BGer U 230/2006
 
BGer U 230/2006 vom 16.10.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
U 230/06
Urteil vom 16. Oktober 2006
II. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Borella und Kernen; Gerichtsschreiber Traub
Parteien
K.________, 1965, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Thomas Bolt, Auerstrasse 2, 9435 Heerbrugg,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
(Entscheid vom 1. März 2006)
Sachverhalt:
A.
Die 1965 geborene K.________ arbeitete seit 1991 als Aufbüglerin bei der Firma N.________ SA, welche der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellt ist. Die Versicherte erlitt am 18. September 2002 am Arbeitsplatz bei einem Sturz aus 1,2 Metern Höhe eine Rissquetschwunde der Stirn sowie Frakturen der rechten Speiche (Radius) im Bereich des Handgelenks und des rechten Schulterblatts. Die Radiusfraktur wurde am 20. September 2002 im Spital X.________ operativ behandelt (Plattenosteosynthese; Bericht vom 24. September 2002). Die SUVA übernahm die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggelder).
Am 19. Juni 2003 führte der Kreisarzt Dr. med. C.________ eine Untersuchung durch. Er beurteilte die klinischen Befunde als "recht günstig und erfreulich". Die "überschiessenden Schmerzbekundungen mit Tendenz zur Hyperventilation" wiesen auf eine Fehlverarbeitung mit Chronifizierungstendenz hin. Im Rahmen eines Aufenthalts in der Rehabilitationsklinik Y.________ vom 9. Juli bis 12. August 2003 wurden die sich vom Hand-/Armbereich auf Nacken und Kopf ausweitenden Dauerschmerzen in einen Zusammenhang mit einer Anpassungsstörung (mit Angst und depressiver Reaktion) gestellt (Austrittsbericht vom 21. August 2003). Bei der Abschlussuntersuchung kam der Kreisarzt am 7. Mai 2004 zum Schluss, unter Betrachtung allein der organischen Beeinträchtigung sei eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit auch mit Einsatz des rechten Arms zumutbar; bezüglich der organischen Unfallfolgen bestehe keine Behandlungsbedürftigkeit mehr. Der Integritätsschaden betrage 10 %. Gestützt auf diese Einschätzung stellte die SUVA die Leistungen für Heilbehandlung und die Taggeldleistungen auf den 30. Juni 2004 ein. Mit Verfügung vom 23. Juni 2004 sprach sie der Versicherten mit Wirkung ab Juli 2004 - unter Zugrundelegung allein der organischen Beeinträchtigung - eine Invalidenrente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 10 % und eine Integritätsentschädigung von 10 % zu. Auf Einsprache hin hielt die SUVA an ihrer Beurteilung fest (Entscheid vom 7. März 2005).
B.
K.________ führte vor Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Beschwerde gegen den Einspracheentscheid und beantragte dessen Aufhebung. Die SUVA sei anzuweisen, die psychischen Störungen als adäquat unfallkausal anzuerkennen und sie bei der Invaliditätsbemes-sung sowie der Bestimmung der Integritätsentschädigung zu berücksichtigen. Eventualiter beantragte die Versicherte, die Sache sei zur ergänzenden Abklärung und erneuten Beurteilung an die SUVA zurückzuweisen und die auf den 30. Juni 2004 eingestellten Taggeldleistungen seien fortzusetzen. Das kantonale Gericht wies das Rechtsmittel mit Entscheid vom 1. März 2006 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ den vorinstanzlich gestellten Antrag erneuern.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitgegenstand ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf die gesetzlichen Versicherungsleistungen (Invalidenrente, Integritätsentschädigung). Die natürliche Kausalität (BGE 129 V 181 Erw. 3.1 mit Hinweisen) des Unfalls vom 18. September 2002 im Verhältnis zu den persistierenden Beschwerden wird angesichts der Aktenlage von keiner Seite in Frage gestellt. Es rechtfertigt sich daher, die Überprüfung auf die umstrittene Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und dem entstandenen psychischen Gesundheitsschaden bzw. der sich daraus ergebenden Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit zu beschränken.
2.
Vorinstanz und Verwaltung haben die Rechtsprechung zu der für eine Leistungspflicht des Unfallversicherers nach Art. 6 Abs. 1 UVG unter anderem vorausgesetzten adäquaten Ursächlichkeit von natürlich kausalen psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133; vgl. auch 129 V 177, 402, 127 V 102, 125 V 456) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
Die Vorinstanz hat die Adäquanz anhand der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien verneint. Dabei hat sie nicht abschliessend entschieden, ob der - unbestrittenermassen mittelschwere - Unfall aufgrund des tatsächlichen Geschehensablaufs im Grenzbereich zu den leichten Unfällen einzustufen sei, oder, wie die Beschwerdeführerin meint, von einem Unfall im mittleren Bereich auszugehen sei. Eine abschliessende Qualifizierung des Schweregrades erübrigt sich denn auch, da, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, keines der Kriterien mit hinreichender Klarheit erfüllt ist.
3.1 Der Vorinstanz ist zunächst darin beizupflichten, dass keine besonders dramatischen Begleitumstände und keine besondere Eindrücklichkeit des Unfalls vorlagen. Die Beschwerdeführerin verweist darauf, beim Sturz aus ca. 1,2 Metern Höhe sei sie mit dem Kopf und der rechten Schulter auf dem Betonboden aufgeprallt. Danach habe sie starke Schmerzen verspürt und sei wegen Verdachts auf eine Rückenmarkverletzung mit der Rettungsflugwacht ins Spital X.________ eingeliefert worden. Infolge des Unfalls hätten sich später bei ihr Angstzustände manifestiert, die auf die besondere Dramatik des Unfalls zurückzuführen seien.
Bei der Adäquanzbeurteilung ist zwar auf eine weit gefasste Bandbreite von Versicherten abzustellen, wozu auch Personen gehören, welche im Hinblick auf die erlebnismässige Verarbeitung eines Unfalls zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko gehören, weil sie aus versicherungsmässiger Sicht auf einen Unfall nicht optimal reagieren (BGE 115 V 135 Erw. 4b). Die Frage, ob sich das Unfallereignis und eine psychische Beeinträchtigung im Sinne eines adäquaten Verhältnisses von Ursache und Wirkung entsprechen, ist indes unter anderem im Hinblick auf die Gebote der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Behandlung der Versicherten anhand einer objektivierten Betrachtungsweise zu prüfen (BGE 115 V 139 Erw. 6 mit Hinweisen; RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313 [U 248/98]). Dementsprechend ist im Zusammenhang mit dem Kriterium der besonders dramatischen Begleitumstände oder der besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls nicht auf das subjektive Erleben abzustellen, sondern auf die objektive Eignung der Umstände, bei den Betroffenen psychische Beeinträchtigungen auszulösen (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 209 Erw. 3b/cc [U 287/97]). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat das Kriterium einer besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls etwa bejaht im Falle eines Zusammenstosses mehrerer Personenwagen in einem Tunnel, bei dem der Lenker des voranfahrenden Fahrzeugs getötet, derjenige des entgegenkommenden Fahrzeugs schwer verletzt und ein Fahrzeug der Tunnelwand entlang hochgetrieben wurde und hierauf in den von der dortigen Ansprecherin gesteuerten Personenwagen stiess; ferner bei einer Auffahrkollision und anschliessendem Zusammenstoss mit zwei Fussgängern, wovon einer auf die Kühlerhaube des Fahrzeugs gehoben und anschliessend auf die Strasse geschleudert wurde, bei einem Unfall wegen eines geplatzten Reifens auf der Autobahn, wobei das Fahrzeug ins Schleudern geriet, in eine Fahrbahnabschrankung prallte, sich überschlug und auf dem Dach liegend zum Stillstand kam und bei der Kollision eines Lieferwagens mit einem mit erheblich übersetzter Geschwindigkeit herannahenden Motorradfahrer, welcher am Tag nach dem Unfall seinen schweren Verletzungen erlag (Urteil K. vom 15. November 2004, U 306/03, mit Hinweisen auf die Kasuistik). Im vorliegenden Fall fehlt es an vergleichbaren Umständen.
3.2 Von schweren oder besonders gearteten Verletzungen, welche geeignet sind, eine psychische Fehlentwicklung der eingetretenen Art auszulösen, kann angesichts der erlittenen Frakturen nicht gesprochen werden. Die Knochenbrüche heilten als solche komplikationslos aus (vgl. - hinsichtlich der Folgen der Radiusfraktur - der Bericht des Spitals X.________ vom 21. Mai 2003).
3.3 Bezüglich der Dauer der aus organischen Gründen indizierten ärztlichen Behandlung ergeben sich aus den Akten keine Auffälligkeiten. Die bei der Osteosynthese vom 20. September 2002 im Bereich des Handgelenks verwendeten Metallteile konnten bereits am 10. März 2003 entfernt werden. Wie die Vorinstanz zu Recht feststellte, handelte es sich bei diesem Eingriff um eine routinemässige Folgeoperation, welche nicht einen postoperativ verzögerten Heilungsverlauf verkörpert. Die anschliessenden Untersuchungen in der Klinik für Orthopädische Chirurgie des Spitals X.________ waren reine Kontrolluntersuchungen. Laut Austrittsbericht der Rehaklinik Y.________ vom 21. August 2003 wurde im Sommer 2003 bereits eine "Anpassungsstörung mit im Vordergrund stehender Angst und daneben auch depressiver Reaktion" festgestellt. In der physiotherapeutischen Einzelbehandlung sei schnell ersichtlich geworden, dass die diffusen Schmerzen in der ganzen rechten oberen Extremität nicht auf eine organisch-strukturelle Grundlage zurückzuführen gewesen seien. Es zeigten sich subsyndromale Manifestationen einer somatoformen Schmerzstörung, gegen welche organische Therapien nicht zu helfen vermöchten. Demnach überlagerte die psychische Beeinträchtigung die körperliche Genesung schon bald. Insofern ist nicht von einer ungewöhnlichen Dauer der ärztlichen Behandlung auszugehen.
3.4 Auch die Kriterien betreffend einer (hinsichtlich Grad und Dauer) erheblichen, physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit sowie betreffend körperlicher Dauerschmerzen rechtfertigen nicht, dem versicherten Unfall eine massgebende Bedeutung für die psychogene Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit der Beschwerdeführerin zuzuschreiben. Weitere unfallbezogene Umstände, welche erfahrungsgemäss eine psychische Fehlreaktion begünstigen könnten, sind nicht ersichtlich.
3.5 Nach dem Gesagten ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen den verbliebenen Beschwerden und dem Unfall vom 18. September 2002 zu verneinen, weshalb die Vorinstanzen die psychischen Leiden bei der Bemessung des Invaliditätsgrads sowie des Integritätsschadens zu Recht unberücksichtigt gelassen haben. Dementsprechend entfallen auch die beantragten weiteren Abklärungen medizinischer und erwerblicher Art über die Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf die Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit der Beschwerdeführerin.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 16. Oktober 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: