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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
I 465/06
Urteil vom 27. April 2007
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
Gerichtsschreiber Fessler.
Parteien
E.________, 1959,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt
Alex Beeler, Frankenstrasse 3, 6003 Luzern,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 19. April 2006.
Sachverhalt:
A.
Die 1959 geborene E.________ ersuchte im Dezember 2001 die Invalidenversicherung um Berufsberatung und Umschulung. Nach Abklärungen (u.a. Begutachtung durch die Medizinische Abklärungsstelle [MEDAS]), verneinte die IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 11. Oktober 2004 den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen und Rente. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005 fest.
B.
Die Beschwerde der E.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 19. April 2006 ab.
C.
E.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihr mit Wirkung ab 1. Dezember 2000 eine ganze Rente zuzusprechen.
Kantonales Gericht und IV-Stelle beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205 ff., 1243). Der angefochtene Entscheid ist vorher ergangen, weshalb sich das Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) richtet (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
2.
Streitgegenstand bilden der Anspruch auf eine Rente und subsidiär berufliche Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung. Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht worden ist, bestimmt sich die Überprüfungsbefugnis nach Art. 132 Abs. 1 OG, in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung (lit. c der Übergangsbestimmungen zur Änderung des IVG vom 16. Dezember 2005 [AS 2006 2003 f.]) in Verbindung mit Art. 104 lit. b und c OG. Das Bundesgericht (bis 31. Dezember 2006: Eidgenössisches Versicherungsgericht) kann somit auch die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheides prüfen und es ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden.
3.
Das kantonale Gericht hat zu den streitigen Leistungsansprüchen erwogen, aufgrund der Ergebnisse der polydisziplinären Abklärung durch die MEDAS sei das Schmerzsyndrom ohne adäquates somatisches Korrelat. Auch aus psychiatrischer Sicht bestünden keine Anhaltspunkte für eine psychische Störung über das Krankheitsbild hinaus. Insbesondere sei keine anhaltende somatoforme Schmerzstörung im Sinne eines wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystems diagnostiziert worden. Es sei somit kein invalidenversicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden gegeben. Daran ändere nichts, dass wegen der chronischen Schmerzkrankheit für eine körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 60 % attestiert werde. Eine chronische Schmerzkrankheit allein ohne adäquate somatische oder psychische Grundlage begründe nach der Rechtsprechung noch keinen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung. Der in diesem Sinne lautende Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005 sei daher rechtens.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird unter anderem geltend gemacht, dass der psychiatrische Gutachter der MEDAS keine ICD- Diagnose gestellt habe, sei nicht von Bedeutung. Massgebend sei, dass in der Gutachterkonferenz mit dem rheumatologischen Konsiliararzt der Abklärungsstelle eine 40%-ige Arbeitsunfähigkeit festgelegt worden sei. Die gegenteilige Auffassung bedeute, die vorliegende Schmerzerkrankung strenger zu beurteilen als eine rein psychogene somatoforme Schmerzstörung.
4.
Im MEDAS-Gutachten vom 10. März 2004 wurde als Diagnose mit wesentlicher Einschränkung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit eine chronische Schmerzkrankheit bei u.a panvertebralem Schmerzsyndrom ohne somatisches Korrelat, Spannungskopfschmerzen und Opiatabhängigkeit genannt. Die Arbeitsfähigkeit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Lastwagenchauffeuse wurde auf 0 % geschätzt, solange die Explorandin unter Opiat-Therapie stehe. Für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Heben und Tragen von über 10 kg und ohne ständig vornübergeneigte Stellung bezifferten die Gutachter die Arbeitsfähigkeit auf 60 % der Norm. Der Wiedereinstieg als Coiffeuse wurde wegen der zervikalen Diskushernie als ungünstig bezeichnet.
Der rheumatologische Konsiliararzt der MEDAS hielt in seinem ergänzten Teilgutachten vom 15. Juni 2004 fest, es bestehe eine chronische Schmerzkrankheit mit einem nur kleinen somatischen Kern. In Würdigung der Tatsache, dass die Krankheit sogar zur Einstellung auf eine Opiat-Therapie durch die Schmerzklinik des Paraplegikerzentrums X.________ geführt habe, betrage die Arbeitsfähigkeit für eine körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit 60 %. Unter einer Langzeit-Opiat-Therapie in dieser Dosierung sei es nicht zu verantworten, die Versicherte berufsmässig im Strassenverkehr einzusetzen. Die Tätigkeit als angelernte Coiffeuse sei wegen der cervikalen Diskushernie und der statisch monotonen Bewegungen ungeeignet.
Der psychiatrische Experte der MEDAS führte in seinem ergänzten Teilgutachten vom 29. Juni 2004 aus, es fehlten Anhaltspunkte dafür, dass die Explorandin über das Schmerzsyndrom hinaus psychisch gestört wäre. Die Beschreibung der Beschwerden und Handicaps sowie die übrige Anamnese sprächen gegen eine somatoforme Schmerzstörung mit rein psychogener Verursachung. Es gäbe insgesamt keine rein psychiatrischen Gründe, welche eine - zusätzliche - Einschränkung der Arbeitsfähigkeit als Coiffeuse, Lastwagenfahrerin, in einer anderen Tätigkeit oder im Haushalt zur Folge hätten. Ein ausgeprägtes Schmerzsyndrom wie im Falle der Explorandin könne auch für sich allein ohne eine zusätzliche depressive oder ängstliche Störung zu einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führen. Dabei seien die Begleitsymptome des Schmerzes wie Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörung, Schwindelgefühl und weitere vegetative Symptome sowie gesteigerte Erschöpfbarkeit resp. vermindertes Durchhaltevermögen ein Teil des Schmerzsyndroms und nicht eine unabhängig davon zu diagnostizierende psychische Störung. Es werde wohl unumgänglich sein, die Ärzte der Schmerzklinik des Paraplegikerzentrums X.________ nach ihrer Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit zu fragen. Hier bestehe die meiste Erfahrung mit der Versicherten.
Die Ärzte der Schmerzklinik des Paraplegikerzentrums X.________ bezeichneten im Schreiben vom 4. Juli 2004 an die IV-Stelle eine Arbeitsfähigkeit von 50 % mit leichten bis mittleren Aufgaben, welche die Wirbelsäule nicht belasten und wo regelmässige Positionswechsel möglich sind, als zumutbar.
5.
5.1 Dr. med. K.________ hat ein psychisches Leiden, insbesondere eine somatoforme Schmerzstörung (vgl. BGE 130 V 396 E. 6.1 S. 400) ausgeschlossen. Eine lege artis auf die Vorgaben eines anerkannten Klassifikationssystems abgestützte psychiatrische Diagnose ist aber rechtlich notwendige Voraussetzung für die Annahme eines invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVB sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 ATSG, wie das kantonale Gericht insoweit richtig festhält (vgl. BGE 132 V 65 E. 3.4 S. 69, 130 V 396). Dr. med J.________ wiederum hat lediglich geringe somatische Befunde erheben können. Beide Experten bejahen jedoch eine Arbeitsunfähigkeit im Wesentlichen als Folge der diagnostizierten chronischen Schmerzkrankheit. Dabei scheinen sowohl der rheumatologische Konsiliararzt als auch der psychiatrische Experte der MEDAS dem Schmerzmittelkonsum u.a. im Rahmen der Opiat-Therapie Bedeutung beizumessen. Sie haben die Dosierungen als zu hoch und die Langzeit-Nachteile als die Vorteile wahrscheinlich überwiegend erachtet.
5.2 Bei dieser medizinischen Sachlage kann entgegen dem kantonalen Gericht ein invalidisierender Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 ATSG nicht ohne weiteres verneint werden. Entscheidend ist, ob und inwiefern, allenfalls bei geeigneter therapeutischer Behandlung, von der versicherten Person trotz des Leidens willensmässig erwartet werden kann zu arbeiten (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Diese Frage beurteilt sich nach einem weitgehend objektivierten Massstab unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 und 2.2.4 S. 353 ff.; BGE 127 V 294 E. 4b/cc S. 297 f. in fine). Bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen im Sinne von ICD-10 F45.4 im Besonderen hat das Bundesgericht Umstände aufgezählt, welche die Verwertung der verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt ausnahmsweise als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 ff.; vgl. auch BGE 132 V 65 E. 4.2. S. 71).
Auf die im dargelegten Sinne entscheidende Frage, ob und inwiefern von der Beschwerdeführerin trotz der Schmerzkrankheit willensmässig erwartet werden kann zu arbeiten, geben die Unterlagen der MEDAS (Gutachten vom 10. März 2004, rheumatologisches und psychiatrisches Teilgutachten vom 15. und 29. Juni 2004) und auch die übrigen Akten keine schlüssige Antwort. Insofern ist der Sachverhalt unvollständig festgestellt. Die IV-Stelle wird hiezu weitere Abklärungen vorzunehmen haben, in erster Linie Einholen eines Ergänzungsberichts bei der MEDAS. Danach wird sie über den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art und/oder einer Rente neu verfügen. In diesem Sinne ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde begründet.
6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG, in der bis 30. Juni 2006 geltenden Fassung). Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung, vom 19. April 2006 und der Einspracheentscheid vom 31. Mai 2005 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne von Erwägung 5.2 verfahre.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle Luzern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu bezahlen.
4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 27. April 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: