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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.625/2006 /scd
Urteil vom 12. Oktober 2006
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Gerber.
Parteien
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,
gegen
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.
Gegenstand
Haftentlassung aus vorzeitigem Strafvollzug,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichterin,
vom 23. August 2006.
Sachverhalt:
A.
X.________ wird des versuchten Mordes und des Vergehens gegen das Waffengesetz verdächtigt. Ihr wird vorgeworfen, sie habe am 16. Februar 2005 gegen 23.20 Uhr versucht, ihre Mutter Y.________ an deren Wohnort in Z.________ mit einem am Vortag erworbenen Elektroschockgerät zu töten, um diese zu beerben und dadurch ihre missliche finanzielle Situation zu verbessern.
B.
X.________ wurde am 19. Februar 2005 in Untersuchungshaft versetzt. Mit Verfügung vom 22. Juni 2005 wurde ihr der vorzeitige Strafantritt bewilligt.
C.
Am 4. August 2006 stellte der amtliche Verteidiger von X.________ ein Haftentlassungsgesuch. Dieses wurde mit Verfügung des Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich am 11. August 2006 abgewiesen, weil weiterhin Kollusionsgefahr und zudem Fluchtgefahr bestehe.
D.
Am 13. August 2006 verfasste X.________ persönlich ein neues Haftentlassungsgesuch. Dieses Gesuch wies die Haftrichterin mit Verfügung vom 23. August 2006 ab.
E.
Gegen diese Verfügung erhebt X.________ staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und sie sei aus der Haft zu entlassen. Zudem ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und um unentgeltliche Verbeiständung.
F.
Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Bezirksgericht Zürich hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
G.
In ihrer Replik vom 9. Oktober 2006 hält die Beschwerdeführerin an ihren Anträgen fest.
H.
Am 28. August 2006 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen X.________ wegen versuchten Mordes und Vergehens gegen das Waffengesetz. X.________ anerkennt den eingeklagten Sachverhalt und den Grundtatbestand, bestreitet aber die Qualifikation. Mit Beschluss der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 26. September 2006 wurde die Anklage zugelassen und die Angeklagte gemäss § 198 Abs. 1 Ziff. 3 lit. a des Zürcher Gesetzes über den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (Strafprozessordnung; im Folgenden: StPO/ZH) dem Obergericht zur Aburteilung überwiesen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Da alle Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, ist auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.
2.
Die Untersuchungshaft bzw. der vorzeitige Strafvollzug schränken die in Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 BV sowie Art. 5 Ziff. 1 EMRK garantierte persönliche Freiheit der Beschwerdeführerin ein. Ein Eingriff in dieses Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf er den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV; BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186 mit Hinweisen).
Im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186 mit Hinweisen).
3.
Die Beschwerdeführerin befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. Dieser setzt das Einverständnis der angeschuldigten Person sowie die Erwartung einer unbedingten Freiheitsstrafe oder einer stationären Massnahme voraus und darf den Zweck des Strafverfahrens nicht gefährden (§ 71a StPO/ZH i.V.m. § 19 der Zürcher Justizvollzugsverordnung vom 24. Oktober 2001 [JVV]). Die angeschuldigte Person ist berechtigt, jederzeit ein Begehren um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug zu stellen (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 79 f.). Dieses Gesuch ist abzuweisen, wenn strafprozessuale Haftgründe fortdauern und die Dauer der Haft bzw. des Strafvollzugs nicht in die Nähe der konkret zu erwartenden Strafe gerückt ist (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 80; vgl. auch Entscheid 1P.44/1988 vom 10. Februar 1998 E. 2d/bb).
Voraussetzung für die Anordnung und Fortdauer von Untersuchungshaft ist nach zürcherischem Strafprozessrecht, dass gegen den Angeschuldigten der dringende Tatverdacht eines Vergehens oder Verbrechens besteht und zudem ein besonderer Haftgrund vorliegt, namentlich Kollusions-, Flucht-, oder Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH).
Die Beschwerdeführerin bestreitet den allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachtes nicht. Sie macht jedoch geltend, die Haftrichterin habe zu Unrecht die besonderen Haftgründe der Kollusions- und der Fluchtgefahr bejaht. Dies ist im Folgenden zu prüfen.
4.
Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes genügt indessen die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4c S. 261).
4.1 Zur Begründung der Kollusionsgefahr verwies die Haftrichterin auf die Verfügung vom 11. August 2006. Darin war angenommen worden, dass die Beurteilung der Tat vermutlich in den Zuständigkeitsbereich des Geschworenengerichts fallen werde, vor dem das Unmittelbarkeitsprinzip gelte. Kollusionsgefahr könne deshalb ausnahmsweise auch noch nach Beendigung der Untersuchung vorliegen. Zwar habe die Angeschuldigte ein umfassendes Geständnis abgelegt; vor Geschworenengericht müssten jedoch allenfalls noch zwei Nachbarn aussagen, wobei sich mindestens eine dieser Personen massiv vor der Beschwerdeführerin fürchte. Dies könne zu einer erheblichen Gefährdung der Wahrheitsfindung oder zu einer Erschwerung des Verfahrens führen, weshalb Kollusionsgefahr zu bejahen sei.
4.2 Inzwischen steht fest, dass nicht das Geschworenengericht sondern das Obergericht über die Strafsache entscheiden wird. Im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung, auf die im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde grundsätzlich abzustellen ist, war dies allerdings noch nicht abzusehen. Die mögliche Beurteilung durch das Geschworenengericht und das dort geltende Unmittelbarkeitsprinzip begründen aber für sich allein keine Kollusionsgefahr; vielmehr bedarf es hierfür konkreter Indizien. Solche Indizien sind jedoch nicht ersichtlich:
Die Staatsanwaltschaft bewilligte am 22. Juni 2005 das Gesuch der Beschwerdeführerin um vorzeitigen Strafvollzug mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Untersuchung weit fortgeschritten sei und keine Kollusionsgefahr mehr bestehe. Die Beschwerdeführerin hatte seither die Möglichkeit des freien Telefon- und Briefverkehrs. Trotzdem hat sie keinerlei Versuch gemacht, Zeugen zu beeinflussen. Insbesondere gibt es keine Hinweise dafür, dass sie jemals versucht hätte, Kontakt zu ihren ehemaligen Nachbarn aufzunehmen oder diese gar zu bedrohen. Es ist auch nicht ersichtlich, was sie damit bezwecken könnte, nachdem sie bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt hat. Dieses Geständnis hätte der Beschwerdeführerin auch im Verfahren vor Geschworenengericht vorgehalten werden können (vgl. § 241 Abs. 2 StPO/ZH).
4.3 Nach dem Gesagten ist Kollusionsgefahr zu verneinen. Zu prüfen ist deshalb, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr vorliegt.
5.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen sind beispielsweise die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches.
5.1 In der angefochtenen Verfügung wird Fluchtgefahr bejaht, weil die Beschwerdeführerin eine längere Freiheitsstrafe zu erwarten habe und aufgrund ihres fehlenden Wohnsitzes und ihrer nicht gefestigten sozialen Verhältnisse versucht sein könnte, sich ins Ausland abzusetzen oder im Inland unterzutauchen. Die von der Beschwerdeführerin angesprochenen schwierigen finanziellen Verhältnisse könnten die Fluchtgefahr nicht ausschliessen. Sodann wies die Haftrichterin darauf hin, dass die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin auch im Rahmen der Haft bzw. des Strafvollzugs durchgeführt werden könne.
5.2 Die Beschwerdeführerin lebte vor ihrer Verhaftung in Basel, wo ihr die Ausweisung aus der Wohnung drohte. Sie wohnte völlig isoliert und pflegte keine Kontakte zu Angehörigen und Bekannten, mit Ausnahme ihrer Mutter, die inzwischen - aus mit der Tat nicht zusammenhängenden Gründen - verstorben ist. Seit Mitte der 90er Jahre verfügte die Beschwerdeführerin nicht mehr über eine Arbeitsstelle. Daraus lässt sich schliessen, dass sie keine familiären und sozialen Bindungen hat, die sie in der Schweiz halten könnten.
5.3 Gegen die Annahme von Fluchtgefahr sprechen allerdings die finanziellen Verhältnisse der Beschwerdeführerin. Diese ist weitgehend erwerbsunfähig und auf IV-Rentenzahlungen, Ergänzungs- und Sozialhilfeleistungen angewiesen; sie verfügt auch über keine nennenswerten Ersparnisse. Diese finanzielle Situation erschwert zweifellos eine Flucht ins Ausland. Überdies würden bei einem Untertauchen im In- oder Ausland die bisherigen Sozialversicherungsleistungen ausbleiben; die Beschwerdeführerin müsste selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, was sie schon seit über 10 Jahren nicht mehr getan hat.
Zudem ist die Beschwerdeführerin seit Jahren wegen verschiedener Beschwerden in medizinischer Behandlung. Auch deren Fortsetzung wäre bei einer Flucht ins Ausland oder einem Untertauchen im Inland gefährdet.
Schliesslich ergeben sich aus den Akten auch keinerlei Hinweise auf Auslandskontakte der Beschwerdeführerin. Die Tatsache, dass sie die Tatwaffe in Frankfurt a.M. gekauft hat, kann daran nichts ändern, handelte es sich doch lediglich um einen eintägigen Aufenthalt mit eng begrenztem Zweck.
Auch ein längeres Untertauchen im Inland erscheint angesichts des fehlenden Beziehungsnetzes der Beschwerdeführerin und ihrer finanziellen Verhältnisse unwahrscheinlich.
Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Beschwerdeführerin bei einer Entlassung aus der Haft, ohne Wohnung und ohne die Möglichkeit, bei Angehörigen oder Bekannten unterzukommen, vermutlich auf staatliche Hilfe angewiesen sein wird. Derartige fürsorgerischen Erwägungen können jedoch Untersuchungshaft nicht rechtfertigen (vgl. Entscheid 1P.706/1996 vom 23. Januar 1997 E. 2c).
5.4 Zusammenfassend kann zwar eine Flucht der Beschwerdeführerin ins Ausland oder ein Untertauchen im Inland nicht völlig ausgeschlossen werden; eine ernsthafte Gefahr bzw. Wahrscheinlichkeit der Flucht lässt sich dagegen nicht belegen. Insofern ist Fluchtgefahr i.S.v. § 58 StPO/ZH, welche die Anordnung oder Fortdauer von Untersuchungshaft rechtfertigt, zu verneinen.
6.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich damit als begründet.
Nicht geprüft wurde im angefochtenen Entscheid, ob noch der Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr vorliegt, auf den sich die Haftverfügungen vom 19. Februar und 17. Mai 2005 stützten. Überdies hat die Haftrichterin nicht untersucht, ob Ersatzanordnungen in Form der Pass- und Schriftensperre oder der Verpflichtung zu regelmässiger persönlicher Meldung bei einer Amtsstelle (§ 72 StPO/ZH) in Betracht fallen. Bei derartigen Ersatzmassnahmen gelten weniger hohe Anforderungen an die Annahme von Fluchtgefahr als bei der Anordnung von strafprozessualer Haft (Entscheid 1P.704/2004 vom 29. Dezember 2004 E. 4).
Den kantonalen Behörden ist Gelegenheit zu geben, diese Prüfung nachzuholen. Insofern ist von der Anordnung der sofortigen Haftentlassung abzusehen. Die kantonalen Behörden müssen jedoch die noch ausstehenden Fragen unverzüglich prüfen und die Beschwerdeführerin - allenfalls unter gewissen Auflagen - aus der Haft entlassen, sofern Wiederholungsgefahr zu verneinen ist.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung und es sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird somit gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid der Haftrichterin des Bezirksgerichts Zürich vom 23. August 2006 aufgehoben.
2.
Das Gesuch um Haftentlassung wird abgewiesen.
3.
Es werden keine Kosten erhoben.
4.
Der Kanton Zürich hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
5.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 12. Oktober 2006
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: