Parteientschädigung beantragt wird, ist anzuführen, dass der Beschwerdegegner im vorliegenden Verfahren, in welchem er eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherung einzureichen hatte, nicht durch eine fachkundige Person vertreten gewesen ist, weshalb ihm keine Parteientschädigung zusteht. Soweit die Ausrichtung einer Umtriebsentschädigung beantragt wird, muss darauf hingewiesen werden, dass eine solche praxisgemäss nur unter besonderen Umständen gewährt wird und namentlich für die Interessenwahrung einen hohen notwendigen Arbeitsaufwand voraussetzt, welcher den Rahmen dessen überschreitet, was die Einzelperson üblicher- und zumutbarerweise auf sich zu nehmen hat (BGE 110 V 82). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weshalb eine Entschädigung nicht zugesprochen werden kann. Hinsichtlich des geltend gemachten überdurchschnittlichen Aufwands in der Funktion als Beistand ist nicht im vorliegenden Verfahren zu entscheiden, ob dem Beistand dafür eine eigene Entschädigung zusteht, da dies einzig das Innenverhältnis betrifft.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Auf Anträge des Beschwerdegegners bezüglich Hilflosenentschädigung im Jahre 2005 und auf Ausrichtung von Verzugszins wird nicht eingetreten.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Dem Beschwerdegegner wird keine Parteientschädigung ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der IV-Stelle Bern und der Ausgleichskasse des Kantons Bern zugestellt.
Luzern, 24. Juli 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: