Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
4C.188/2006 /ech
Urteil vom 25. September 2006
I. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Favre,
Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiberin Sommer.
Parteien
A.________ AG,
Beklagte und Berufungsklägerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christoph J. Joller,
gegen
B.________,
Kläger und Berufungsbeklagter,
vertreten durch Fürsprecher Martin Thomann.
Gegenstand
Arbeitsvertrag; fristlose Kündigung,
Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des
Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz,
vom 30. März 2006.
Sachverhalt:
A.
B.________ (Kläger) arbeitete seit 17. August 1992 bei der A.________ AG (Beklagten). Die Beklagte kündigte ihm am 7. Juni 2004 fristlos wegen wiederholter sexueller Belästigung von Mitarbeiterinnen und Ehepartnerinnen von Mitarbeitern.
Im Januar 2004 hat die Beklagte von einem Vorfall sexueller Belästigung, begangen durch den Kläger Ende 2003 an einer Mitarbeiterin, Kenntnis erhalten. Dieser Vorfall wurde im Januar 2004 zwischen den Parteien als erledigt abgeschlossen. Die Beklagte stellte zum damaligen Zeitpunkt eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger nicht in Frage.
Am 24. Mai 2004 orientierte C.________, Sekretärin in der Zweigniederlassung X.________, den damaligen Vorgesetzten des Klägers, D.________, über zwei weitere Vorfälle sexueller Belästigung, die sich der Kläger anlässlich eines Betriebsfests im Jahr 2002 zu Schulden habe kommen lassen. Am gleichen Tag, eventuell einen Tag später, hat D.________ die Informationen telefonisch an den Direktor des Personalwesens, E.________, weitergeleitet. Dieser hat in der ersten Juniwoche bzw. am 6. Juni 2004 mit C.________ und allen betroffenen Personen Gespräche geführt, in denen die Vorfälle bestätigt wurden. Am 7. Juni 2004 wurde der Kläger zur Rede gestellt. Er hat die Vorwürfe nicht bestritten, worauf ihm unverzüglich die fristlose Kündigung erklärt wurde.
B.
Der Kläger belangte die Beklagte am 19. November 2004 vor dem Amtsgericht Luzern-Land auf Bezahlung eines richterlich zu bestimmenden, jedoch Fr. 75'000.-- übersteigenden Betrags, zuzüglich 5 % Zins seit 20. September 2004. Am 6. September 2005 sprach das Amtsgericht dem Kläger Fr. 65'043.75 nebst 5 % Zins seit 20. September 2004 zu, da es die fristlose Kündigung als ungerechtfertigt betrachtete.
Gegen dieses Urteil gelangte die Beklagte an das Obergericht des Kantons Luzern. Sie beantragte im Wesentlichen, die Klage abzuweisen. Der Kläger reichte Anschlussappellation ein und verlangte in der Hauptsache, die Beklagte zur Bezahlung von Fr. 75'043.75 nebst 5 % Zins seit 20. September 2004 zu verpflichten.
Das Obergericht verurteilte die Beklagte am 30. März 2006, dem Kläger Fr. 65'043.75 nebst 5 % Zins seit 20. September 2004 zu bezahlen. Anderslautende und weitergehende Begehren wies es ab.
C.
Die Beklagte beantragt mit eidgenössischer Berufung, das Urteil des Obergerichts vom 30. März 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung bei gleichzeitiger Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen.
Auf eine von der Beklagten in gleicher Angelegenheit erhobene staatsrechtliche Beschwerde ist das Bundesgericht mit Urteil vom heutigen Tag nicht eingetreten.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Vorinstanz hat vorliegend offen gelassen, ob ein wichtiger Grund, der für die Begründung einer fristlosen Entlassung ausreicht, gegeben wäre. Sie hielt dafür, dass die Beklagte ihr Recht auf fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses verwirkt habe.
Die Beklagte macht demgegenüber geltend, die Vorinstanz habe Art. 337 OR verletzt, indem sie zum Schluss gekommen sei, die fristlose Kündigung sei verspätet ausgesprochen worden.
2.
Nach Art. 337 OR kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Gründen jederzeit fristlos auflösen. Ist ein wichtiger Grund gegeben, so ist die fristlose Kündigung sofort auszusprechen. Andernfalls ist anzunehmen, das Einhalten der ordentlichen Kündigungsfrist sei für den Kündigenden subjektiv zumutbar, und ist das Recht auf eine sofortige Vertragsauflösung verwirkt (BGE 130 III 28 E. 4.4 S. 34; 123 III 86 E. 2a S. 87; 112 II 41 E. 3b S. 51, je mit Hinweisen). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist aufgrund der Umstände des konkreten Falles zu entscheiden, innert welcher Frist dem Berechtigten billigerweise ein Entschluss darüber zuzumuten ist, ob er von seinem Recht zur fristlosen Aufhebung des Vertrags Gebrauch machen will. In der Regel wird eine Überlegungsfrist von zwei bis drei Arbeitstagen als genügend angesehen. Ein Hinauszögern über diese Zeitspanne, die zum Nachdenken und Einholen von Rechtsauskünften ausreichen sollte, ist nur zulässig, wenn es mit Rücksicht auf die praktischen Erfordernisse des Alltags- und Wirtschaftslebens als verständlich und berechtigt erscheint (BGE 130 III 28 E. 4.4 S. 34 mit Hinweisen).
Bei einem klaren Sachverhalt muss zudem anders vorgegangen werden als in Fällen, in denen zuerst Abklärungen notwendig sind oder die Verfehlungen erst langsam an den Tag treten. Dabei ist es nicht in allen Fällen möglich, die zulässige Überlegungszeit in eine Abklärungsfrist und eine Überlegungsfrist einzuteilen. Geht es bei der Abklärung darum, erst das Ausmass der Verfehlung abschätzen zu können, so wird die Überlegungsfrist notwendigerweise erst an die Abklärungsfrist anschliessen. Ist der Vorwurf jedoch von Anfang an klar und ist nur zu ermitteln, ob er zutrifft oder nicht, so kann der Arbeitgeber schon während der Abklärung des Sachverhalts überlegen, wie er reagieren will, wenn sich der Vorwurf als zutreffend erweist. In einem solchen Fall kann verlangt werden, dass er die fristlose Entlassung nach Feststellung des Sachverhalts sofort ausspricht, ohne dass ihm noch einmal eine Überlegungsfrist gewährt werden muss (Urteile 4C.345/2001 vom 16. Mai 2002, E. 3.2; 4C.187/2004 vom 5. Juli 2004, E. 4.1; Gustav Wachter, Der Untergang des Rechts zur fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses, ArbR 1990, S. 37 ff., 42 ff.). Liegt ein konkreter nennenswerter Verdacht gegen eine individuelle Person vor, bei dessen Erhärtung der Arbeitgeber in Betracht zieht, das Arbeitsverhältnis zum Arbeitnehmer sofort zu beenden, ist zu verlangen, dass der Arbeitgeber unverzüglich alle ihm zumutbaren Massnahmen ergreift, um Klarheit zu gewinnen. Wartet er mit den Abklärungen der gegen den Arbeitnehmer erhobenen Vorwürfe zu, deutet dies darauf hin, dass das gegenseitige Vertrauensverhältnis nicht unwiederbringlich zerstört und es ihm subjektiv zumutbar ist, die ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten (Urteil 4C.364/2005 vom 12. Januar 2006, E. 3.2.3; Gustav Wachter, a.a.O., S. 46; vgl. ferner: Streiff/von Kaenel, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR , 6. Auflage, Zürich 2006, N. 17 zu Art. 337; Brühwiler, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Auflage, Bern 1996, N. 10 zu Art. 337).
3.
3.1 Die Vorinstanz hat ihren Schluss, die fristlose Kündigung sei verwirkt, damit begründet, dass die Beklagte zu lange gewartet habe, bis sie den von C.________ zu Tage geförderten Verfehlungen des Klägers nachgegangen sei. Es sei ihr daher subjektiv zumutbar gewesen, die ordentliche Kündigungsfrist einzuhalten. Die Abklärungen der Beklagten hätten kaum Zeit in Anspruch genommen. Innert äusserst kurzer Frist habe sie gesicherte Kenntnisse über das Fehlverhalten des Klägers anlässlich des Betriebsfests im Jahr 2002 erhalten. Eine (weitere) Überlegungszeit sei nicht erforderlich gewesen, da dem Kläger die fristlose Entlassung gleich anlässlich der Konfrontation vom 7. Juni 2004 eröffnet worden sei. Es sei kein zentraler Grund ersichtlich, weshalb die Beklagte mit ihren Abklärungen bis in die erste Juniwoche bzw. bis zum 6. Juni 2004 zugewartet habe.
3.2 Die Beklagte hält demgegenüber dafür, die Vorinstanz habe die Abklärungs- und Überlegungsfrist nicht auseinander gehalten und übersehen, dass bei einem dem Kündigenden nicht hinreichend bekannten Sachverhalt die Erklärungsfrist erst nach definitiver Kenntnis vom wichtigen Grund beginne. Die Beklagte habe sich zudem - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - keineswegs weitere Überlegungszeit zugebilligt, sei doch unmittelbar nach definitiver Kenntnis des wichtigen Grundes die fristlose Entlassung ausgesprochen worden.
Von einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheiten könne keine Rede sein und die Überlegung der Vorinstanz, es sei kein zentraler Grund ersichtlich, weshalb sie mit den Abklärungen bis in die erste Juniwoche zugewartet habe, stehe im Widerspruch zur allgemeinen Lebenserfahrung. Sie sei sofort tätig geworden und habe zeitverzugslos das Notwendige zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen. Der Personalchef habe Überlegungen über das Vorgehen anstellen, Termine festlegen und wahrnehmen sowie den Betroffenen in Anwesenheit eines Zeugen mit den Untersuchungsergebnissen konfrontieren müssen. All diese Vorkehrungen seien innert bloss zehn Arbeitstagen erledigt worden, obwohl noch das Pfingstwochenende dazwischen gelegen sei. Die Vorinstanz habe die Organisationsstruktur der Beklagten unberücksichtigt gelassen und zudem die Vornahme von Abklärungen mit der Wahrnehmung der Termine als solche verwechselt.
Der allgemeinen Lebenserfahrung widerspreche der Schluss der Vorinstanz, die gesicherte Kenntnis über das Fehlverhalten des Klägers sei innert äusserst kurzer Frist erlangt worden. Der schwere Vorwurf habe eine sorgfältige Abklärung benötigt und es wäre undenkbar gewesen, eine Kündigung allein aufgrund der Verdächtigungen von C.________ auszusprechen. Erst das Gespräch mit dem Kläger habe die für die fristlose Kündigung notwendige Gewissheit gebracht.
3.3 Soweit sich die Beklagte in diesen Vorbringen auf Sachverhaltselemente beruft, die in den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz keine Stütze finden, ohne dazu eine Ausnahme von der Sachverhaltsbindung im Sinne von Art. 63 Abs. 2 und Art. 64 OG zu substanziieren, kann sie nicht gehört werden (BGE 130 III 102 E. 2.2 S. 106; 127 III 248 E. 2c; 115 II 484 E. 2a). So insbesondere, wenn sie geltend macht, die Abklärungen seien unverzüglich an die Hand genommen und zeitverzugslos durchgeführt worden sowie die Vorinstanz habe ihre Organisationsstruktur nicht berücksichtigt. Im Übrigen ist zu letzterem Vorbringen anzumerken, dass die Vorinstanz in ihrem Urteil festgehalten hat, die für die Kündigung seitens der Beklagten zuständigen Personen seien von Anfang an involviert gewesen. Die Rüge entbehrt daher insoweit von vornherein jeglicher Grundlage.
Die weitere Rüge, die Vorinstanz habe im Widerspruch zur allgemeinen Lebenserfahrung angenommen, dass die Beklagte innert äusserst kurzer Frist gesicherte Kenntnis über das Fehlverhalten des Klägers erlangt habe, beruht - wie bereits in der staatsrechtlichen Beschwerde ausgeführt - auf einem falschen Verständnis des Urteils der Vorinstanz und stösst somit ins Leere. Ebenfalls auf einem unzutreffenden Verständnis des Urteils der Vorinstanz beruht das Vorbringen der Beklagten betreffend der nicht auseinander gehaltenen Abklärungs- und Überlegungsfrist. So hat die Vorinstanz nicht festgestellt, die Beklagte habe sich nach definitiver Kenntnis des wichtigen Grundes zu Unrecht eine weitere Überlegungszeit zugebilligt. Zudem ist sowohl die Feststellung der Vorinstanz, die Beklagte habe innert äusserst kurzer Frist seit Beginn der Abklärungen gesicherte Kenntnisse der Verfehlungen erhalten, als auch das Auseinanderhalten von Abklärungs- und Überlegungsfrist vorliegend nicht entscheidwesentlich, da die Vorinstanz ihr Urteil allein auf den Vorwurf gestützt hat, mit den Abklärungen sei zu lange zugewartet worden.
Der Schluss der Vorinstanz, die Beklagte habe mit ihren Abklärungen zu lange zugewartet, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Wie die Vorinstanz beweismässig feststellte, wurde der Personalchef am 24. Mai 2004 bzw. eventuell einen Tag später über den Verdacht der Verfehlungen des Klägers informiert. Erst in der ersten Juniwoche bzw. am 6. Juni 2004 hat er die betroffenen Personen zu den Vorwürfen der sexuellen Belästigung angehört. Mit seinem Zuwarten hat er demnach kundgetan, dass der Vorfall keiner sofortigen Reaktion bedurfte. Sollte er der Meinung gewesen sein, die Beklagte müsse sich sofort von einem Arbeitnehmer trennen, der sich auf die ihm beschriebene Art und Weise verhält, hätte er unverzüglich Abklärungen an die Hand nehmen müssen. Durch den Umstand, dass er mehr als eine Woche zuwartete, bevor er anlässlich der Gespräche mit den Betroffenen herausfinden konnte, ob sich der im Raum stehende Verdacht als wahr herausstellt, ist anzunehmen, das Einhalten der ordentlichen Kündigungsfrist sei für die Beklagte subjektiv zumutbar (vgl. E. 2). Auf der Grundlage der verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz ist insbesondere kein wesentlicher Grund ersichtlich, der das Zuwarten mit den Abklärungen zu rechtfertigen vermöchte. Demnach hat die Vorinstanz ohne Verletzung von Bundesrecht entschieden, die Beklagte habe das Recht auf eine sofortige Vertragsauflösung im Sinne von Art. 337 OR verwirkt.
4.
Aus diesen Gründen ist die Berufung abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
In arbeitsrechtlichen Streitigkeiten ist das Verfahren bis zu einem Streitwert von Fr. 30'000.-- kostenlos (Art. 343 Abs. 3 OR). Da diese Grenze im vorliegenden Fall überschritten wird, ist die Bestimmung nicht anwendbar. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beklagte demnach die Gerichtsgebühr zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG) und dem Kläger eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'500.-- wird der Beklagten auferlegt.
3.
Die Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 4'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. September 2006
Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: