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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
I 678/06 {T 7}
Urteil vom 26. Juni 2007
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
Parteien
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6002 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
R.________, Beschwerdegegner, vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4601 Olten.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 30. Juni 2006.
Sachverhalt:
A.
A.a R.________, geboren 1974, verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Bäcker-Konditor. Am 6. Oktober 1998 meldete er sich unter Hinweis auf ein Bäckerasthma bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit) an; die Schweizerische Unfallversicherung (SUVA) erliess wegen des Bäckerasthmas am 11. November 1998 eine Nichteignungsverfügung. Die IV-Stelle des Kantons Luzern führte erwerbliche Abklärungen durch und zog die Akten der Unfallversicherung Visana Versicherungen AG bei. Vom 1. September bis 30. November 1999 fand eine berufliche Abklärung im Regionalen Pflegeheim S.________ statt. Mit Verfügung vom 29. Januar 2001 schrieb die IV-Stelle das Gesuch des R.________ - nachdem sie ihn mehrfach vergeblich zur Mitwirkung aufgefordert hatte - als erledigt von ihrer Kontrolle ab.
A.b Vom 23. März bis 21. Dezember 2001 sowie vom 4. bis 21. Juni 2002 war R.________ als Hilfskraft bei der Firma E.________ tätig. Am 13. April 2004 meldete er sich unter Hinweis auf eine Mehlstauballergie seit 1998 und Depression "seit längerem" erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit, Rente) an. Die IV-Stelle führte wiederum erwerbliche Abklärungen durch und holte Berichte der Dres. med. U.________ und M.________, Psychiatriezentrum L.________, vom 18. Mai, 17. August und 23. September 2004, sowie des Drogentherapeutischen Ambulatoriums X.________ (Dr. med. B.________) vom 13. Juli 2004 ein und veranlasste eine Stellungnahme ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 25. August 2004. Am 29. November 2004 verfügte sie die Abweisung des Leistungsbegehrens. Auf Einsprache des R.________ hin, im Rahmen welcher er Schreiben des Dr. med. B.________ vom 5. Januar 2005 und seines Hausarztes Dr. med. R.________ vom 18. Februar 2005, zu den Akten reichen liess, bestätigte die IV-Stelle ihre Verfügung mit Einspracheentscheid vom 17. März 2005.
B.
Hiegegen liess R.________ Beschwerde führen und eine Stellungnahme des Drogentherapeutischen Ambulatoriums (Herr Z.________ [Leiter] und Dr. med. K.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 26. April 2005 auflegen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 30. Juni 2006 in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückwies.
C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, sowie - in Bestätigung der Verfügung und des Einspracheentscheides - die Feststellung, dass die Abweisung des Leistungsbegehrens zu Recht erfolgt sei.
Vorinstanz und R.________ lassen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [SR 173.110]) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205 und 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und Art. 105 Abs. 2 OG).
2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 IVG) im Zusammenhang mit Suchterkrankungen (BGE 124 V 265 E. 3c S. 268 mit Hinweisen; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes I 454/99 vom 22. Juni 2001 E. 2b, publ. in: AHI 2001 S. 228 f.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
3.
3.1 Die Vorinstanz erwog, der Versicherte leide an einer von der Drogenproblematik losgelösten psychischen Krankheit, welche seit Juni bzw. November 2002 zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Diese Feststellung ist tatsächlicher Natur (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398) und daher im letztinstanzlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar (Art. 105 Abs. 2 OG).
3.2 Die Beschwerdeführerin bringt zutreffend vor, dass der Versicherte seit seinem 15. Lebensjahr (d.h. seit dem Jahre 1989) mit wenigen Unterbrüchen durchgehend Drogen konsumierte (zunächst Cannabis, in der Folge LSD und Kokain, ab dem Jahre 2000 Heroin). Selbst nach Einschätzung der behandelnden Ärzte bestehen zwischen Drogensucht, psychosozialen Belastungsfaktoren (insbesondere Arbeitslosigkeit nach Auftreten des Bäckerasthmas im Jahre 1998 sowie Beziehungsproblemen im Jahre 2000) und der Arbeitsunfähigkeit vielschichtige Wechselwirkungen (Schreiben des Dr. med. K.________ vom 26. April 2005). Wenn die Vorinstanz die depressive Entwicklung als eigenständigen Krankheitsbefund einordnete, ist diese Beweiswürdigung nicht unproblematisch, sie verstösst indessen vor dem Hintergrund, dass die den Versicherten behandelnden Mediziner dezidiert die Meinung vertraten, die depressive Entwicklung sei von der Drogenproblematik klar abgrenzbar, nicht gegen Bundesrecht. Dies gilt umso mehr, als die ärztlichen Einschätzungen der behandelnden Dres. med. U.________, M.________ und B.________ im Rahmen freier Beweiswürdigung durchaus mitzuberücksichtigen sind.
3.3 Fraglich und nach Lage der Akten nicht schlüssig beurteilbar ist indessen, ob das depressive Syndrom überhaupt invalidisierend ist oder ob eine zumindest teilweise durch den Drogenkonsum geprägte, psychosozial begründete depressive Entwicklung vorliegt, welche durch eine Veränderung der Lebensituation wesentlich gebessert werden könnte und die daher keine Invalidität bewirkt (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes I 955/05 vom 6. November 2006 E. 3.3.2). Eine solche Einschätzung legen zumindest die Ausführungen des Dr. med. U.________, der eine angemessene Tätigkeit "nach ausreichender psychischer Stabilisierung" im Umfang von acht Stunden täglich während fünf Tagen pro Woche als zumutbar erachtet hatte, und der Ärzte am Psychiatriezentrum L.________, die eine spürbare Verbesserung im Hospitalisationsverlauf (Schreiben vom 17. August 2004) bzw. eine Remission der depressiven Störung (Bericht vom 23. September 2004) feststellen konnten, nahe. Ob und allenfalls inwiefern die psychische Störung, selbst wenn sie Krankheitswert hätte, bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten, überwindbar wäre (hiezu BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50), lässt sich anhand der Akten ebenfalls nicht abschliessend beurteilen. Insoweit ist der Sachverhalt unvollständig abgeklärt (Art. 105 Abs. 2 OG). Die Sache ist daher zur weiteren diesbezüglichen Abklärung (mittels eines fachärztlichen Gutachtens) an die IV-Stelle zurückzuweisen.
4.
In Würdigung, dass sich das kantonale Gericht explizit mit den Stellungnahmen des RAD vom 25. August und 4. November 2004 auseinandergesetzt hat, ist die Rüge der Gehörsverletzung unbegründet. Ob die Eintragungen im Verlaufsprotokoll als schriftliche Berichte zu qualifizieren und ob sie allenfalls unter Art. 42 Abs. 2 oder 3 IVV zu subsumieren sind, kann offen bleiben, da nach der Rechtsprechung (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) weder die Herkunft noch die Bezeichnung einer ärztlichen Stellungnahme entscheidend sind (vgl. auch Urteil des Bundesgerichtes I 818/06 vom 24. Januar 2007 E. 3.3).
5.
Das Verfahren hat Leistungen der Invalidenversicherung zum Gegenstand und ist deshalb kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG, gültig gewesen vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006; vgl. Erw. 1.1 und 1.2). Dem Prozessausgang entsprechend rechtfertigt es sich, die Gerichtskosten zu drei Fünftel der Beschwerdeführerin und zu zwei Fünftel dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 3 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Die Verwaltung hat dem durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, vertretenen Beschwerdegegner eine reduzierte Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159 Abs. 1 bis 3 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die IV-Stelle angewiesen, im Sinne der Erwägungen weitere psychiatrische Abklärungen in die Wege zu leiten. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden zu drei Fünftel (Fr. 300.-) der Beschwerdeführerin und zu zwei Fünftel (Fr. 200.-) dem Beschwerdegegner auferlegt. Der die Beschwerdeführerin betreffende Anteil ist durch den geleisteten Kostenvorschuss gedeckt; der Restbetrag wird zurückerstattet.
3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 26. Juni 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
i. V.