Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
8C_76/2007
Urteil vom 6. Juli 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.
Parteien
1. Firma X.________,
2. E.________,
Beschwerdeführerinnen,
beide vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Andreas Brauchli, Hermannstrasse 8, 8570 Weinfelden,
gegen
Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Familienausgleichskasse, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegner.
Gegenstand
Kantonale Familienzulagen,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 24. Januar 2007.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 8. Mai 2006 setzte die Familienausgleichskasse des Kantons Thurgau die der 1962 geborenen E.________ zustehenden Kinder- und Ausbildungszulagen für die vier Kinder R.________ (geb. 1988), M.________ (geb. 1990), C.________ (geb. 1992) und S.________ (geb. 1994) ab 1. Januar 2005 auf Fr. 76.- pro Monat für jedes Kind fest, entsprechend 40 % der vollen Zulagen von Fr. 190.-. Die Verfügung war an die Arbeitgeberin Firma X.________ gerichtet und enthielt den Vermerk "Wir bitten Sie, das Doppel dieser Verfügung dem Bezüger auszuhändigen". E.________ ist die Ehefrau des Firmeninhabers.
Auf Rekurs der Firma X.________ hin bestätigte die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 21. August 2006 die angefochtene Verfügung.
B.
Die dagegen durch die Firma X.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab (Entscheid vom 24. Januar 2007). Der Entscheid wurde (anders als derjenige der Rekurskommission) auch E.________ zugestellt.
C.
Die Firma X.________ (Beschwerdeführerin 1) sowie E.________ (Beschwerdeführerin 2) lassen Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es seien E.________ rückwirkend ab 1. Januar 2005 ganze Kinder- und Ausbildungszulagen zuzusprechen.
Das kantonale Gericht und die Familienausgleichskasse schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Mit der Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Der Begriff des Bundesrechts umfasst die von den Bundesorganen erlassenen Rechtsnormen aller Erlassstufen, insbesondere die Bundesverfassung, die Bundesgesetze sowie die verschiedenen Arten von Verordnungen (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 401, Art. 95 N 12 ff.). Soweit sich der angefochtene Entscheid auf Quellen des kantonalen Rechts stützt, welche nicht in Art. 95 lit. c-e BGG genannt werden, beschränkt sich die Überprüfung durch das Bundesgericht demgegenüber thematisch auf die erhobenen und begründeten Rügen (Art. 106 Abs. 2 BGG) und inhaltlich auf die Frage, ob die Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Vordergrund steht dabei eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere des Willkürverbots nach Art. 9 BV (BGE 128 I 177 E. 2.1 S. 182, 125 V 408 E. 3a S. 408 f., je mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211 mit Hinweisen). Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, kann mit der Beschwerde nur gerügt werden, diese sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95 (Art. 97 Abs. 1 BGG).
2.
Die Beschwerdeführerinnen lassen in formeller Hinsicht rügen, die Verfügung der Familienausgleichskasse vom 8. Mai 2006 sei zu Unrecht nur der Arbeitgeberin und nicht der primär betroffenen Arbeitnehmerin eröffnet worden.
2.1 Anspruch auf Kinder- oder Ausbildungszulagen haben gemäss § 4 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über die Kinder- und Ausbildungszulagen vom 29. September 1986 (KAZG) "Arbeitnehmer für die Dauer des Arbeitsverhältnisses, sofern ihr Arbeitgeber diesem Gesetz untersteht". Dementsprechend regelt das Gesetz laut § 2 Abs. 1 "die Ansprüche der Arbeitnehmer nichtlandwirtschaftlicher Berufe auf Kinder- und Ausbildungszulagen". Anspruchsberechtigt und damit als Partei in das Verwaltungsverfahren einzubeziehen war somit die Beschwerdeführerin 2 (vgl. Urteil 2P.108/2006 vom 11. August 2006, E. 1.2). Gemäss § 20 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Februar 1981 (VRG) sind Entscheide "den Beteiligten und den betroffenen Dritten schriftlich zu eröffnen". Daraus wird ohne weiteres deutlich, dass die Verfügung (zumindest auch) zwingend der Beschwerdeführerin 2 hätte eröffnet werden müssen. Eine andere Auslegung des kantonalen Verfahrensrechts muss als unhaltbar und damit willkürlich bezeichnet werden. Das Gebot, einen Entscheid den direkt betroffenen Personen zu eröffnen, ergibt sich überdies als elementares Prinzip aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 519).
Die Familienausgleichskasse hätte somit ihre Verfügung vom 8. Mai 2006 nicht lediglich der die Zulagen auszahlenden Arbeitgeberin, sondern auch und in erster Linie der Arbeitnehmerin zustellen müssen, welche in der Folge auch zur Anfechtung auf dem Rechtsmittelweg legitimiert gewesen wäre (vgl. zum Grundsatz der Einheit des Prozesses BGE 130 V 560 E. 4.3 S. 568 f.). Die Verfügung vom 8. Mai 2006 wurde jedoch einzig der Arbeitgeberin eröffnet. Der Hinweis, diese werde gebeten, das Doppel der Verfügung dem Bezüger auszuhändigen, vermag eine formelle Eröffnung nicht zu ersetzen. Das Vorgehen der Verwaltung verstösst deshalb gegen Bundesrecht.
2.2 Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann (BGE 127 V 431 E. 3d/aa S. 437). Von einer Rückweisung der Sache an die Verwaltung ist selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des rechtlichen Gehörs dann abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweis).
2.3 Die Beschwerdeführerin 2 wurde weder in das Verfahren vor der Rekurskommission einbezogen noch wurde ihr deren Entscheid eröffnet. Auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, welches zudem nicht über volle Kognition verfügt (§ 56 Abs. 1 und 2 des thurgauischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Februar 1981), erfolgte keine eigentliche Beiladung der hierortigen Beschwerdeführerin 2, sondern es wurde ihr lediglich der Endentscheid zugestellt. Das Gericht hielt sogar ausdrücklich fest, es dränge sich nicht auf, der Beschwerdeführerin 2 Gelegenheit zu bieten, sich am Verfahren zu beteiligen, denn es dürfe "wohl davon ausgegangen werden, dass alle Argumente gegen die Verfügung vom 26. [gemeint wohl: 8.] Mai 2006 vorgebracht sind." Die Möglichkeit einer Beschwerde an das Bundesgericht mit der für dieses geltenden Kognition (E. 1 hiervor) ist offensichtlich nicht geeignet, eine Heilung des durch die unterbliebene Eröffnung der Verfügung entstandenen Verfahrensmangels zu ermöglichen. Damit kann offenbleiben, ob allenfalls unter anderen Umständen eine Heilung eines derartigen Mangels denkbar wäre. Die Verfügung und die sie bestätigenden Entscheide vermögen daher gegenüber der Beschwerdegegnerin 2 keine Rechtswirkungen zu entfalten. Diesbezüglich wird eine korrekte Eröffnung noch vorzunehmen sein.
3.
In der Beschwerde wird ausserdem vorgebracht, die Vorinstanz habe Beweise willkürlich gewürdigt und zudem den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie sich auf eine gänzlich neue, unerwartete Argumentation gestützt habe.
3.1 Das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dient einerseits der Sachaufklärung. Anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört das Recht des Betroffenen, sich vor dem Entscheid zur Sache zu äussern (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56 mit Hinweis). Anspruch auf vorgängige Anhörung besteht insbesondere, wenn das Gericht seinen Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die im bisherigen Verfahren nicht herangezogen wurden, auf die sich die Parteien nicht berufen haben und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE 128 V 272 E. 5b/bb S. 278, 126 I 19 E. 2c/aa S. 22, je mit Hinweisen; Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 270 f.).
3.2 Mit der Verfügung vom 8. Mai 2006 verneinte die Familienausgleichskasse einen (weiteren) Anspruch der Beschwerdeführerin 2 auf volle Kinder- und Ausbildungszulagen und kürzte diese auf 40 %. Zur Begründung wurde erklärt: "Die Zulagen sind gemäss Teilzeitanspruch auf 40 % gekürzt." Die Rekurskommission erwog in ihrem die Verwaltungsverfügung bestätigenden Entscheid vom 21. August 2006, die Verwaltung habe den Prozentsatz von 40 % durch Vergleich des abgerechneten Lohns der Angestellten mit dem durchschnittlichen Lohn im entsprechenden Berufssegment ermittelt, wobei im konkreten Fall die Salärempfehlungen des Kaufmännischen Verbandes herangezogen worden seien. Wohl hänge die Zulagenhöhe gemäss dem massgebenden kantonalen Recht vom Beschäftigungsgrad und nicht von der Lohnsumme ab. Das Abstellen auf das Einkommen bilde jedoch gerade in Familienbetrieben "eine sinnvolle Methode, um die gewerbliche Gewichtung der mitarbeitenden Ehefrau vorzunehmen". Das von der Familienausgleichskasse angenommene marktübliche Jahreseinkommen von Fr. 49'620.- erscheine für eine als Büroangestellte tätige Person im Alter der betroffenen Angestellten ohne weiteres als angemessen. Der ihr tatsächlich ausbezahlte Lohn von Fr. 19'691.- entspreche somit rund 40 % des Vergleichseinkommens.
3.3 Das kantonale Verwaltungsgericht liess offen, ob sich Familienausgleichskasse und Rekurskommission zu Recht an einem marktüblichen Lohn von Fr. 49'620.- orientierten. Das Gericht selbst nahm ausdrücklich nicht auf den marktüblichen Lohn Bezug, sondern setzte den massgebenden Beschäftigungsgrad auf Grund anderer Überlegungen fest. Es erwog, der Arbeitgeber habe nie einen Wechsel von der anfänglichen Beschäftigung im Stundenlohn auf ein Vollpensum gemeldet. Die Angabe einer Vollzeitbeschäftigung sei "klar ein offensichtliches Konstrukt, um volle Familienzulagen zu erhalten". Bereits der zeitliche Ablauf spreche für diese Sichtweise, habe sich die Beschwerdeführerin 2 doch angemeldet, nachdem das Verwaltungsgericht einen Anspruch auf Kinder- und Ausbildungszulagen auch für im Betrieb mitarbeitende Ehegatten anerkannt habe. Mit der Anmeldung zum Leistungsbezug sei eine Lohnverdoppelung einhergegangen. Die Beschwerdeführerin 2 sei jedoch durch die Betreuung ihres behinderten Kindes in hohem Masse ausgelastet. Werde weiter berücksichtigt, dass in der Anmeldung vom 7. Februar 2001 als Hauptberuf "Hausfrau" angegeben worden sei, könne ganz offensichtlich nicht von einer Vollbeschäftigung zu Gunsten der Arbeitgeberin ausgegangen werden. So gesehen erscheine auch der Beschäftigungsgrad von 40 % ohne weiteres einleuchtend.
3.4 Das Verwaltungsgericht stützte sich, wie es selbst festhält, auf eine andere rechtliche Begründung als seine Vorinstanzen. Es stellte dabei in wesentlichen Teilen seiner Erwägungen auf Sachverhaltselemente ab, welche während des vorangegangenen Verfahrens nicht zur Diskussion gestanden hatten. Gestützt auf die Unterlagen und teilweise in antizipierter Beweiswürdigung gelangte es zum Ergebnis, die Beschwerdeführerin 2 werde durch die Betreuung ihres Kindes derart in Anspruch genommen, dass sie keiner vollzeitlichen Erwerbstätigkeit, sondern nur einer solchen im Umfang von 40 % nachgehen könne. Auch aus dem Zeitpunkt der Anmeldung und den gemeldeten Lohnzahlen lasse sich schliessen, dass das behauptete Vollpensum nicht der Wirklichkeit entspreche. Zu diesem Themenbereich hat die Vorinstanz indessen kein Beweisverfahren durchgeführt. Die Betroffenen hatten auch nicht Gelegenheit, sich zum für das Verwaltungsgericht entscheidrelevanten Sachverhalt und den angeführten Indizien zu äussern. Ein solches Vorgehen lässt sich mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV nicht vereinbaren. Dieser hätte geboten, den Beteiligten vorgängig Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten. Die beschränkte Kognition des Bundesgerichts (E. 1 hievor) steht auch in diesem Punkt einer Heilung des Verfahrensmangels entgegen.
4.
Nach dem Gesagten leiden sowohl das Verwaltungs- als auch das Rechtsmittelverfahren an formellen Mängeln. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, die Sache - unter Aufhebung der Entscheide von Verwaltungsgericht und Rekurskommission - zum Erlass einer neuen Verfügung an das Amt für AHV und IV, Familienausgleichskasse, zurückzuweisen.
5.
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdegegner, dessen Vermögensinteresse betroffen ist, als unterliegender Partei aufzuerlegen ( Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 24. Januar 2007, der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 21. August 2006 sowie die Verfügung vom 8. Mai 2006 aufgehoben werden und die Sache an das Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Familienausgleichskasse, zurückgewiesen wird, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Anspruch auf Kinder- und Ausbildungszulagen ab 1. Januar 2005 neu verfüge.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 700.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Der geleistete Kostenvorschuss von je Fr. 700.- wird den Beschwerdeführerinnen zurückerstattet.
4.
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführerinnen für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
6.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zugestellt.
Luzern, 6. Juli 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: