Tribunale federale
Tribunal federal
{T 7}
I 898/06
Urteil vom 23. Juli 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
Parteien
IV-Stelle für Versicherte im Ausland,
Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf, Beschwerdeführerin,
gegen
S.________, 1955, Deutschland, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Domenico Giglio, Hauptstrasse 105, 5070 Frick.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV
für die im Ausland wohnenden Personen
vom 15. September 2006.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 20. März 2006 lehnte die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (nachfolgend: IV-Stelle) das Gesuch von S.________, geboren 1955, um berufliche Massnahmen ab. S.________ liess dagegen am 2. Mai 2006 Einsprache einreichen. Ihr Rechtsvertreter ersuchte zudem um Zustellung der Akten sowie um Gewährung einer Frist für die Einreichung der Begründung und stellte eine Vollmacht in Aussicht. Mit Schreiben vom 9. Mai 2006 gewährte die IV-Stelle dem Rechtsvertreter unter Beilage der Akten eine Nachfrist von 20 Tagen verbunden mit der Androhung, das Verfahren nach Ablauf der ungenutzten Frist durch Nichteintreten abzuschliessen. Nachdem der Rechtsvertreter der IV-Stelle eine Vollmacht hatte zukommen lassen, stellte er am 29. Mai 2006 wegen Arbeitsüberlastung ein Gesuch um Fristerstreckung bis 30. Juni 2006. Die IV-Stelle trat mit Einspracheentscheid vom 15. Juni 2006 auf die Einsprache infolge ungenutzt verstrichener Frist nicht ein.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen (seit 1. Januar 2007: Bundesverwaltungsgericht) unter Aufhebung des Einspracheentscheids vom 15. Juni 2006 mit Entscheid vom 15. September 2006 gut und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese S.________ eine kurze Nachfrist zur Einreichung von Antrag und Begründung setze.
C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Eidgenössische Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: Bundesgericht) mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. S.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG; Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
2.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
3.
3.1 Auf den 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Damit wurde das Einspracheverfahren für alle dem ATSG unterstellten Zweige der Sozialversicherung eingeführt. Gemäss Art. 52 Abs. 1 Satz 1 ATSG kann gegen Verfügungen innerhalb von 30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden. Gestützt auf die dem Bundesrat in Art. 61 ATSG eingeräumte Delegationskompetenz hat er in Art. 10 bis 12 ATSV Ausführungsbestimmungen zu Form und Inhalt der Einsprache sowie zum Einspracheverfahren erlassen. Gemäss Art. 10 Abs. 1 ATSV müssen Einsprachen ein Rechtsbegehren und eine Begründung enthalten. Die schriftlich erhobene Einsprache muss die Unterschrift der Einsprache führenden Person oder ihres Rechtsbeistandes enthalten (Art. 10 Abs. 4 Satz 1 ATSV). Genügt die Einsprache den Anforderungen nach Abs. 1 nicht oder fehlt die Unterschrift, so setzt der Versicherer eine angemessene Frist zur Behebung der Mängel an und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Einsprache nicht eingetreten wird (Art. 10 Abs. 5 ATSV; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 99/06 vom 8. September 2006, E. 2.1).
3.2 Der Wortlaut von Art. 10 Abs. 5 ATSV stimmt - von zwei redaktionellen Anpassungen abgesehen - mit der für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren massgebenden Bestimmung von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG überein, die ihrerseits der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Vorschrift von altArt. 85 Abs. 2 lit. b Satz 2 AHVG entspricht. Diese Nachfristbestimmungen stehen und standen im Gegensatz zu der für das letztinstanzliche Beschwerdeverfahren bis 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Vorschrift von Art. 108 Abs. 3 OG, wonach eine Nachfrist mit Androhung des Nichteintretens nur anzusetzen ist, wenn die Beilagen fehlen oder die Begehren des Beschwerdeführers oder die Begründung die nötige Klarheit vermissen lassen und sich die Beschwerde nicht als offensichtlich unzulässig herausstellt. Die damit für das letztinstanzliche Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren statuierten Einschränkungen der richterlichen Pflicht, dem Beschwerdeführer eine Nachfrist zur Behebung von Mängeln seiner Beschwerde anzusetzen, fehlen sowohl im Wortlaut von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG als auch in demjenigen von Art. 10 Abs. 5 ATSV. Daraus hat das Eidgenössische Versicherungsgericht - in Auslegung der altrechtlichen bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Bestimmung von altArt. 85 Abs. 2 lit. b Satz 2 AHVG - gefolgert, dass im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren die Ansetzung einer Nachfrist zur Verbesserung einer mangelhaften Beschwerdeschrift nicht nur bei Unklarheit des Rechtsbegehrens oder der Begründung, sondern ganz allgemein immer dann zu erfolgen hat, wenn eine Beschwerde den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt; also auch dann, wenn ein Rechtsbegehren und/oder eine Begründung überhaupt fehlen. Es handle sich bei der erwähnten Bestimmung um eine formelle Vorschrift, die das erstinstanzliche Gericht - ausser in Fällen von offensichtlichem Rechtsmissbrauch - stets verpflichtete, eine Frist zur Verbesserung der Mängel anzusetzen. Mit Bezug auf die Bestimmung von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG hat das Eidgenössische Versicherungsgericht diese Rechtsprechung bestätigt. Auf Grund der grammatikalischen Identität von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG und Art. 10 Abs. 5 ATSV gilt diese Auslegung auch für das Einspracheverfahren (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 99/06 vom 8. September 2006, E. 2.2 mit Hinweisen).
3.3 Ein davon abweichender Rechtssinn kann Art. 10 Abs. 5 ATSV auch nicht auf dem Wege der teleologischen Reduktion gestützt auf Zweck und Rechtsnatur der Einsprache und des Einspracheverfahrens beigelegt werden. Mit der Einsprache wird eine Art Wiedererwägungsverfahren in Gang gesetzt, in welchem die verfügende Stelle Gelegenheit erhält, ihre Verfügung nochmals zu überprüfen, bevor das (Versicherungs-)Gericht sich damit befassen muss. Es sollen damit die gerichtlichen Beschwerdeinstanzen entlastet und das rechtliche Gehör des Betroffenen erweitert werden. Mit diesem Zweck wäre es nicht zu vereinbaren, im Einspracheverfahren strengere Anforderungen an die Verbesserung einer mangelhaften Einsprache innerhalb einer anzusetzenden Nachfrist zu stellen als im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren. Dementsprechend wird auch in der Lehre die Auffassung vertreten, gemäss Art. 10 Abs. 5 ATSV sei bei einer mangelhaften Einsprache "immer" eine Nachfrist anzusetzen. Vorbehalten bleiben einzig Fälle von offensichtlichem Rechtsmissbrauch, wenn rechtskundig vertretene Versicherte mit einer sogenannten vorsorglichen Einsprache ohne Rechtsbegehren und ohne Begründung einzig bezwecken, mittels Nachfrist eine Verlängerung der Einsprachefrist zu erwirken (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 99/06 vom 8. September 2006, E. 2.3 mit Hinweisen).
3.4 Nach Art. 40 Abs. 3 ATSG kann eine vom Versicherungsträger angesetzte Frist aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn die Partei vor Ablauf der Frist darum nachsucht. Diese Norm entspricht inhaltlich Art. 22 Abs. 2 VwVG und war bis zum Inkrafttreten des ATSG als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt (Meyer-Blaser, Allgemeine Rechtsgrundsätze und ATSG, in: Schaffhauser/Schlauri, Sozialversicherungsrechtstagung 2002, St. Gallen 2002, S. 147). Behördlich sind diejenigen Fristen, deren Länge nicht durch das Gesetz bestimmt wird, die mithin durch den Versicherungsträger "angesetzt" werden, welcher dabei die Länge der Frist gegebenenfalls auch individualisierend zu bestimmen hat; dazu zählen etwa Nachfristen, und sie sind - im Gegensatz zu den gesetzlichen Fristen - grundsätzlich erstreckbar (Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Art. 40 Rz. 9; ders., Auswirkungen des ASTG - Erste Erfahrungen, in: Schaffhauser/Kieser, Praktische Anwendungsfragen des ATSG, St. Gallen 2004, S. 19 f.; Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, § 12 N 8; Rhinow/Krähenmann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel/Frankfurt a.M. 1990, S. 311). Die Bewilligung der Fristerstreckung setzt zureichende Gründe voraus. Die Verwaltungspraxis ist diesbezüglich liberal und betrachtet als zureichend etwa das Dartun von Arbeitsüberlastung, den Hinweis auf Ortsabwesenheit oder das Vorbringen der Parteivertretung, es habe mit der Partei noch nicht Kontakt aufgenommen werden können (Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 40 Rz. 9; Kölz/Bosshart/Röhl, a.a.O., § 12 N 9).
Diese offene Praxis steht zwar in einem Spannungsverhältnis zum Gebot des raschen Verfahrens (Art. 61 lit. a ATSG). Indessen liegen sowohl die Bewilligung von Fristerstreckungsgesuchen ihres Rechtsvertreters wie auch der beförderliche Gang des Verfahrens im Interesse der versicherten Person (Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 40 Rz. 9; Kölz/Bosshart/Röhl, a.a.O., § 12 N 8). Es ist daher gerechtfertigt, dass der Versicherungsträger bei Abweisung eines Fristerstreckungsgesuches eine kurze Nachfrist zu setzen hat (Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 40 Rz. 9; Kölz/Bosshart/Röhl, a.a.O., § 12 N 10; Rhinow/Krähenmann, a.a.O., S. 311). Daran ändert auch Rz. 2012 des Kreisschreibens über die Rechtspflege in der AHV, der IV, der EO und bei den EL in der seit 1. Oktober 2005 geltenden Fassung, wonach eine einmalige Nachfrist von höchstens 30 Tagen zu gewähren ist, nichts. Denn das Sozialversicherungsgericht ist an Verwaltungsweisungen nicht gebunden (BGE 132 V 121 E. 4.4 S. 125 mit Hinweisen). Die Weisung in Rz. 2012 findet weder im Gesetz noch Rechtsprechung eine Stütze und verstösst vielmehr gegen die Rechtsprechung zur Nachfrist im Rahmen des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens (ZAK 1986 S. 425 E. 1b), welche durch das Inkrafttreten des ATSG nicht geändert wurde (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts H 305/03 vom 6. Mai 2004, zusammengefasst in ZbJV 2004 S. 752 und HAVE 2004 S. 242; vgl. auch E. 3.2 und Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 61 Rz. 47). Denn wenn im Rahmen des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens die angesetzte Nachfrist auf Gesuch hin zu erstrecken oder bei Ablehnung des Gesuchs zumindest eine kurze Nachfrist anzusetzen ist, so gilt dies umso mehr im Einspracheverfahren, da es - wie in E. 3.3 ausgeführt - nicht angeht, im Einspracheverfahren strengere Anforderungen zu stellen als im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren.
4.
Bei der von der IV-Stelle gesetzten Nachfrist handelt es sich um eine behördlich angesetzte Frist, welche einer Verlängerung zugänglich ist (E. 3.4). Die vorsorgliche Erhebung der Einsprache war nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich, da dem Rechtsvertreter die Akten zur Begründung der Einsprache nicht zur Verfügung standen. Der vom Rechtsvertreter am 29. Mai 2006 geltend gemachte Grund (Arbeitsüberlastung) wird in der Praxis als hinreichend für eine Fristverlängerung erachtet (vgl. etwa Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 40 Rz. 9). Die IV-Stelle ist der Ansicht, eine large Praxis bei der Gewährung von Nachfristen könne zu Rechtsmissbräuchen führen. Dies genügt jedoch nicht, um ein hinreichend begründetes und fristgerecht gestelltes Gesuch um Verlängerung einer behördlichen Frist so zu behandeln, wie wenn es nie gestellt worden wäre. Nach dem Gesagten hätte die IV-Stelle dem Rechtsvertreter bei Nichtgewährung der Fristverlängerung zumindest eine kurze Nachfrist zur Einreichung der Begründung setzen müssen. Die Vorinstanz hat somit zu Recht den Einspracheentscheid vom 15. Juni 2006 aufgehoben und die Sache an die IV-Stelle zur Ansetzung einer erneuten Frist für die Einreichung der Begründung zurückgewiesen.
5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der von 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung). Die unterliegende IV-Stelle hat demnach die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Versicherte Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle für Versicherte im Ausland auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.
3.
Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland hat der Versicherten für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, der Ausgleichskasse Privatkliniken Schweiz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 23. Juli 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: