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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
I 237/06
Urteil vom 5. Januar 2007
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Ferrari,
Gerichtsschreiber Hadorn.
Parteien
R.________, 1996,
Beschwerdeführer,
handelnd durch seine Eltern, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Franz Peter Boutellier, Bahnhofstrasse 8, 5080 Laufenburg,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde [OG] gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Januar 2006.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 25. August 2004 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau das Gesuch des R.________ (geb. am 1. Oktober 1996) um medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 4. Mai 2005 fest.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. Januar 2006 ab.
C.
R.________, vertreten durch seine Eltern, lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es seien ihm medizinische Massnahmen zuzusprechen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw. 1.2).
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössisches Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Vorschriften zum Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 1 ff. GgV), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), die Verwaltungsweisungen (Rz 404.5 KSME) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zutreffend sind auch die Ausführungen zu den medizinischen Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 IVG) und bei Personen vor vollendetem 20. Altersjahr im Besonderen (Art. 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG) und der diesbezüglichen Rechtsprechung (BGE 105 V 20; vgl. auch BGE 131 V 21 Erw. 4.2).
3.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang. Die Vorinstanz verneinte diesen hauptsächlich mit der Begründung, von den in Rz 404.5 KSME genannten Symptomen liege jedenfalls dasjenige der perzeptiven und kognitiven Wahrnehmungsstörung nicht in der hinreichenden Schwere vor. Ob auch die Merkfähigkeitsstörung fehle, liess das kantonale Gericht offen. Ausserdem verneinte es einen Anspruch nach Art. 12 und 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG.
3.1 Gemäss Bericht des Diplompsychologen O.________, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, vom 4. September 2004 sei das Beschwerdebild klar umschrieben und liessen die Testbefunde keinerlei Zweifel am Bestehen von Antriebs-, Wahrnehmungs- und Merkfähigkeitsstörungen aufkommen. Zu den Wahrnehmungsstörungen schrieb der Psychologe, dass der Versicherte komplett überfordert gewesen sei, visuelle und auditive Informationen altersentsprechend parallel zu verarbeiten. Zur Merkfähigkeit führt der Psychologe aus, im Candit-Subtest "Block span" habe der Versicherte eine deutlich von der Norm abweichende Leistung erbracht. Eine "schwere Störung" der figural-konstruktiven Merkspanne habe testmässig objektiviert werden können. Die Störung der verbalen Merkfähigkeit sei im Lern- und Gedächtnistest nachgewiesen worden, in welchem der Versicherte lediglich zwei von fünfzehn Wörtern habe reproduzieren können, was keiner normgerechten Leistung entspreche. Die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang seien kumulativ erfüllt und belegt.
3.2 Nachdem der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) die Diagnose eines angeborenen POS trotz dieses Berichts als unsicher bezeichnete und die IV-Stelle demzufolge einen ablehnenden Einspracheentscheid fällte, liess der Beschwerdeführer einen Bericht des Dr. med. T.________, Spezialarzt FMH für Kinder und Jugendliche, vom 5. August 2005 nachreichen. Darin spricht der Arzt von nachgewiesenen Wahrnehmungsauffälligkeiten gepaart mit Defiziten der Aufmerksamkeitsleistung und der Exekutivfunkionen. Den grössten Teil der kognitiven Leistungen habe der Knabe im guten Durchschnittsbereich, zum Teil auch im oberen bis überdurchschnittlichen Bereich erfüllt. In Anbetracht seiner intellektuellen Fähigkeiten seien die rein testmässig erfassten Wahrnehmungsdefizite dennoch erheblich. Es sei nicht zulässig, die Wahrnehmung des Kindes als nicht relevant gestört zu bezeichnen. Ferner sei unhaltbar, dass die Diagnose noch nicht gestellt werden könne. Zusammengefasst lägen Störungen vor, die auch heute noch ohne Stimulanzientherapie deutlich, wenn auch nicht mehr so erheblich wie früher, die Kriterien für das GG 404 "frühkindliches POS" kumulativ erfüllten.
3.3 Gestützt auf diesen Bericht kam der Regionale Ärztliche Dienst gemäss der Vernehmlassung der IV-Stelle im kantonalen Prozess zum Schluss, dass das Geburtsgebrechen Nr. 404 nunmehr ausgewiesen sei. Unklar bleibe, ab welchem Zeitpunkt alle entsprechenden Symptome vorgelegen hätten. Die Vorinstanz erwog indessen, dass eine Wahrnehmungsstörung nicht mit rechtsgenüglicher Intensität ausgewiesen sei, gebe doch Dr. med. T.________ an, der Versicherte habe die kognitiven Leistungen im Durchschnitts- und im überdurchschnittlichen Bereich erbracht, weshalb keine schwerwiegende Wahrnehmungsstörung vorliegen könne. Daher könne offen bleiben, ob auch eine erhebliche Merkfähigkeitsstörung fehle. Die Symptome eines angeborenen POS seien nicht alle kumulativ gegeben.
3.4 Die Würdigung der Vorinstanz vermag nicht zu überzeugen. Angesichts der deutlichen, auf Grund von Tests objektivierten Defizite, wie sie in den Berichten des Psychologen O.________ vom 4. September 2004 und des Dr. med. T.________ vom 5. August 2005 beschrieben werden, ist die gesamte POS-Symptomatik gemäss Rz 404.5 KSME nachgewiesen. Wer, wie der Versicherte gemäss dem Psychologen, "komplett überfordert" ist, auditive und visuelle Wahrnehmungen parallel zu verarbeiten, leidet an einer objektivierten und nicht leicht zu nehmenden Wahrnehmungsstörung. Auch bei der Merkfähigkeit haben die vom Psychologen durchgeführten Tests erhebliche Defizite messbar gemacht. Dr. med. T.________ bestätigt diese im Ergebnis, und selbst der RAD hat dem beigepflichtet. Unter solchen Umständen vermögen die vom kantonalen Gericht vorgebrachten Gründe ein Abweichen von den übereinstimmenden ärztlichen Einschätzungen nicht zu rechtfertigen. Die Sache wird daher an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie den Beginn der Leistungen festlege und hernach über den Anspruch auf medizinische Massnahmen erneut verfüge.
4.
Was das BSV hiegegen in seiner Vernehmlassung vorbringt, vermag zu keinem anderen Ergebnis zu führen.
4.1 Das Bundesamt macht in erster Linie geltend, es liege lediglich ein Symptomenkomplex vor, welcher auf einen Grossteil der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend gemäss ICD-10 F 90-98 zutreffe. Zu einem POS gehöre aber ein hirnorganischer Schaden als Ursache für die psychischen Störungen. Ein solcher sei nicht ausgewiesen. Gemäss heutigen medizinischen Erkenntnissen resultiere ein POS in der Regel als Folge einer schwerwiegenden Erkrankung während der Schwangerschaft oder einer Komplikation während der Geburt. Dadurch könne die Diagnose einer hirnorganischen Störung meist relativ rasch, nämlich bereits intrauterin oder kurz nach der Geburt, gestellt werden. Nur wenn ein kongenitaler hirnorganischer Schaden nachgewiesen sei, könne die Diagnose eines POS im Sinne der Ziff. 404 GgV Anhang gestellt werden. Es sei daher an Hand von präpartalen Untersuchungsbefunden, Geburtsprotokollen oder kinderärztlicher Untersuchungen in den ersten Tagen nach der Geburt zu prüfen, ob die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer bei Geburt bestehenden Hirnschädigung vorliege. Bei komplikationsloser Schwangerschaft, problemloser Geburt und unauffälligen kinderärztlichen Untersuchungsbefunden könne eine kongenitale hirnorganische Schädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
4.2 Nach der vom BSV selbst formulierten Rz 404.5 KSME können die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang als erfüllt gelten, wenn die darin genannten Symptome vorliegen. Der Nachweis eines hirnorganischen Schadens auf Grund der bei der Geburt erstellten medizinischen Unterlagen wird in dieser Rz nicht gefordert. In der bisherigen Rechtsprechung war ebenfalls noch nie die Rede davon, dass medizinische Akten aus der Zeit der Geburt beigezogen und an Hand derselben auf das Vorliegen eines hirnorganischen Schadens geschlossen werden müsse. Vielmehr hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt bestätigt, dass das rechtzeitige Vorliegen der Symptome gemäss Rz 404.5 KSME (in Verbindung mit einem rechtzeitigen Behandlungsbeginn) für die Leistungspflicht der Invalidenversicherung bei einem angeborenen POS ausreicht (SVR 2005 IV Nr. 2 S. 8 [Urteil B. vom 3. Mai 2004, I 756/03], Urteil Z. vom 2. Mai 2002, I 373/01). Umgekehrt schaffen fehlende rechtzeitige Diagnose oder fehlender rechtzeitiger Behandlungsbeginn die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass das POS nicht angeboren ist (BGE 122 V 122 f. Erw. 3c/bb). Wenn das BSV nunmehr zur Anerkennung eines POS nach Ziff. 404 GgV Anhang den Nachweis einer hirnorganischen Störung gestützt auf die Unterlagen aus der Zeit der Geburt verlangt, kommt dies einer Verschärfung der bisherigen Beweisanforderungen gleich. Hiezu besteht jedoch kein Anlass. Die vom BSV eingereichten wissenschaftlichen Unterlagen sind nicht geeignet, einer solchen Verschärfung das Wort zu reden. Namentlich findet sich darin keine Aussage in dem Sinne, dass sich mit medizinischen Akten aus der Geburtszeit ein hirnorganischer Schaden leicht nachweisen lasse, wie das BSV geltend macht. Vielmehr ist unter dem Kapitel "2. Störungsspezifische Diagnostik" zu lesen, dass die Bedeutung der Lokalisation von Hirnschädigungen im Kindesalter kontrovers diskutiert werde. Als gesichert könne angesehen werden, dass die klassischen hirnlokalen Ausfälle und Syndrome erst in der Adoleszenz einigermassen sicher diagnostiziert werden könnten. Gemäss den vom BSV beigelegten Unterlagen scheint ausserdem die Vererbung eine grössere Rolle als Ursache eines POS zu spielen als schädigende Einflüsse (z.B. Sauerstoffmangel, Infektionen, Umweltgifte etc.) in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten. Unter solchen Umständen ist nicht erstellt, dass der Nachweis eines angeborenen POS mit dem Beizug medizinischer Akten über die Geburt zuverlässig erbracht werden kann.
4.3 Dem Standpunkt des BSV kann aus einem weiteren Grund kein Erfolg bescheiden sein. Der Verordnungsgeber lässt es zu, dass POS noch während Jahren erst nach der Geburt als solche erkannt, diagnostiziert, behandelt und zwecks Therapie als Geburtsgebrechen bei der Invalidenversicherung zur Anmeldung gebracht werden können. Mit der neuen Betrachtungsweise des BSV wird der Rechtssinn von Ziff. 404 GgV Anhang in Frage gestellt. Solange die Verordnung nicht geändert ist, kann eine Beschränkung auf kurze Zeit nach der Geburt manifest gewordene POS, wie es das BSV vertritt, nicht in Frage kommen. Das Ganze wurde vom Eidgenössischen Versicherungsgericht im soeben ergangenen Urteil K. vom 6. Dezember 2006, I 223/06, bestätigt. Demnach hängt der Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang wie bisher einzig davon ab, ob die in Rz 404.5 KSME genannten Symptome vor dem vollendeten 9. Altersjahr nachweisbar waren und mit der Behandlung des Leidens vor diesem Zeitpunkt begonnen wurde.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Januar 2006 und der Einspracheentscheid vom 4. Mai 2005 aufgehoben, und es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Entschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Entschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 5. Januar 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: