Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2A.82/2007 /ble
Urteil vom 27. April 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Klopfenstein.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Fäh,
gegen
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld,
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Frauenfelderstrasse 16, 8570 Weinfelden.
Gegenstand
Ausweisung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Dezember 2006.
Sachverhalt:
A.
Der - hauptsächlich in der Schweiz aufgewachsene - türkische Staatsangehörige X.________ (geb. 1981 in Münsterlingen) ist im Besitz der Niederlassungsbewilligung. Nachdem er bereits früh - meist wegen Diebstahls - bestraft werden musste, wurde er am 22. September 1998 ein erstes Mal fremdenpolizeilich verwarnt. Im Jahre 2002 wurde er - u.a. wiederum wegen Diebstahls - vom Bezirksgericht Kreuzlingen zu neun Monaten Gefängnis (unbedingt) verurteilt und später das zweite Mal fremdenpolizeilich verwarnt. Es wurde ihm die Ausweisung aus der Schweiz angedroht, sollte er sich künftig nicht klaglos verhalten. Am 9. Juni 2004 bestrafte ihn das Bezirksgericht Kreuzlingen erneut mit einer unbedingten Gefängnisstrafe von 15 Monaten (u. a. wegen gewerbsmässigen Diebstahls, Sachbeschädigung und Hehlerei). Seit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug wird er von der Sozialhilfe Kreuzlingen unterstützt. Er ist bei der Schweizerischen Invalidenversicherung angemeldet. Gegen ihn bestehen mehrere Verlustscheine.
B.
Aufgrund dieses Sachverhaltes wies das Ausländeramt des Kantons Thurgau X.________ mit Verfügung vom 2. März 2005 für die Dauer von zehn Jahren aus der Schweiz aus. Der Betroffene beschritt hiegegen zunächst erfolglos den kantonalen Rechtsmittelweg. Seine gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 22. März 2006 gerichtete eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Bundesgericht indessen im Sinne der Erwägungen gut, soweit es darauf eintrat: Im Rückweisungsentscheid vom 14. August 2006 (Verfahren 2A.297/2006) hielt das Bundesgericht im Wesentlichen fest, das Verwaltungsgericht habe unter Berücksichtigung des seit der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Strafvollzug zutage gelegten Verhaltens einerseits und der inzwischen offenbar ergangenen IV-Entscheidung und des ihr zugrunde liegenden neuen psychiatrischen Gutachtens über die Verhältnismässigkeit der verfügten Ausweisung neu zu befinden.
C.
Nachdem das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Akten der Eidgenössischen Invalidenversicherung betreffend X.________ beigezogen und bei der Fürsorge Kreuzlingen, dem Bezirksamt Kreuzlingen und beim Migrationsamt des Kantons Thurgau neue Berichte über ihn eingeholt hatte, wies es die Beschwerde mit Entscheid vom 13. Dezember 2006 wiederum ab. Es erwog im Wesentlichen, der Beschwerdeführer habe in krimineller Hinsicht seine Lehren noch nicht voll gezogen. Auch die berufliche Eingliederung sei aufgrund des vorhandenen Gutachtens, welches beim Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstruktur mit paranoiden Zügen diagnostiziere und festhalte, dass er keinem Arbeitgeber zumutbar sei, eine Illusion. Die Ausweisung erweise sich damit auch in Berücksichtigung der neueren Entwicklung als verhältnismässig.
D.
Mit Eingabe vom 29. Januar 2007 führt X.________ erneut Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht mit den Anträgen, den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Dezember 2006 sowie die Entscheide des Departementes für Justiz und Sicherheit vom 1. November 2005 bzw. des Ausländeramtes vom 2. März 2006 (recte: 2005) aufzuheben und auf eine Ausweisung zu verzichten. Gleichzeitig wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau beantragt Abweisung der Beschwerde. Denselben Antrag stellen das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und das Bundesamt für Migration.
E.
Mit Verfügung vom 7. Februar 2007 hat der Abteilungspräsident der Beschwerde - antragsgemäss - aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG), vgl. Art. 132 Abs. 1 BGG.
2.
2.1 Gegen die sich - auch im zweiten Urteil des Verwaltungsgerichts - auf Art. 10 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) stützende Ausweisungsverfügung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 4 e contrario; BGE 114 Ib E. 1a S. 2), und der Beschwerdeführer ist hierzu legitimiert (Art. 103 lit. a OG). Anfechtungsgegenstand bildet dabei aber einzig das verwaltungsgerichtliche Urteil (vgl. Art. 98 lit. g i.V. mit Art. 98a OG). Soweit der Beschwerdeführer auch die Aufhebung des Departementsentscheides bzw. der Verfügung des Ausländeramtes verlangt, ist auf sein Begehren nicht einzutreten (vgl. BGE 125 II 29 E. 1c S. 33).
2.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden ( Art. 104 lit. a und b OG ). Hat - wie hier - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden und den Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften festgestellt, ist das Bundesgericht an die Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen Entscheid gebunden (Art. 105 Abs. 2 OG). Damit wird die Möglichkeit, vor Bundesgericht neue Tatsachen vorzubringen und neue Beweismittel einzureichen, weitgehend eingeschränkt. Das Bundesgericht lässt diesfalls nur solche neuen Tatsachen und Beweismittel zu, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte berücksichtigen müssen und deren Nichtbeachtung eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 128 Il 145 E. 1.2.1 S. 150 mit Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer unverlangt eingereichte Eingabe vom 18. April 2007 (Vorbescheid der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 13. April 2007, wonach rückwirkend ab 1. Oktober 2004 "ein Anspruch auf eine ganze [100 %] Rente" bestehe), ist insoweit unbeachtlich.
3.
3.1 Das Bundesgericht hat die nach der Rechtsprechung für die Ausweisung eines "Ausländers der zweiten Generation" geltenden Kriterien im Rückweisungsentscheid vom 14. August 2006 aufgeführt (E. 2) und sie im Falle des Beschwerdeführers zum damaligen Zeitpunkt als (noch) nicht erfüllt betrachtet. Es wies das Verwaltungsgericht an, die Verhältnismässigkeit der Ausweisung neu zu prüfen (vgl. vorne "B."), und erwog namentlich (E. 3.5):
"Falls aufgrund dieser erweiterten Prüfung eine gewisse Aussicht bestehen sollte, dass der Beschwerdeführer sein bisheriges kriminelles Verhalten nicht (bzw. nicht in einem vergleichbaren Masse) fortsetzen wird, ist von einer Ausweisung abzusehen und ihm für den Fall, dass er wieder rückfällig wird, die Ausweisung (erneut) anzudrohen. Rechtfertigt auch die Berücksichtigung der aktuellen Situation keine bessere Prognose oder nimmt der Beschwerdeführer die ihm gegebenenfalls gebotene Chance nicht wahr, muss er die Sanktion der Ausweisung in die Türkei in Kauf nehmen."
Nicht nur das Verwaltungsgericht, sondern auch das Bundesgericht ist an diese im rechtskräftigen Rückweisungsentscheid vom 14. August 2006 festgehaltene Anweisung gebunden.
3.2 Der zuhanden der IV-Stelle des Kantons Thurgau am 3. Juni 2006 erstellte Arztbericht von Dr. Y.________ (Eidg. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) gibt dem Beschwerdeführer eine "schlechte Prognose". Diese Beurteilung bezieht sich, wie aus den gestellten Fragen hervorgeht, auf den seelischen Zustand und das soziale Verhalten des Beschwerdeführers sowie auf die Möglichkeit seiner beruflichen Eingliederung. Massgebend für die allfällige Ausweisung ist jedoch gemäss den Ausführungen des Bundesgerichts in seinem Rückweisungsentscheid vom 14. August 2006 das Risiko der Fortsetzung des bisherigen kriminellen Verhaltens (vgl. vorne E. 3.1). Darüber lässt sich dem erwähnten Gutachten direkt nichts entnehmen. Die im zweiten angefochtenen Urteil (S. 6 und 7) erwähnten Vorgänge zeigen zwar, dass der Beschwerdeführer nach wie vor Umgang mit Drogen hat und sich auch sonst nicht strikte an die Rechtsordnung zu halten vermag. Der festgestellte Sachverhalt erlaubt aber noch nicht den sicheren Schluss, der Beschwerdeführer werde erneut in vergleichbarem Masse straffällig wie bei den Delikten, welche zur unbedingten Gefängnisstrafe von 15 Monaten im Jahre 2004 führten (vgl. vorne "A."); die seit der Entlassung aus dem Strafvollzug begangenen Verfehlungen sind, wie auch das angefochtene Urteil einräumt (S. 8), nicht gravierend. Sie belegen zwar die Einschätzung, dass es sich beim Beschwerdeführer um eine psychisch gestörte Persönlichkeit handelt, welche einer Therapie kaum zugänglich ist und insoweit auch kaum in der Lage sein wird, einer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dieser Umstand allein vermag aber die Ausweisung des hier aufgewachsenen Beschwerdeführers (Ausländer der zweiten Generation) aufgrund der Kriterien, wie sie im Rückweisungsentscheid dargestellt sind, noch nicht zu rechtfertigen. Es ist zur Zeit offen, ob der Beschwerdeführer sich einigermassen an die Rechtsordnung zu halten vermag oder ob es zu neuen schweren Verurteilungen kommen wird. Bei dieser Sachlage ist von einer Ausweisung im heutigen Zeitpunkt abzusehen, dem Beschwerdeführer aber für den Fall erneuter erheblicher Straffälligkeit diese Sanktion anzudrohen (Art. 16 Abs. 3 ANAV).
4.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich als begründet und ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache ist zum Zweck der Androhung der Ausweisung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG).
Entsprechend diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton Thurgau den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG). Das für dieses Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung erweist sich damit als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Dezember 2006 aufgehoben und die Sache zur Androhung der Ausweisung an dieses zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4.
Das für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Departement für Justiz und Sicherheit und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau sowie dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. April 2007
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: