Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
I 405/06
Urteil vom 29. Mai 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Durizzo.
Parteien
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdeführerin,
gegen
T.________, 1970, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Mike Gessner, Rheinstrasse 16, 8501 Frauenfeld.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 18. April 2006.
Sachverhalt:
A.
Am 30. April 2004 sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau T.________, geboren 1970, mit Wirkung ab 1. September 2001 bei einem Invaliditätsgrad von 45 % eine halbe Härtefallrente, mit Wirkung ab 1. Januar 2004 eine Viertelsrente zu. Mit Einspracheentscheid vom 21. Juli 2004 ordnete sie weitere Abklärungen an. In der Folge gewährte sie der Versicherten mit Verfügung vom 15. Juni 2005 und Einspracheentscheid vom 20. September 2005 unverändert ab 1. September 2001 eine halbe Härtefallrente, mit Wirkung ab 1. Januar 2004 eine Viertelsrente (nebst Zusatzrenten für den Ehemann und die Kinder).
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. April 2006 gut. Sie hob den Einspracheentscheid vom 20. September 2005 auf mit der Feststellung, dass T.________ ab 1. September 2001 bei einem Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe Invalidenrente auszurichten sei.
C.
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
T.________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt deren Gutheissung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 18. April 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
2.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Bundesgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Gericht hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Gericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
3.
Streitig ist einzig die Höhe des Invalideneinkommens, welches die Vorinstanz dem Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) zugrunde gelegt hat.
Sie hat erwogen, dass die Versicherte ein unterdurchschnittliches Valideneinkommen erzielt habe. Ihr Verdienst beim vormaligen Arbeitgeber, bei welchem sie Vignetten auf Velos aufkleben musste, sei 12,6 % tiefer gewesen als der statistische Durchschnittslohn, wobei sie den Zentralwert, Total, gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2002 im privaten Sektor, Tabelle TA1, Frauenlöhne, Anforderungsniveau 4, zum Vergleich herangezogen hat. Unter Berufung auf das Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 29. August 2002, I 97/00, reduzierte sie auch das gestützt auf die Tabellenlöhne ermittelte Invalideneinkommen um diesen Prozentsatz. Dagegen richten sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde und die Vernehmlassung des BSV.
4.
4.1 Im Urteil I 97/00 wurde die mit ZAK 1989 S. 456 begründete Rechtsprechung bestätigt, wonach im Rahmen des Einkommensvergleichs die invaliditätsfremden Gesichtspunkte überhaupt nicht oder dann bei beiden Vergleichsgrössen gleichmässig zu berücksichtigen sind (bestätigt etwa in AHI 1999 S. 237, I 377/98, E. 1). Weitergehend wurde ausgeführt, dass dies nebst den Faktoren Alter, Ausbildung und Sprachkenntnisse auch Flexibilität, Durchsetzungsfähigkeit und Sozialkompetenz betreffe. Unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalles sei zu beurteilen, ob der versicherten Person die Erzielung eines Durchschnittslohns zugemutet werden könne (E. 3.2). Die Frage wurde im konkreten Fall verneint.
Aus Urteil I 97/00 kann damit nicht als Grundsatz abgeleitet werden, dass immer dann, wenn das - beim letzten Arbeitgeber verdiente - Valideneinkommen der versicherten Person tiefer ist als das von ihr - anhand von Tabellenlöhnen ermittelte - zumutbarerweise erzielbare Invalideneinkommen, automatisch eine entsprechende Kürzung des Valideneinkommens zu erfolgen hat.
4.2 Die Vorinstanz hat es unterlassen, die Umstände darzulegen, die der Versicherten eine Erzielung des Durchschnittslohns als unzumutbar erscheinen liessen. Auch in deren Vernehmlassung wird diesbezüglich nichts Stichhaltiges vorgebracht. Indessen ist im vorliegenden Fall nicht einzusehen, inwiefern allenfalls fehlende Fähigkeiten im Sinne des vom kantonalen Gericht zitierten Urteils - Flexibilität, Durchsetzungsfähigkeit und Sozialkompetenz - bei der von der Versicherten ausgeübten Tätigkeit hätten lohnbestimmend sein sollen. Vielmehr ist, wie IV-Stelle und Bundesamt zu Recht geltend machen, in Betracht zu ziehen, dass es sich dabei um eine besonders einfache Arbeit gehandelt hat. Für ungünstige konjunkturelle Verhältnisse hat die Invalidenversicherung rechtsprechungsgemäss nicht einzustehen; vielmehr wird - abstrahierend - unterstellt, hinsichtlich der in Frage kommenden Stellen bestehe ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage (AHI 1998 S. 287, I 198/97, E. 3b, mit Hinweis auf BGE 110 V 273 E. 4b S. 276). Schliesslich ist zu ergänzen, dass es das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil vom 12. Oktober 2006, U 75/03, publiziert in RSAS 2007 S. 64, E. 8.1-8.5, abgelehnt hat, regionale Lohnunterschiede zu berücksichtigen. Die Kürzung des Invalideneinkommens war damit nicht gerechtfertigt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 18. April 2006 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 29. Mai 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: