Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
U 169/06
Urteil vom 12. März 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Krähenbühl.
Parteien
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Guido Ehrler, Rebgasse 1, 4058 Basel,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 20. Februar 2006.
Sachverhalt:
A.
Der 1951 geborene A.________ leidet zufolge jahrelangen Baumaschinenlärms beidseits an einer hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit im Hochtonbereich. Zudem liegen ein linksbetonter Dauertinnitus und als Folge davon Schlafstörungen nachts mit Konzentrationsschwierigkeiten jeweils am folgenden Tag vor. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) anerkannte die Hörschädigung als Berufskrankheit und sprach A.________ mit Verfügung vom 22. Dezember 1993 eine Entschädigung für eine 30 %ige Integritätseinbusse zu, welche sie am 29. Oktober 1997 zufolge Zunahme des Hörschadens um 10 % erhöhte. Am 2. Juni 1998 erliess sie eine Nichteignungsverfügung, gemäss welcher A.________ für alle Arbeiten im gehörgefährdenden Lärm nicht geeignet sei. Da die Arbeitgeberfirma keine lärmfreie Einsatzmöglichkeit anbieten konnte, kam es in der Folge zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Nachdem sich A.________ auch bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet hatte und die laufenden Abklärungen eine anhaltende Verschlechterung des Hörvermögens ergeben hatten, sprach die IV-Stelle des Kantons Solothurn insbesondere gestützt auf einen Bericht der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Y.________ vom 9. September 2002 mit Verfügung vom 28. April 2003 rückwirkend ab 1. November 2000 eine Invalidenrente auf der Grundlage einer 62 %igen Erwerbsunfähigkeit zu. Daran hielt sie im Ergebnis - nunmehr von einem 63 %igen Invaliditätsgrad ausgehend - mit Einspracheentscheid vom 26. Februar 2004 fest. Die SUVA ihrerseits hatte nach diversen Abklärungen jeweils ratenweise Übergangsentschädigungen ausgerichtet (Schreiben vom 22. Juli 1999, 5. Juni 2000 und 28. Januar 2002). Im Hinblick auf die erwartete Rente der Invalidenversicherung ermittelte sie eine Rückforderung über Fr. 12'666.- und kündete am 28. Februar 2003 verfügungsweise eine Verrechnung dieses Betrages mit den ausstehenden Leistungen der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 25. April 2003 verneinte sie einen Rentenanspruch, woran sie mit Einspracheentscheid vom 30. Juni 2004 festhielt; gleichzeitig lehnte sie auch das am 2. April 2003 gestellte Gesuch um Erlass der Rückerstattungsschuld ab.
B.
Beschwerdeweise liess A.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Zusprechung einer Rente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 65 % beantragen; zudem sei die Sache zur Behandlung seines Erlassgesuchs an die SUVA zurückzuweisen; eventuell sei dieses zu bewilligen. Das kantonale Gericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 20. Februar 2006 teilweise gut und wies die Sache an die SUVA zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und hierauf neu entscheide.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ beantragen, die SUVA sei anzuweisen, ihm mit Wirkung ab 17. Dezember 2002 eine Rente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 63 % auszurichten.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
1.1 Die Kognition des Bundesgerichtes richtet sich daher im Unfallversicherungsbereich noch nach Art. 132 [ab 1. Juli 2006: Art. 132 Abs. 1] OG. Danach ist die Überprüfungsbefugnis im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 Abs. 1 OG in der seit 1. Juli 2006 gültig gewesenen Fassung).
1.2 Wie das kantonale Gericht richtig festgehalten hat, kann die Leistungspflicht des Unfallversicherers auch bei Berufskrankheiten gegeben sein (Art. 6 Abs. 1 UVG), sofern diese in einem natürlichen (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181, 402 E. 4.3.1 S. 406, je mit Hinweisen) und adäquaten (BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181, 402 E. 2.2 S. 405, je mit Hinweis) Kausalzusammenhang mit dem eingetretenen Gesundheitsschaden stehen. Richtig wiedergegeben hat es weiter das Vorgehen bei der Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 UVG; Art. 18 Abs. 2 UVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; vgl. BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f., 128 V 29 E. 1 S. 30 f., 104 V 135 E. 2a und b S. 135 f.), die dabei den ärztlichen Arbeitsfähigkeitsschätzungen zukommende Bedeutung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261 mit Hinweisen) und die nach der Rechtsprechung bei der beweismässigen Auswertung medizinischer Berichte zu beachtenden Grundsätze (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Dasselbe gilt hinsichtlich des im Unfallversicherungsbereich geltenden Beweisgrades der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360 mit Hinweisen), des zu beachtenden Untersuchungsgrundsatzes (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195 mit Hinweisen) und der sich daraus für den Fall einer Beweislosigkeit ergebenden Beweis(last)regel (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264 mit Hinweisen).
2.
2.1 Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, das kantonale Gericht hätte die SUVA verpflichten müssen, denselben Invaliditätsgrad anzunehmen, welchen die Invalidenversicherung in ihrem Einspracheentscheid vom 26. Februar 2004 anerkannt hatte. Zur Begründung dieser Argumentation beruft er sich auf BGE 126 V 288.
2.2 Die Vorinstanz hat die Erwägungen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in BGE 126 V 288 zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Wie sie des Weitern richtig erkannte, stimmen die medizinischen Berichte bezüglich des somatischen Befundes überein, während hinsichtlich allfälliger noch zumutbarer Verweisungstätigkeiten erhebliche Differenzen bestehen. So wird im Bericht der MEDAS vom 9. September 2002, welches der Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zugrunde liegt, festgehalten, der Versicherte leide auf Grund des Tinnitus unter Schlafstörungen in der Nacht und tagsüber unter einer ausgesprochenen Müdigkeit, welche dazu führe, dass Konzentrationsstörungen und Probleme mit dem Gedächtnis auftreten; er sei deswegen im angestammten Beruf als Bauarbeiter nicht mehr arbeitsfähig, hingegen bei Tätigkeiten in einer nicht lärmigen Umgebung, die keine erhöhten Anforderungen an das Gedächtnis oder die Konzentration stellt, zu 40 % oder dreieinhalb Stunden pro Tag einsetzbar. Demgegenüber führt Dr. med. T.________ von der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten im Kantonsspital X.________ am 9. September 2002 aus, eine berufliche Tätigkeit, welche keine differenzierten akustischen Anforderungen stellt, sei zumutbar. Hinsichtlich des möglichen Umfangs solcher Tätigkeiten fehlen nähere Angaben. Präzisere Auskünfte ergeben sich auch nicht aus der Stellungnahme des Dr. med. G.________, Facharzt FMH für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten, von der Abteilung Arbeitsmedizin der SUVA vom 20. Januar 2003, welcher sich lediglich der Beurteilung durch Dr. med. T.________ anschliesst.
2.3 Auf dieser Grundlage verhielt das kantonale Gericht die SUVA, "zur Vervollständigung und präziseren Bewertung des Beschwerdebildes und der verbleibenden Leistungsfähigkeit" medizinische wie auch berufliche Abklärungen durchzuführen, um "auf der Grundlage einer lückenlosen medizinischen Erkenntnislage" nochmals über das verbliebene Leistungsvermögen zu befinden. Dabei, so die Vorinstanz weiter, sei insbesondere auf die Fragen einzugehen, wie die jetzige gesundheitliche Verfassung hinsichtlich des Tinnitus zu bewerten ist, wie sich diese auf die Leistungsfähigkeit auswirkt und ob auf Grund der festgestellten Beschwerden "ein leidensbedingter Abzug" vorzunehmen ist; erst gestützt darauf sei nochmals über den Einfluss der gesundheitlichen Beeinträchtigung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und den sich daraus allenfalls ergebenden Leistungsanspruch zu befinden.
3.
3.1 Entgegen der Argumentation in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist den Überlegungen des kantonalen Gerichts beizupflichten. Zunächst ist festzuhalten, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht schon in BGE 126 V 288 und auch in seiner früheren Rechtsprechung (vgl. BGE 119 V 468) nie derart bestimmt wie nunmehr der Beschwerdeführer in seiner Rechtsschrift erklärt hat, inwiefern die rechtskräftige Invaliditätsschätzung des einen Sozialversicherungsträgers für den anderen bindend ist. Ausgehend von der koordinierenden Funktion des Invaliditätsbegriffs in der Invalidenversicherung einerseits und in der Unfallversicherung (wie auch der Militärversicherung) andererseits hat es in BGE 126 V 288 vielmehr festgehalten, dass die Bemessung der Invalidität für jeden Sozialversicherungszweig grundsätzlich selbstständig vorzunehmen ist (BGE 126 V 288 E. 2a S. 291 f. mit Hinweisen). Mit Bezug auf den gleichen Gesundheitsschaden hat diese im Regelfall zwar zum selben Ergebnis zu führen; gleichzeitig wurden indessen Abweichungen ausdrücklich vorbehalten (BGE 126 V 288 E. 2b S. 292 mit Hinweis). Dem Ansinnen des heutigen Beschwerdeführers wird schon in BGE 126 V 288 deutlich entgegengetreten, indem dort ausgeführt wird, die Versicherer dürften sich keinesfalls ohne weitere eigene Prüfung mit der blossen Übernahme des von einem anderen Versicherer festgelegten Invaliditätsgrades begnügen; zumindest rechtskräftig abgeschlossene Invaliditätsschätzungen dürften allerdings auch nicht einfach unbeachtet bleiben, sondern müssten als Indiz für eine zuverlässige Beurteilung gewertet und als solches in den Entscheidungsprozess erst später verfügender Versicherungsträger mit einbezogen werden (BGE 126 V 288 E. 2d S. 293 f.).
3.2 Schon nach der eben erwähnten Rechtsprechung ist das Begehren des Beschwerdeführers unbegründet. Die Vorinstanz hat klar festgestellt, dass die von der SUVA berücksichtigten medizinischen Berichte, auch wenn es sich bei den Dres. med. T.________ und G.________ um auf Gehörschäden spezialisierte Fachärzte handelt, für sich allein eine Abweichung von dem von der Invalidenversicherung bestimmten Invaliditätsgrad zwar nicht rechtfertigen. Dies schliesst indessen nicht aus, dass die SUVA nicht wie die Invalidenversicherung auf das primär aus internistischem Blickwinkel erstellte MEDAS-Gutachten vom 9. September 2002 abstellt, sondern weitere fachspezifische Stellungnahmen einholt und darüber hinaus allenfalls auch zusätzliche erwerbliche Abklärungen tätigt. Es kann ihr denn auch nicht verwehrt sein, bei ausgewiesenem Bedarf von der Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung abzuweichen, sofern sie dafür triftige Gründe im Sinne von BGE 126 V 288 anführen kann. Aus dem Umstand, dass das kantonale Gericht die Expertise der MEDAS vom 9. September 2002 als "plausibel und sachgerecht" qualifiziert hat, steht dem vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid vom 20. Februar 2006 jedenfalls nicht entgegen, lässt sich doch nicht ausschliessen, dass weitere Abklärungen medizinischer oder erwerblicher Art die SUVA zu einem in zulässiger Weise von der Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung abweichenden Ergebnis führen. Des Gleichen beruht - was auch der Beschwerdeführer einräumt - die vorinstanzliche Feststellung, wonach "das MEDAS-Gutachten nicht umzustossen und damit ein Ansatzpunkt für eine Abweichung von der Invaliditätsschätzung der IV-Stelle nicht gegeben" sei, ausdrücklich auf "der jetzigen medizinischen Aktenlage". Die Möglichkeit, diese durch eigene Abklärungen zu ergänzen, muss der SUVA gewahrt bleiben.
3.3 Kommt hinzu, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht an der Rechtsprechung in BGE 126 V 288 nicht strikt festgehalten, sondern - worauf die SUVA in ihrer der Vorinstanz eingereichten Beschwerdeantwort vom 3. Januar 2006 zu Recht hinweist - etwa in BGE 131 V 362 mit Blick auf das auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretene ATSG eine Bindungswirkung rechtskräftiger Invaliditätsbemessungen der Invalidenversicherung für den Unfallversicherer sogar ausdrücklich verneint hat (BGE 131 V 362 E. 2.2.1 S. 366 f.). Damit hat es eine schon früher in AHI 2004 S. 181 publizierte Rechtsprechung auch für die Zeit nach dem Inkrafttreten des ATSG bestätigt. In dem in AHI 2004 S. 181 veröffentlichten Urteil vom 13. Januar 2004 (I 564/02) ist das Gericht bereits zum Schluss gelangt, dass die Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung gegenüber dem Unfallversicherer mangels rechtserheblichen "Berührtseins" im Sinne des zum 1. Januar 2003 aufgehobenen Art. 129 Abs. 1 UVV (vgl. nunmehr Art. 49 Abs. 4 ATSG) keinerlei Bindungswirkung entfaltet, auch nicht im Sinne einer Richtigkeitsvermutung (AHI 2004 S. 181 E. 4.3 und 4.4). Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angerufene, dem kantonalen Rückweisungsentscheid nicht entgegenstehende (E. 3.2 hievor) Rechtsprechung war damit schon im Zeitpunkt des Erlasses des Einspracheentscheids der SUVA vom 30. Juni 2004 überholt.
4.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der kantonale Rückweisungsentscheid insoweit nicht beanstandet, als die Vorinstanz die SUVA verpflichtet hat, über den Erlass der Rückerstattungsschuld zunächst verfügungsweise zu befinden. Darauf ist nicht weiter einzugehen.
5.
Weil es um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (der Unfallversicherung) ging, fallen auf Grund von Art. 134 OG (Satz 1 in der seit 1. Juli 2006 gültig gewesenen Fassung; vgl. E. 1 hievor [Ingress]) vor dem Bundesgericht keine Verfahrenskosten an.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 12. März 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
i.V.