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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
U 346/05
Urteil vom 20. Februar 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, nebenamtlicher Richter Brunner,
Gerichtsschreiber Grunder.
Parteien
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
S.________, 1971, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Ineichen, Weggisgasse 29, 6004 Luzern.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 8. August 2005.
Sachverhalt:
A.
Der 1971 geborene S.________ war seit Juli 1995 als Parkettleger bei der Firma X.________ AG angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Mit Formular "Unfallmeldung UVG" vom 9. September 2003 teilte die Arbeitgeberin der SUVA mit, der Versicherte habe sich am 3. September 2003 einen Gesundheitsschaden am Rücken zugezogen. Der am 4. September 2003 konsultierte Dr. med. A.________ stellte einen ausgeprägten paravertebralen Muskelhartspann lumbal links sowie Schmerzen im ISG (Iliosakralgelenk) beidseits fest (Bericht "Arztzeugnis UVG" vom 12. November 2003). Eine radiologische Untersuchung ergab eine Diskusprotrusion L5/S1 mit möglicher Irritation der Nervenwurzeln ohne eigentliche Kompression neuraler Strukturen (Bericht des Paraplegiker Zentrums Y.________, Institut für Radiologie, vom 29. September 2003). Gestützt auf diese Unterlagen sowie einen vom Versicherten am 22. September 2003 unterzeichneten Fragebogen zum Unfallhergang verneinte die SUVA eine Leistungspflicht mit der Begründung, es liege weder ein Unfall noch eine unfallähnliche Körperschädigung vor; es handle sich um Beschwerden krankhafter Natur (im Volksmund unter dem Begriff "Hexenschuss" bekannt; Verfügung vom 16. Dezember 2003). Auf Einsprache hin befragte die SUVA den Versicherten persönlich (Aktennotiz vom 4. Februar 2004; protokollarischer Bericht vom 18. Mai 2004) und holte eine Stellungnahme des Dr. med. B.________, Kreisarzt, vom 6. Februar 2004 sowie weitere Auskünfte und Unterlagen bei Dr. med. A.________ (Aktennotiz der Besprechung vom 18. Mai 2004; Krankengeschichte für den Zeitraum vom 4. bis 22. September 2003; Bericht des Dr. med. K.________, Chiropraktor SCG/ECU, vom 20. November 2003) ein. Mit Einspracheentscheid vom 15. Juli 2004 bestätigte die SUVA die Verfügung vom 16. Dezember 2003.
B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher u.a. ein nicht adressiertes, "Bestätigung" genanntes Schreiben der Firma X.________ AG vom 15. September 2004 aufgelegt wurde, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, nach Einvernahme von M.________ als Zeugen, in dem Sinne gut, dass die Leistungspflicht der SUVA aus dem Unfall vom 3. September 2003 zu bejahen sei (Entscheid vom 8. August 2005).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
S.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 E. 1.2).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob das Ereignis vom 3. September 2003 einen Unfall im Rechtssinne darstellt.
2.1 Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG). Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er den Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreitet. Nach Rechtsprechung und Literatur kann der ungewöhnliche äussere Faktor in einer unkoordinierten Bewegung des Körpers bestehen. Er liegt in derartigen Fällen darin, dass die Bewegung durch etwas "Programmwidriges" gestört wird (vgl. BGE 130 V 116 E. 2.1 S. 181 mit Hinweisen). Dies ist etwa dann der Fall, wenn die versicherte Person stolpert, ausgleitet oder an einem Gegenstand anstösst oder wenn sie, um ein Ausgleiten zu verhindern, eine reflexartige Abwehrbewegung ausführt oder auszuführen versucht (vgl. Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 219/95 vom 13. Mai 1995, E. 4c, publ. in: RKUV 1996 Nr. U 253 S. 204; Alfred Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1989, S. 176 f.).
2.2 Praxisgemäss sind die einzelnen Umstände des Unfallgeschehens glaubhaft zu machen. Kommt die Person, die eine Leistung verlangt, dieser Forderung nicht nach, indem sie unvollständige, ungenaue oder widersprüchliche Angaben macht, die das Bestehen eines unfallmässigen Schadens als unglaubwürdig erscheinen lassen, besteht keine Leistungspflicht der Unfallversicherung. Im Streitfall obliegt es dem Gericht zu beurteilen, ob die einzelnen Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllt sind. Der Untersuchungsmaxime entsprechend hat es von Amtes wegen die notwendigen Beweise zu erheben und kann zu diesem Zwecke auch die Parteien heranziehen. Wird aufgrund dieser Massnahmen das Vorliegen eines Unfallereignisses nicht wenigstens mit Wahrscheinlichkeit erstellt - die blosse Möglichkeit genügt nicht -, so hat dieses als unbewiesen zu gelten, was sich zu Lasten der den Anspruch erhebenden Person auswirkt (BGE 116 V 136 E. 4b S. 140, 114 V 298 E. 5b S. 305, 111 V 197 E. 6b S. 201; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 252/02 vom 30. März 2004, E. 4., publ. in: RKUV 2004 Nr. U 518 S. 435).
2.3 Bei sich widersprechenden Angaben der versicherten Person über den Unfallhergang ist auf die Beweismaxime abzustellen, wonach die so genannten spontanen "Aussagen der ersten Stunde" in der Regel unbefangener und zuverlässiger sind als spätere Darstellungen, die bewusst oder unbewusst von nachträglichen Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein können. Wenn die versicherte Person ihre Darstellung im Laufe der Zeit wechselt, kommt den Angaben, die sie kurz nach dem Unfall gemacht hat, meistens grösseres Gewicht zu als jenen nach Kenntnis einer Ablehnungsverfügung des Versicherers (BGE 121 V 45 E. 1a S. 47 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 130 III 321 E. 5 S. 328, 130 V 116 E. 2.2.7 S. 120).
3.
3.1
3.1.1 In der "Unfallmeldung UVG" vom 9. September 2003 schrieb die Arbeitgeberin unter der Rubrik "Unfallbeschreibung": "Transportieren von Parkettcolis". Dem vom Beschwerdegegner am 22. September 2003 unterzeichneten Fragebogen der SUVA ist zum fraglichen Ereignis zu entnehmen: "Beim Tragen der Pakete in die Wohnung verspürte ich einen plötzlichen Schmerz im Rücken, welcher mich zur sofortigen Einstellung der Arbeiten zwang." Dr. med. A.________ hielt im Bericht "Arztzeugnis UVG" vom 12. November 2003 unter dem Titel "Angaben des Patienten" fest: "Bei Drehbewegung mit 20 kg Paket akuter Schmerz lumbal links, so dass der Patient nicht mehr gehen konnte und nur in gebeugter Stellung stehen konnte." Der Eintrag vom 4. September 2003 der Krankengeschichte dieses Arztes lautet: "Akute Lumbago li paravertebral mit massivem Hartspann. Kann nicht aufrecht gehen. Bei Drehbewegung mit 20 kg Paket Blockade." Im Bericht vom 20. November 2003 bezeichnete Dr. med. K.________ ein Verhebetrauma als Ursache der Beschwerden.
3.1.2 Gemäss Aktennotiz der SUVA vom 4. Februar 2004 wollte der Versicherte am 3. September 2003 ein Parkettcolis auf einen Schubkarren heben. Dabei sei er mit dem linken Bein ausgerutscht und rücklings auf den Schubkarren gefallen. Er habe sofort starke Rückenschmerzen verspürt. Am 18. Mai 2004 gab er der SUVA zu Protokoll: "Dann nahm ich ein weiteres Paket und machte damit einen langen Schritt über die mit Leim bestrichene Fläche. Dabei glitt ich mit dem linken Fuss aus und bin auf den 'Bode abe gheit', das heisst ich fiel auf den Parkettboden und landete auf dem 'Födli'. Den Sturz konnte ich nicht abfangen, da ich das Parkettpaket in den beiden Händen hielt. ... Meinen Sturz sah niemand direkt, da Arbeitskollege M.________ im anderen Zimmer arbeitet(e)." Der im vorinstanzlichen Verfahren als Zeuge einvernommene M.________ bestätigte die Aussagen des Beschwerdegegners insoweit, dass er diesen auf dem Boden liegend mit dem Parkettpaket auf dem rechten Oberschenkel angetroffen habe. Den Sturz konnte er nicht sehen, weil er im Nebenzimmer arbeitete, er hörte jedoch, dass etwas auf den Boden fiel und der Versicherte schrie.
3.2
3.2.1 Die Vorinstanz geht gestützt auf die Darstellung des Versicherten gemäss protokollarischem Bericht der SUVA vom 18. Mai 2004 und die Aussagen des Zeugen M.________ davon aus, dass am 3. September 2003 ein Sturz und dementsprechend ein Unfall erfolgt sei. Sie begründet ihren Standpunkt insbesondere damit, die SUVA habe es versäumt, den Sachverhalt rechtzeitig abzuklären. Implizit nimmt sie demnach an, der Beschwerdegegner habe den Beweis aus Gründen nicht (rechtzeitig) erbringen können, die nicht von ihm, sondern von der SUVA zu verantworten sind. Dieser Auffassung ist nicht beizupflichten. Aufgrund der bis zum Zeitpunkt der Ablehnungsverfügung vorgelegenen Unterlagen bestand kein Anlass, einen Sturz anzunehmen. Vielmehr ergaben sich aus der Unfallmeldung vom 9. September 2003, dem Fragebogen des Versicherten vom 22. September 2003 und dem Bericht "Arztzeugnis UVG" des Dr. med. A.________ vom 12. November 2003, dass beim Tragen eines Parkettcolis plötzlich ein Schmerz auftrat. Dieser fand in der ärztlich diagnostizierten Diskusprotrusion L5/S1 eine plausible Erklärung. Zudem stellte Dr. med. A.________ keine Prellungen an Gesäss oder Rücken fest (vgl. auch Stellungnahme des Dr. med. B.________ vom 6. Februar 2004). Unter diesen Umständen lag vor dem Zeitraum des Erlasses der Verfügung vom 16. Dezember 2003 und der dagegen erhobenen Einsprache kein Grund zu ergänzenden Abklärungen des Sachverhalts vor.
3.2.2 Der Beschwerdegegner bringt in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor, er habe erst nach der Ablehnungsverfügung vom 16. Dezember 2003 Kenntnis von den zuvor erstellten schriftlichen Belegen erhalten. Es könne daher mangels Authentizität nicht von Aussagen der ersten Stunde gesprochen werden. Erst am 4. Februar 2004 habe er anlässlich der Vorsprache bei der SUVA den Unfallhergang, wie er sich tatsächlich zugetragen habe, schildern können. Richtig ist, dass die Arbeitgeberin den Fragebogen "Unfallmeldung UVG" vom 9. September 2003 selber ausfüllte und im vorinstanzlich eingereichten Schreiben vom 15. September 2004 bestätigte, dass sie den Fragebogen der SUVA vom Versicherten blanko unterzeichnen liess (22. September 2003) und danach gestützt auf dessen per Telefon durchgegebenen Angaben beantwortete. Indessen ist zum einen angesichts der in der zweitgenannten Stellungnahme enthaltenen, klar abgefassten Passage "Beim Tragen der Pakete in die Wohnung verspürte ich einen plötzlichen Schmerz im Rücken, welcher mich zur sofortigen Einstellung der Arbeiten zwang" ein Missverständnis zwischen dem Versicherten und der Arbeitgeberin nicht wahrscheinlich. Der Verfasser des Schreibens vom 15. September 2004 räumt zwar ein, dass er allenfalls nicht alles richtig verstanden und möglicherweise etwas unklar formuliert habe; er distanziert sich aber nicht von den gemachten Angaben und gibt auch nicht zu bedenken, der Vorfall könnte sich wesentlich anders als von ihm dargelegt ereignet haben. Insbesondere fehlt ein Hinweis auf einen erfolgten Sturz. Zum anderen ist festzuhalten, dass der ärztlichen Anamnese zum Vorfall vom 3. September 2003, welche mit der Berichterstattung der Arbeitgeberin im Wesentlichen übereinstimmt, ebenfalls die Aussagen des Versicherten zugrunde liegen. Auch den ärztlichen Unterlagen, insbesondere dem Eintrag vom 4. September 2003 in der Krankengeschichte des Dr. med. A.________, ist kein Anhaltspunkt zu entnehmen, welcher darauf schliessen liesse, der Versicherte sei ausgeglitten und gestürzt. Darauf angesprochen gab dieser Arzt der SUVA zur Antwort, ein konkretes Unfallereignis wie einen Sturz oder ein Anschlagen des Körpers habe der Patient ihm gegenüber nie geschildert. Er nehme erstmals zur Kenntnis, dass der Versicherte mit dem linken Bein ausgerutscht und auf den Rücken gefallen sei (Aktennotiz der Besprechung vom 18. Mai 2005). Die divergenten Darstellungen des Ereignisses vom 3. September 2003 vor und nach der Ablehnungsverfügung vom 16. Dezember 2003 legen nach dem Gesagten die Annahme nahe, dass die späteren Angaben des Beschwerdegegners von Überlegungen versicherungsrechtlicher Art beeinflusst waren. Daran ändern die Aussagen des Zeugen M.________ nichts, welcher den am Boden liegenden Versicherten, nicht aber dessen geltend gemachten Sturz gesehen hat. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung kann zur Beurteilung des Sachverhalts nicht auf die Darstellung des Beschwerdegegners vom 18. Mai 2004 abgestellt werden. Vielmehr ist aufgrund seiner vor Erlass der Ablehnungsverfügung vom 16. Dezember 2003 aktenkundig gewordenen Aussagen anzunehmen, dass er beim Heben oder Tragen einer schweren Last ein Verhebetrauma erlitt, ohne dabei durch etwas "Programmwidriges" gestört worden zu sein (Erw. 2.1). Eine unfallähnliche Körperschädigung liegt nicht vor, was unbestritten ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 8. August 2005 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 20. Februar 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: