Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_173/2007 /fun
Urteil vom 28. August 2007
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Thönen.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Daniel Buchser,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht,
1. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
Gegenstand
Haftentlassung,
Beschwerde in Strafsachen gegen den Beschluss
des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 19. Juli 2007.
Sachverhalt:
A.
Der 1968 geborene X.________ wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Lenzburg vom 23. März 2007 unter anderem der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen und mit einer Freiheitsstrafe von 3.5 Jahren bestraft, unter Anrechnung der Untersuchungshaft seit 3. August 2005.
X.________ erhob gegen dieses Urteil mit Eingabe vom 18. Mai 2007 Berufung und beantragte einen Freispruch.
B.
Am 18. Juli 2007 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch, welches das Obergericht des Kantons Aargau mit Beschluss vom 19. Juli 2007 abwies.
C.
X.________ führt mit Eingabe vom 13. August 2007 Beschwerde an das Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene Beschluss des Obergerichts vom 19. Juli 2007 sei aufzuheben und der Beschwerdeführer sei umgehend aus der Haft zu entlassen.
Mit Eingabe vom 14. August 2007 ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
D.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Mit Eingabe vom 27. August 2007 hat der Beschwerdeführer ein Schreiben des Inselspitals Bern vom 16. Januar 2007 an die ärztliche Leitung der Strafanstalt Thorberg nachgereicht.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Auf das Beschwerdeverfahren ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG, SR 173.110) anwendbar (siehe Art. 132 Abs. 1 BGG). Der angefochtene Beschluss vom 19. Juli 2007 stützt sich auf kantonales Strafprozessrecht und kann mit der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001, S. 4313).
2.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 3. August 2005, mithin seit rund zwei Jahren, in strafprozessualer Haft.
Das Obergericht begründete die Abweisung des Haftentlassungsgesuchs vom 18. Juli 2007 mit folgenden Erwägungen: Es bestehe weiterhin Fluchtgefahr, da der Beschwerdeführer in der Türkei eine Liegenschaft besitze, die er vermietet habe. Er sei in regelmässigen Abständen in die Türkei gereist, um die Mietzinseinnahmen abzuholen. Er habe offenbar Verwandte in der Türkei, die die Mietzinse entgegennehmen und für ihn aufbewahren würden. Er habe bis zur Verhaftung mit seiner Freundin zusammengelebt, die aus der Tschechischen Republik stamme und öfters dorthin zurückgekehrt sei. Die Fluchtgefahr könne nicht wirksam durch eine andere Massnahme verhindert werden. Der Beschwerdeführer sei zu einer Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren verurteilt worden. Die Möglichkeit der bedingten Entlassung im Strafvollzug sei bei der Beurteilung der Dauer Untersuchungshaft grundsätzlich ausser Acht zu lassen. Angesichts einer möglicherweise zu verbüssenden Reststrafe von 1 ½ Jahren sei die Haftdauer nicht übermässig.
3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots, des Rechts auf persönliche Freiheit, der allgemeinen Verfahrensgarantien, des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Rechtsgleichheitsgebots. Er bestreitet im Wesentlichen, dass Fluchtgefahr vorliegt. Er sei wegen Rückenproblemen behandlungsbedürftig und könne schon deshalb nicht flüchten. Das Obergericht habe die Vorbringen bezüglich seiner gesundheitlichen Situation und Behandlungsbedürftigkeit übergangen. Überdies stehe die Gewährung der bedingten Entlassung aufgrund des guten Führungsberichts der Strafanstalt Thorberg ausser Zweifel. Daher betrage die vollziehbare Reststrafe im heutigen Zeitpunkt - wenn die Freiheitsstrafe im Berufungsverfahren nicht reduziert oder aufgehoben, die strafprozessuale Haft daran angerechnet und die bedingte Entlassung gewährt werde - lediglich drei Monate. Bei einer Reduktion der Strafe im Berufungsverfahren hätte der Beschwerdeführer bereits zuviel Zeit in Haft verbracht. Er rügt im Weiteren, das Strafverfahren sei zu wenig rasch vorangetrieben worden.
4.
4.1 Gegen den Beschwerdeführer wurde am 23. Oktober 2006 strafrechtliche Anklage erhoben. Er wurde am 23. März 2007 von einem Gericht wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und Beschimpfung verurteilt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, aber die Anklage besteht fort und wird von der Berufungsinstanz zu beurteilen sein. Es ist von einem hinreichenden Tatverdacht auszugehen.
4.2 Nach der Rechtsprechung darf Fluchtgefahr nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat Fluchtgefahr verneint bei einem nicht vorbestraften Angeschuldigten, der besondere Beziehungen zu einem Drittweltland (Guyana) hatte, aber wegen einer Spenderniere auf umfassende medizinische Betreuung angewiesen war, die er in diesem Land nicht erhalten hätte (Urteil 1P.516/2000 vom 7. September 2000 E. 3).
4.3 Im vorliegenden Fall bestehen für die Annahme von Fluchtgefahr genügend konkrete Hinweise. Nach den Darlegungen des Obergerichts ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Türkei ein Auskommen hätte und Unterkunft fände. Daher darf eine Flucht dorthin als wahrscheinlich angenommen werden.
4.4 Bezüglich der Vorbringen zum Gesundheitszustand führt das Obergericht aus, im Führungsbericht der Strafanstalt finde sich lediglich der Vermerk, dass sich der Beschwerdeführer in medizinischer Behandlung befinde. Es erscheine nicht plausibel, dass es dem Angeschuldigten in medizinischer Hinsicht an etwas fehlen sollte, solange er sich in Haft befinde. Damit hat sich das Obergericht zu den gesundheitlichen Einwänden hinreichend geäussert.
Im Übrigen stehen die gesundheitlichen Einwände - anders als im zitierten Urteil (hiervor E. 4.2) - der Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen, denn es liegt weder eine vergleichbare Gesundheitsbeeinträchtigung noch ein vergleichbares Fluchtland vor. Gemäss den Beschwerdebeilagen wurde der Beschwerdeführer am 9. Mai 2005 am Rücken und am 11. Januar 2007 an der Leiste operiert. Er leidet gemäss dem jüngsten Arztzeugnis vom 6. August 2007 unter chronischen Kreuzschmerzen. Er wird darin zwar als behandlungsbedürftig (regelmässige Medikamenteneinnahme und Physiotherapie), aber als arbeitsfähig beurteilt. Diese Umstände wiegen nicht derart schwer, dass sie der Annahme von Fluchtgefahr entgegenstünden.
4.5 Der Beschwerdeführer befindet sich in strafprozessualer Haft wegen Fluchtgefahr und zur Sicherung des Strafvollzugs während des Berufungsverfahrens (Art. 67 Abs. 1 Ziff. 1 und Abs. 2 StPO/AG). Strafprozessuale Haft darf nicht mit Strafhaft (d.h. Freiheitsstrafe im Sinne des Strafgesetzbuches) gleichgesetzt werden. Nach der Rechtsprechung darf die Dauer der strafprozessualen Haft nicht in grosse zeitliche Nähe der konkret zu erwartenden Freiheitsstrafe rücken. Das bedeutet jedoch nicht, dass die strafprozessuale Haft stets so lange dauern darf wie die zu erwartende Strafe. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170; 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f.; 124 I 208 E. 6 S. 215). Die Möglichkeit der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug nach Verbüssung von zwei Drittel der Strafe ist bei der Berechnung der mutmasslichen Dauer der Freiheitsstrafe ausser Acht zu lassen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten (Urteil 1P.138/1991 vom 26. März 1991, publ. in: SZIER 1992 S. 489 f.). Ein Ausnahmefall liegt insbesondere dann vor, wenn die Voraussetzungen von Art. 38 Ziff. 1 aStGB (heute: Art. 86 Abs. 1 StGB) aufgrund der konkreten Umstände aller Wahrscheinlichkeit nach erfüllt sein werden (Urteil 1P.774/2005 vom 14. Dezember 2005 E. 3.4). Hat die Haftdauer bereits zwei Drittel der ausgesprochenen Freiheitsstrafe überschritten und kann die Strafe im Rechtsmittelverfahren nicht erhöht werden, ist eine Prognose über die Gewährung der bedingten Entlassung unabdingbar (Urteil 1P.18/2005 vom 31. Januar 2005 E. 2). Die Sicherheitshaft sollte - besondere Umstände vorbehalten - nicht über drei Viertel dieser Höchstdauer hinaus aufrechterhalten werden (Urteile 1P.256/2000 vom 12. Mai 2000 E. 2d und 1P.219/2000 vom 20. April 2000 E. 2d).
4.6 Im vorliegenden Fall hat die Haftdauer zwei Drittel der ausgesprochenen Freiheitsstrafe noch nicht überschritten. Diese Dauer ist erst in rund vier Monaten erreicht. Das Obergericht war im gegenwärtigen Zeitpunkt verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, zu prüfen, ob ausnahmsweise die Möglichkeit der bedingten Entlassung zu berücksichtigen ist. Dass es die Haftdauer einstweilen als zulässig beurteilte, verletzt kein Verfassungsrecht.
4.7 Der Beschwerdeführer rügt eine übermässige Dauer des Strafverfahrens.
Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt, ist im Haftprüfungsverfahren nur soweit zu beurteilen, als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der strafprozessualen Haft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen (BGE 128 I 149 E. 2.2.1 S. 151 f.; 132 I 21 E. 4.1 S. 28).
Im vorliegenden Fall liegt keine schwere Verfahrensverschleppung vor, die zu einer Haftentlassung führen würde. Unter der Annahme, dass das Berufungsverfahren mit der nötigen Beförderung durchgeführt wird, und unter Verweis auf die vorstehende Erwägung zur Haftdauer, erweist sich das Vorbringen als unbegründet.
5.
Zur Rüge, der Beschwerdeführer werde im Vergleich mit anderen Angeschuldigten und Gefangenen schlechter behandelt, ist auf die Darlegung des Obergerichts zu verweisen, wonach jeder Einzelfall separat zu beurteilen und ein pauschaler Verweis auf andere Personen unbehelflich ist. Ebenso wenig ist die Auffassung des Obergerichts zu beanstanden, wonach andere weniger einschneidende Ersatzmassnahmen (Schriftensperre, Meldepflicht) nicht genügten. Denn diese Massnahmen sind weniger wirksam, um eine Flucht zu verhindern.
6.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen. Bei diesem Ausgang wird der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 BGG). Da jedoch sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht bewilligt wird, sind keine Gerichtskosten zu erheben. Ferner ist dem Rechtsvertreter eine angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 64 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
2.2 Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Daniel Buchser, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 28. August 2007
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: