Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.286/2006 /scd
Urteil vom 22. August 2006
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiberin Schoder.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Marc Fischer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug,
Aabachstrasse 1, Postfach 760, 6301 Zug,
Einzelrichteramt des Kantons Zug,
An der Aa 6, Postfach 760, 6301 Zug.
Gegenstand
Fristwiederherstellungsgesuch,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
Nr. 2006/29/E des Einzelrichteramts des Kantons Zug vom 12. April 2006.
Sachverhalt:
A.
X.________ wurde mit Strafbefehl Nr. 2006/12 vom 17. Januar 2006 vom Einzelrichteramt des Kantons Zug wegen Übertretung des Strassenverkehrsgesetzes (Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit) mit einer Busse bestraft. Gemäss Rechtsmittelbelehrung konnte gegen diesen Strafbefehl innert zehn Tagen beim Einzelrichteramt des Kantons Zug Einsprache erhoben werden.
Die Mutter von X.________ nahm den Strafbefehl am 19. Januar 2006 in Empfang.
Am 6. März 2006 erhob X.________ gegen den Strafbefehl Einsprache und stellte gleichzeitig ein Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist. Zur Begründung des Fristwiederherstellungsgesuchs machte er geltend, er sei vom 19. Januar bis zum 2. Februar 2006 in den Ferien gewesen und habe nicht mit der Zustellung des Strafbefehls gerechnet. Gegen den Strafbefehl brachte er vor, es sei nicht erwiesen, dass er bezüglich des beanzeigten Vorfalls vom 6. April 2005 Fahrzeuglenker gewesen sei.
Mit Verfügung Nr. 2006/29/E vom 12. April 2006 wies der zuständige Einzelrichter das Fristwiederherstellungsgesuch ab und stellte die Rechtskraft des Strafbefehls Nr. 2006/12 fest. Er begründete seinen Entscheid damit, dass die Mutter des Gesuchstellers zur Entgegennahme von Gerichtsurkunden unbestrittenermassen befugt war, der Gesuchsteller als vom Strafverfahren Betroffener mit der Zustellung einer Gerichtsurkunde rechnen musste und das Versäumnis weder auf höhere Gewalt noch auf andere entschuldbare Gründe zurückgeführt werden könne.
B.
X.________ hat gegen die Verfügung des Einzelrichters staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV), des Rechtsverweigerungsverbots (Art. 29 Abs. 1 BV), des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und der Rechtsweggarantie (Art. 32 Abs. 3 BV) erhoben. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Zudem ersucht er um Erteilung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug liess sich vernehmen ohne einen Antrag zu stellen. Der Einzelrichter hat auf Stellungnahme verzichtet.
D.
Mit Präsidialverfügung vom 20. Juni 2006 wurde der staatsrechtlichen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist somit grundsätzlich einzutreten. Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde insoweit, als der Beschwerdeführer eine Verletzung des Akteneinsichtsrechts (Art. 29 Abs. 2 BV) rügt. Da der Einzelrichter das Fristwiederherstellungsgesuch abwies, hat er den Anspruch auf Akteneinsicht im Einspracheverfahren folgerichtig nicht geprüft. Somit kann die Frage des Anspruchs auf Akteneinsicht im Einspracheverfahren auch nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein. Dass der Beschwerdeführer zur Begründung des Fristwiederherstellungsgesuchs Einsicht in die Akten benötige, hat er im kantonalen Verfahren nicht geltend gemacht.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer bringt gegen die Ablehnung der Wiederherstellung der Einsprachefrist Folgendes vor: Es treffe nicht zu, dass er mit der Zustellung eines Strafbefehls habe rechnen müssen. Einem Laien wie ihm sei es nicht möglich, ein polizeiliches Untersuchungsergebnis rechtlich zu beurteilen und den zeitlichen Rahmen weiterer Verfahrensschritte abzuschätzen. Es sei für ihn völlig unklar gewesen, ob weitere polizeiliche Untersuchungen folgen würden oder ob das Verfahren mangels Beweisen eingestellt oder ein Urteil gesprochen würde. Die Zustellung des Strafbefehls während seiner Ferienabwesenheit sei für ihn nicht voraussehbar gewesen, weshalb er aus entschuldbaren Gründen vom Strafbefehl nicht rechtzeitig innert der Einsprachefrist Kenntnis genommen habe. Der Staatsanwalt habe auf Stellungnahme verzichtet, was als Einwilligung zur Fristwiederherstellung zu betrachten sei. Der Einzelrichter habe das Stillschweigen des Staatsanwalts aber als Verweigerung der Einwilligung zur Fristwiederherstellung gewertet und habe die Einsprache einzig unter Verweis auf den fehlenden Nachweis von höherer Gewalt abgewiesen. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV) und des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV).
2.2 Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und damit dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183 f. mit Hinweisen). Ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt, prüft das Bundesgericht frei (BGE 128 II 139 E. 2a S. 142 mit Hinweisen). Die Auslegung und Anwendung des einschlägigen kantonalen Rechts untersucht es indessen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 131 I 217 E. 2.1 S. 219, 350 E. 2 S. 352, 467 E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen). Willkür liegt vor, wenn der angefochtene kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 132 I 467 E. 3.1 S. 473 f., mit Hinweisen).
2.3 Gemäss § 90 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Zug vom 3. Oktober 1940 über die Organisation der Gerichtsbehörden (GOG/ZG) kann mit Einwilligung der Gegenpartei die Wiederherstellung gegen die Säumnisfolgen stattfinden. Wider deren Willen ist sie nur möglich, wenn nachgewiesen wird, dass das Versäumnis infolge höherer Gewalt eingetreten ist.
2.4 In der angefochtenen Verfügung wird erwähnt, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug als Gegenpartei Verzicht auf eine Stellungnahme erklärte. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers trifft aber nicht zu, dass der Einzelrichter diesen Verzicht der Staatsanwaltschaft als Verweigerung der Einwilligung zur Fristwiederherstellung auslegte. Wie sich aus der angefochtenen Verfügung unzweideutig ergibt, wurde das Fristwiederherstellungsgesuch mit der Begründung abgewiesen, dass weder höhere Gewalt noch sonstige Gründe vorliegen, welche die Verspätung entschuldbar erscheinen lassen. Der Einzelrichter stützte die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs somit nicht auf Satz 2, sondern auf Satz 1 von § 90 Abs. 2 GOG/ZG.
2.5 Der Beschwerdeführer beruft sich auf die in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Zustellung von Gerichtsurkunden, die der Einzelrichter zur Begründung der angefochtenen Verfügung implizit übernommen hat. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe mit der Zustellung des Strafbefehls während seiner Ferienabwesenheit nicht rechnen müssen, weshalb ein entschuldbarer Grund für die verspätete Einsprache gegeben sei. Er stützt sich auf BGE 101 Ia 7, wonach der an einem Verfahren Beteiligte nur dann geeignete Massnahmen zur Sicherung der Wahrung seiner Rechte im Sinne der Rechtsprechung zu treffen hat, wenn er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Zustellung einer allfälligen Gerichtsurkunde gefasst sein muss (E. 2).
Der Beschwerdeführer verkennt, dass BGE 101 Ia 7 ein anderer Sachverhalt als der hier gegebene zugrunde lag. Gemäss den tatsächlichen Angaben im erwähnten Entscheid war der Betroffene in einen banalen Verkehrsunfall verwickelt, über den ein Polizeibericht erstellt wurde. In der Folge verurteilte ihn das kantonale Justiz- und Polizeidepartement zu einer Busse wegen Verkehrsregelverletzung, wobei der Entscheid dem Betroffenen wegen dessen Ferienabwesenheit nicht eröffnet werden konnte. Das Bundesgericht entschied, dass der Betroffene aufgrund des blossen Erstellens eines Polizeiberichts über einen alltäglichen Verkehrsunfall nicht mit der Zustellung einer Gerichtsurkunde rechnen musste (E. 2). In BGE 116 Ia 90 wurde diese Rechtsprechung bestätigt.
Im vorliegenden Fall beschränkte sich das polizeiliche Handeln indessen nicht auf die Erstellung eines Polizeiberichts. Eine Radarkontrolle ergab, dass der Lenker des dem Beschwerdefüher gehörenden Fahrzeugs auf der Autobahn A14 mit einer Geschwindigkeit von 159 km/h fuhr. Da die Person des Lenkers auf dem Radarbild nicht erkennbar ist, trat der mit den Ermittlungen beauftragte Polizeibeamte mit dem Beschwerdeführer mehrmals in telefonischen Kontakt und lud ihn auch mehrmals zur Befragung auf den Polizeiposten vor. Der Beschwerdeführer zeigte sich äusserst unkooperativ, indem er den Namen eines Cousins, der das Fahrzeug im Zeitpunkt der besagten Radarkontrolle angeblich gefahren haben soll, verschwieg, telefonisch zeitweise nicht erreichbar war und nicht zum vereinbarten Termin auf dem Polizeiposten erschien. Gemäss Polizeibericht vom 3. Januar 2006 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er wegen der Verkehrsregelverletzung verzeigt werde. Der Beschwerdeführer gab am 30. Dezember 2005 ausdrücklich zu Protokoll, er nehme zur Kenntnis, dass die Akten an das Einzelrichteramt des Kantons Zug weitergeleitet werden. Er kann deshalb nicht behaupten, von einem laufenden Strafverfahren nichts gewusst zu haben. Unter diesen Umständen ist die Schlussfolgerung des Einzelrichters in der angefochtenen Verfügung nicht zu beanstanden, dass der Beschwerdeführer mit der Zustellung einer Gerichtsurkunde rechnen musste.
Aber selbst wenn dem Beschwerdeführer die fehlende Kenntnisnahme der Zustellung des Strafbefehls nicht angelastet werden könnte, war die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs zulässig. Wie im angefochtenen Urteil erwähnt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt wird, dauerte dessen Ferienabwesenheit vom 19. Januar bis zum 2. Februar 2006. Gemäss eigenen Angaben nahm der Beschwerdeführer am 6. Februar 2006 vom Strafbefehl Kenntnis (vgl. Einsprache an den Einzelrichter, S. 3). Das Fristwiederherstellungsgesuch stellte er indessen erst am 6. März 2006, somit einen Monat nach der tatsächlichen Kenntnisnahme des Strafbefehls. Unter diesen Umständen ist die Schlussfolgerung des Einzelrichters, dass kein entschuldbarer Grund im Sinn von § 90 Abs. 2 GOG/ZG für die Säumnis ersichtlich ist, nicht willkürlich. Es wäre dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen, innert zehn Tagen nach Kenntnisnahme des Strafbefehls (so die Einsprachefrist) das Versäumte nachzuholen.
2.6 Inwiefern das Verbot des überspitzten Formalismus in Anbetracht der vom Beschwerdeführer selbst zitierten Rechtsprechung zur Zustellung von Gerichtsurkunden verletzt sein soll, ist ebenfalls nicht ersichtlich.
3.
Des Weitern rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Rechtsweggarantie, wonach jede verurteilte Person das Recht hat, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen (Art. 32 Abs. 3 BV). Auch diese Rüge ist unbegründet, da Art. 32 Abs. 3 BV nicht ein Recht auf Beurteilung durch ein höheres Gericht einräumt, wenn die Einsprachefrist aus unentschuldbaren Gründen verpasst wird.
4.
Nach dem Gesagten sind die Rügen des Beschwerdeführers unbegründet und die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Dem Verfahrensausgang zufolge hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Einzelrichteramt des Kantons Zug schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. August 2006
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: