Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 453/05
Urteil vom 14. August 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Traub
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
M.________, 1984, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater,
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 9. Mai 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1984 geborene M.________ leidet an einer hyperkinetischen Störung und an einer Störung des Sozialverhaltens (Bericht des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons X.________ vom 25. Juli 2002). Im Sommer 2002 absolvierte er auf Vermittlung der Jugendanwaltschaft im Bildungszentrum Z.________ zunächst eine dreimonatige Berufsabklärung und ab dem 1. August 2002 eine im geschützten Rahmen stattfindende zweijährige Lehre zum Servicefachangestellten in der im GastwirtschaftsbetriebY.________. Auf Gesuch um Beiträge an die Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung hin erhob die IV-Stelle des Kantons Zürich den medizinischen Sachverhalt und nahm berufliche Abklärungen vor. Danach unterbreitete sie das Dossier dem Bundesamt für Sozialversicherung. Gestützt auf dessen negative Stellungnahmen wies die IV-Stelle das Leistungsgesuch ab (mit Einspracheentscheid vom 19. Mai 2004 bestätigte Verfügung vom 13. Juni 2003).
B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde von M.________ gut und stellte fest, dass der Versicherte Anspruch auf Übernahme der invaliditätsbedingten Mehrkosten der Ausbildung zum Servicefachangestellten habe (Entscheid vom 9. Mai 2005).
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid des kantonalen Gerichts sei, in Bestätigung des Einspracheentscheids der Verwaltung, aufzuheben.
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Notwendigkeit einer beruflichen Ausbildung in geschütztem Rahmen durch einen Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 8 Abs. 1 IVG bedingt ist, weil die versicherte Person aufgrund von Art und Schwere des Gesundheitsschadens (vgl. Art. 4 Abs. 2 IVG) bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung massgeblich behindert ist und ihr dadurch wesentliche zusätzliche Kosten entstehen. Verwaltung und kantonales Gericht haben die einschlägigen Bestimmungen (Art. 16 Abs. 1 IVG, Art. 5 Abs. 1 IVV) und die Rechtsprechung (BGE 114 V 30 Erw. 1b) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.
2.
Der zu prüfende Anspruch hängt davon ab, ob die erstmalige berufliche Ausbildung wegen eines Gesundheitsschadens in einem geschützten Rahmen stattfinden muss. Es muss also ein Kausalzusammenhang zwischen einem krankheitswertigen Zustand und dem Eingliederungsbedarf bestehen.
2.1 Die Notwendigkeit der Plazierung in einer geschützten Ausbildungsstätte ist als solche unbestritten. Trotz an sich guter Anlagen des Versicherten waren die Anstrengungen für eine berufliche Ausbildung zuvor gescheitert. Die Schulzeit des Versicherten war zunehmend von einem auffälligen Sozialverhalten geprägt. Nach vorzeitiger Ausschulung war er lange Zeit untätig, nahm mitunter Aushilfsarbeiten an und wurde in ein Jugendstrafverfahren verwickelt (Bericht des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. O.________, vom 25. November 2002). Im Zuge einer arbeitsmarktlichen Massnahme der Arbeitslosenversicherung (Motivationssemester; begleitete berufliche Integration) in den Jahren 2000/2001 ergab sich, dass M.________ trotz günstiger Rahmenbedingungen nicht in der Lage war, eine Lehre zu absolvieren (Bericht vom 19. Juni 2001). Deswegen trat er am 1. Mai 2002 in das Bildungszentrum Z.________ ein, wo zunächst persönliche berufliche Abklärungen stattfanden. Die Notwendigkeit einer Ausbildung im geschützten Rahmen wurde in der Neigung des Versicherten zu impulsiven bis aggressiven Ausbrüchen ohne Fähigkeit zur Selbstkontrolle gesehen. Die praktischen, fachlichen und schulischen Ergebnisse des Lehrgangs seien positiv (Bericht des Bildungszentrums Z.________ vom 19. Januar 2003). Der Beschwerdegegner war mithin offenkundig auf einen Lehrbetrieb angewiesen, der darauf ausgerichtet ist, auf die Überwindung seiner problematischen Verhaltensmuster hinzuwirken.
2.2 Der Rechtsstreit dreht sich um die Frage, ob die Notwendigkeit, die Ausbildung im geschützten Rahmen zu absolvieren, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf einen Gesundheitsschaden zurückzuführen ist oder ob eine nicht krankheitswertige Persönlichkeitsdisposition hiefür verantwortlich zeichnet.
2.2.1 Am 25. Februar 2003 ersuchte die IV-Stelle das BSV um dessen Einverständnis zur Übernahme der Kosten für eine erstmalige berufliche Ausbildung; aufgrund psychischer Probleme habe der Versicherte trotz seiner intellektuellen Fähigkeiten weder an einem Ausbildungs- noch an einem Arbeitsplatz bestehen können. Abklärungen hätten ergeben, dass er an einem geschützten Arbeitsplatz die geforderten Leistungen erbringe und die Berufslehre erfolgreich durchlaufen könne. Das BSV entgegnete, die ärztlichen Angaben zu Diagnose und Prognose reichten nicht aus, um mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einer behinderungsbedingten Notwendigkeit einer Ausbildung im geschützten Rahmen ausgehen zu können (Schreiben vom 26. März 2003). Der medizinische Dienst der IV-Stelle kam demgegenüber zum Schluss, der Anspruch auf berufliche Massnahmen sei erfüllt und weitere Abklärungen seien nicht angezeigt. Die IV-Stelle erneuerte daher seine Anfrage an das BSV. Diese wurde durch die Aufsichtsbehörde wiederum abschlägig beschieden (Schreiben vom 4. Juni 2003).
Einem im Einspracheverfahren gestellten Antrag folgend holte die IV-Stelle ein Gutachten des Psychiaters Dr. H.________, vom 22. Dezember 2003 ein. Zu beantworten waren die Fragen, ob ein psychisches Leiden von Krankheitswert bestehe und, bejahendenfalls, ob der Versicherte trotzdem eine Lehre in der freien Wirtschaft absolvieren oder aber die Ausbildung nur im geschützten Rahmen stattfinden könne. Das BSV bezeichnete die gutachtlichen Schlussfolgerungen als nicht geeignet, die behinderungsbedingte Notwendigkeit einer Ausbildung im geschützten Rahmen schlüssig darzutun. Unreife und der Umstand, dass sich der Betroffene über seinen beruflichen Werdegang noch nicht im Klaren sei, seien nicht gleichbedeutend mit Invalidität (Schreiben vom 7. Mai 2004).
2.2.2 Der Sachverständige führte aus, an sich sei die Diagnose der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10 Ziff. F90.1) nicht zu bezweifeln. Jedoch handle es sich dabei um eine Diagnose aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die meisten hyperkinetischen Störungen verschwänden im Erwachsenenalter, an dessen Schwelle der Versicherte stehe. Aus der Anamnese ergebe sich, dass die psychische Störung bislang noch keine Tendenz zum Verschwinden zeige. Als Diagnosen für Erwachsene in Frage komme entweder ein frühkindlich, am ehesten bei der Geburt entstandenes psychoorganisches Syndrom, das sich in einer Persönlichkeits- und Verhaltensstörung manifestiere (ICD-10 Ziff. F07.0), oder aber eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10 Ziff. F60.2), die wohl vorwiegend genetisch zu erklären wäre, da der Explorand in einem günstigen sozialen Milieu mit sehr verständnisvollen Eltern aufgewachsen sei. Auch wenn sich anamnestisch kaum eine organische Grundlage nachweisen lasse, sei die erstere Diagnose wohl die wahrscheinlichere. Hiefür spreche, dass die psychischen Symptome schwer wögen und nicht nur Affektivität und Sozialverhalten, sondern auch die Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit trotz ziemlich guter Intelligenz beträfen. In beiden Fälle gehe es um ein Geburtsgebrechen. Der Versicherte sei vorläufig nur in der Lage, in einem geschützten Rahmen zu arbeiten. Bei Annahme eines seit der Kindheit bestehenden psychoorganischen Syndroms bestehe eine Tendenz zur Spontanheilung. Eine möglichst gute berufliche Ausbildung vermöge eine solche zu unterstützen. Die Erlangung einer vollen Arbeitsfähigkeit sei möglich. Zusammenfassend hielt der Gutachter fest, es bestehe ein psychisches Leiden mit Krankheitswert. Dieser äussere sich unter anderem in der Beeinträchtigung des Lernens trotz zumindest durchschnittlicher Intelligenz, in mangelhafter Ausdauer, Neigung zu Autoritätskonflikten mit Vorgesetzten, depressiven Verstimmungen, Impulsivität und Disziplinlosigkeit. Eine Lehre in der freien Wirtschaft sei im Zeitpunkt der Begutachtung "sicher nicht" möglich.
2.2.3 Der Sachverständige schliesst sich im Grundsatz der Feststellung an, es liege eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens vor (Berichte des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons X.________ vom 25. Juli 2002 und des Dr. O.________ vom 25. November 2002), ersetzt die ursprüngliche Diagnose angesichts der Adoleszenz des Versicherten aber durch diejenige einer "organischen Persönlichkeitsstörung" (ICD-10 Ziff. F07.0). Es trifft zu, dass ein hyperkinetisches Syndrom nach der wohl herrschenden medizinischen Auffassung bis ins Erwachsenenalter persistieren kann (Blanz/Remschmidt/Schmidt/Warnke, Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter, Stuttgart 2006, S. 95; Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. München 2004, S. 190 ff.; Hans-Christoph Steinhausen, Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 5. Aufl. München/Jena 2002, S. 98 f.; vgl. AHI 2003 S. 105 Erw. 4a [I 340/00]). Solche begrifflichen Differenzen zum Schrifttum erschüttern die Schlüssigkeit des Gutachtens bezüglich der hier interessierenden Fragen allerdings nicht, zumal in der psychiatrischen Beurteilung oft keine terminologische Geschlossenheit herrscht. Massgebend ist, ob die Diagnose eines krankheitswertigen Zustandes nachvollziehbar begründet ist.
Das Bundesamt wendet ein, aus den Akten ergäben sich keine Hinweise auf Teilleistungsstörungen, wie sie für das Beschwerdebild typisch seien. In der Tat wird die Symptomatik in der Vorauflage von Venzlaff/Foerster (2000, S. 157 f.), auf welche sich die Beschwerdeführerin beruft, namentlich bezogen auf das Erwachsenenalter in die vier Merkmalsbereiche depressiv-asthenische Merkmale, impulsiv-aggressive Merkmale, Teilleistungsstörungen und Störungen der sozialen Adaptation gegliedert. Die anamnestischen Angaben im medizinischen Dossier konzentrieren sich auf die Bereiche der impulsiv-aggressiven Merkmale und der Störungen der sozialen Adaptation, umfassen aber ausdrücklich auch eine depressive Komponente (Bericht des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes vom 25. Juli 2002). Die vorgenannte Einteilung wird in der aktuellen Auflage des Werkes von Venzlaff/Foerster nicht mehr aufgegriffen; nunmehr werden als klinische Hauptsymptome in allen Lebensaltern Störungen der Aufmerksamkeit, motorische Überaktivität und Impulsivität genannt (a.a.O., S. 190; vgl. auch Steinhausen, a.a.O., S. 92 f.). Die Teilleistungsstörung hinsichtlich der Aufmerksamkeit geht ohne weiteres in den mehrfach beschriebenen massiven schulischen und ausserschulischen Problemen (Störung des Unterrichts, Konflikte mit Lehrpersonen, Verweigerung der Hausaufgaben, Sanktionsresistenz, allgemeine Aggressivität, Schulausschluss) auf. Die im Grundsatz von allen beteiligten Ärzten geteilte Diagnose kann unter diesen Umständen nicht allein deswegen in Zweifel gezogen werden, weil eine gesonderte Beschreibung von Aufmerksamkeitsdefiziten unterblieben ist. Zum konkreten Beschwerdebild passt ferner die Feststellung in der medizinischen Lehre, dass sich die Hyperaktivität mit zunehmendem Alter eher zurückbilde als die - hier im Vordergrund stehende - Impulsivität (Steinhausen, a.a.O., S. 92).
Schliesslich vermag der von der Beschwerdeführerin angesprochene Umstand, dass nicht schon im frühen Kindesalter medizinische Abklärungen in die Wege geleitet wurden, die Beweiskraft der Expertise nicht zu entkräften, wird in der Fachliteratur doch darauf hingewiesen, dass das zeitige Erkennen des Störungsbildes bei einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens oft erschwert sei (Blanz/Remschmidt/Schmidt/Warnke, a.a.O., S. 95). Ein schwieriges Sozialverhalten ist zudem anamnestisch schon für das Kindergartenalter ausgewiesen (Bericht des Dr. O.________ vom 25. November 2002). Ist die Diagnose einer hyperkinetischen Störung der Sozialverhaltens (bzw. des nach Auffassung des Sachverständigen massgebenden Parallelbefunds für Erwachsene) somit nachvollziehbar begründet, muss auf die im Gutachten erwogenen diagnostischen Varianten nicht mehr eingegangen werden.
2.2.4 Das Administrativgutachten ist hinsichtlich des Vorliegens eines Gesundheitsschadens voll beweiswertig. Es bleibt festzustellen, dass dieser krankheitswertige Befund das relevante Verhalten des Beschwerdegegners ausreichend erklärt. Konkurrierende Ursachen, die den Kausalzusammenhang zu unterbrechen vermöchten, sind nicht ersichtlich.
3.
Der Vollständigkeit halber bleibt festzuhalten, dass die Rechtsprechung gemäss SVR 2004 IV Nr. 11 S. 31 (I 509/01), wonach kein Anspruch auf eine Leistung zu Lasten der Invalidenversicherung bestehe, wenn die entsprechende Massnahme durch eine bereits verfügte Anordnung der Jugendstrafrechtspflege gedeckt sei, hier keine Anwendung findet. So geht es im zitierten Entscheid um eine Massnahme der Jugendstrafrechtspflege; vorliegend indes erfolgte der Antritt einer Berufsabklärung und -lehre im Bildungszentrum Z.________ nur auf Vermittlung - und nicht durch verbindliche Weisung - der Jugendanwaltschaft.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.
Luzern, 14. August 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: