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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
C 256/06
Urteil vom 29. Mai 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Jancar.
Parteien
Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abt. Arbeitslosenkasse, Zürcherstrasse 285, 8510 Frauenfeld, Beschwerdeführer,
gegen
P.________, 1962, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Häberli, Langstrasse 4, 8004 Zürich.
Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 31. August 2006.
Sachverhalt:
A.
Der 1962 geborene P.________ arbeitete seit 19. August 1996 als Hilfsarbeiter bei der Firma F.________ AG. Am 22. Januar 2003 erlitt er einen Unfall, weswegen er vom 23. Juli bis 10. September 2003 in der Rehabilitationsklinik X.________ hospitalisiert war. Am 21. August 2003 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis auf den 31. Oktober 2003. Am 16. September 2003 stellte P.________ bei der Arbeitslosenkasse Thurgau (nachfolgend Arbeitslosenkasse) Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 1. November 2003. Gestützt auf seine Vermittlungsbereitschaft setzte die Arbeitslosenkasse den versicherten Verdienst ab November 2003 auf Fr. 2427.- pro Monat fest. Ab Januar 2004 erhöhte sie den versicherten Verdienst in Berücksichtigung der vollen Vermittlungsfähigkeit des Versicherten auf Fr. 4854.-. Mit rechtskräftiger Verfügung vom 13. Januar 2005 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau den Rentenanspruch des Versicherten bei einem Invaliditätsgrad von 26 %. Gestützt auf diese Verfügung reduzierte die Arbeitslosenkasse den versicherten Verdienst ab 1. Februar 2005 auf der Basis eines Validitätsgrades von 74 % auf Fr. 3592.- pro Monat (Verfügung vom 14. April 2005). Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 13. Mai 2005 ab.
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung den Einspracheentscheid auf und wies die Arbeitslosenkasse an, dem Versicherten Taggelder auf der Basis des ungekürzten, ursprünglichen versicherten Verdienstes auszubezahlen; die Nachzahlung/Auszahlung habe zu erfolgen, wenn dafür die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien (Entscheid vom 31. August 2006).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse die Aufhebung des kantonalen Entscheides und Bestätigung des Einspracheentscheides vom 13. Mai 2005.
Der Versicherte und die Rekurskommission schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V Erw. 1.2).
2.
Der Versicherte bezog ab 1. November 2003 Arbeitslosenentschädigung. Gestützt auf seine Vermittlungsbereitschaft wurde der versicherte Verdienst auf Fr. 2427.- pro Monat festgesetzt. Ab Januar 2004 wurde er in Berücksichtigung der vollen Vermittlungsfähigkeit auf Fr. 4854.- erhöht.
Mit rechtskräftiger Verfügung vom 13. Januar 2005 wies die IV ein Rentengesuch des Versicherten unter Annahme eines Invaliditätsgrades von 26 % ab. Gestützt hierauf reduzierte die Arbeitslosenkasse den versicherten Verdienst auf der Basis eines Validitätsgrades von 74 % auf Fr. 3592.- pro Monat. Die Vorinstanz legte den versicherten Verdienst entsprechend einer 100%igen Erwerbsfähigkeit auf Fr. 4854.- fest.
3.
Streitig und zu prüfen ist der versicherte Verdienst. Nach Art. 40b AVIV ist bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, der Verdienst massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht.
4.
4.1 In BGE 132 V 357 wurde erkannt, dass für die Bemessung des versicherten Verdienstes gemäss Art. 40b AVIV der Lohn massgebend ist, den die versicherte Person vor der gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit während eines bestimmten Zeitraumes tatsächlich erzielt hat. Das entsprechende Einkommen ist mit dem Faktor zu multiplizieren, der sich aus der Differenz zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad ergibt.
4.2 Die Vorinstanz hält dem entgegen, unterhalb eines rentenbegründenden Invaliditätsgrades von 40 % liegende Einbussen könnten zu keiner Reduktion des versicherten Verdienstes führen. Dem Versicherten entstünden dabei massive Einbussen, die er nicht anderweitig abdecken könne.
Diese Betrachtungsweise widerspricht sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck von Art. 40b AVIV. Gemäss dieser Bestimmung richtet sich der versicherte Verdienst nach der verbleibenden Erwerbsfähigkeit. Diese ist bei einem Invaliditätsgrad von 26 % nicht mehr voll, sondern reduziert. Durch das Abstellen auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit soll verhindert werden, dass die Arbeitslosenentschädigung auf einem Verdienst ermittelt wird, den der Versicherte nicht mehr erzielen könnte. Ist die Erwerbsfähigkeit um gut ein Viertel reduziert, kann nicht davon ausgegangen werden, es könnte der ohne Gesundheitsschaden vor der Arbeitslosigkeit bezogene Lohn verdient werden.
Im genannten Grundsatzurteil BGE 132 V 357 war zu entscheiden, ob sich der versicherte Verdienst nach dem hypothetischen Invalideneinkommen oder nach dem tatsächlich erzielten Einkommen, multipliziert mit dem Faktor, der sich aus der Differenz zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad ergebe, berechne. Beiden Berechnungsmethoden ist gemeinsam, dass sie nicht darauf abstellen, ob eine rentenbegründende Invalidität besteht.
5.
Es trifft zwar zu, dass den teilinvaliden, nicht rentenberechtigten Versicherten bei dieser Bemessung des versicherten Verdienstes ein - mit den Worten der Vorinstanz - ungedeckter Ausfall entsteht. Indessen ist zu berücksichtigen, dass einen solchen Ausfall auch erleidet, wer - bei nicht rentenbegründender Invalidität - einem Erwerb nachgeht und einen Invalidenlohn erzielt. In beiden Fällen errechnet sich der versicherte Verdienst nach der verbleibenden Erwerbsfähigkeit, wobei für die Festsetzung des der Behinderung angepassten Verdienstes auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit gemäss der Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung abgestellt wird (ARV 1991 Nr. 10 S. 92; Thomas Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Ulrich Meyer [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Band XIV, Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, S. 2291 Fn 797).
6.
6.1 Der Versicherte hat am 4. Februar 2004 ein IV-Rentengesuch gestellt, das die IV-Stelle mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 13. Januar 2005 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 26 % abgewiesen hat. Die Arbeitslosenkasse hat diesen Invaliditätsgrad zur Bemessung des versicherten Verdienstes für die Zeit ab 1. Februar 2005 herangezogen (Einspracheentscheid vom 13. Mai 2005). In dieser Konstellation ist im arbeitslosenversicherungsrechtlichen Verfahren vorfrageweise zu prüfen, ob sich die Erwerbsfähigkeit des Versicherten seit der obigen Verfügung der IV-Stelle verbessert hat, zumal der Versicherte im IV-Verfahren grundsätzlich kein schutzwürdiges Interesse hatte, einen geringeren Invaliditätsgrad oder überhaupt eine fehlende Invalidität geltend zu machen.
6.2 Ab 13. April bis 4. Juni 2004 und vom 26. August bis 15. Oktober 2004 arbeitete der Versicherte im Stundenlohn für die Firma I.________ AG. Ab dem 16. Oktober 2004 war er bis Januar 2005 nur noch im Arbeitsintegrationsprogramm der Firma E.________ tätig (arbeitsmarktliche Massnahme), was nicht als Zwischenverdienst abgerechnet wurde. Ab 1. Dezember 2004 bis 29. April 2005 attestierte Dr. med. G.________, Allgemeine Medizin FMH, dem Versicherten eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % für schwere Arbeit und eine ganztägige Arbeitsfähigkeit für leichte Arbeit. Von letzterer Arbeitsfähigkeit ging die IV-Stelle bei der Ermittlung des IV-Grades von 26 % aus.
Unter diesen Umständen besteht entgegen der Auffassung des Versicherten keine Veranlassung, für die Zeit ab 1. Februar bis 16. Mai 2005 (Beendigung der Arbeitslosigkeit) vom Invaliditätsgrad von 26 % abzuweichen. Nach dem Gesagten erweist sich der Einspracheentscheid vom 13. Mai 2005 als rechtens.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 31. August 2006 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 29. Mai 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: