BGer 8C_129/2007
 
BGer 8C_129/2007 vom 27.11.2007
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_129/2007
Urteil vom 27. November 2007
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Heine.
Parteien
S.________, 1965, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Claude Schnüriger, Aeschenvorstadt 77, 4051 Basel,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 1. Februar 2007.
Sachverhalt:
A.
Der 1965 geborene S.________ arbeitete seit 20. Mai 2002 in der Firma J.________ AG als "Mitarbeiter Pharma" und war bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 22. Juli 2002 zog er sich bei einem Auffahrunfall eine Halswirbelsäulen-Distorsion zu. Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggelder). Nach einer interdisziplinären Begutachtung der Klinik B.________ vom 21. März 2003 und einer kreisärztlichen Untersuchung des Dr. med. I._______, Kreisarzt SUVA, vom 29. Juni 2004 sprach die SUVA dem Versicherten eine Integritätsentschädigung auf Grund einer Integritätseinbusse von 10 %, die Kosten für weiterhin notwendige ärztliche Kontrollen, Erhaltungstherapie im Intervall sowie Schmerzmittel in Zusammenhang mit dem Unfall zu, hingegen wies sie den Anspruch auf eine Invalidenrente ab (Verfügung vom 25. Oktober 2004). Daran hielt die SUVA mit Einspracheentscheid vom 14. März 2005 fest.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 1. Februar 2007 ab.
C.
Mit Beschwerde lässt S.________ beantragen, es sei ihm, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, eine Rente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 100 % und eine Integritätsentschädigung auf der Basis einer Integritätseinbusse von mindestens 50 % zuzusprechen. Ferner sei ihm die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren.
Die SUVA und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Heilbehandlung (Art. 10 Abs. 1 UVG) und Taggelder (Art. 16 Abs. 1 und 2 UVG) sowie die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) zutreffend dargelegt (BGE 119 V 335 E. 1 S. 337). Entsprechendes gilt für die von der Judikatur entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhanges im Allgemeinen (BGE 125 V 456 E. 5a S. 461) sowie bei psychischen Unfallfolgen im Besonderen (BGE 115 V 133), zur Bemessung der Integritätsentschädigung (BGE 116 V 156 E. 3a S. 157) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 122 V 157 E. 1c S. 160). Darauf wird verwiesen.
1.2 Die Adäquanzbeurteilung nach Unfällen mit HWS-Distorsionen (ohne organisch nachweisbare Unfallfolgeschäden) hat grundsätzlich nach der in BGE 117 V 359 E. 6a S. 366 und 369 E. 4b S. 382 dargelegten Rechtsprechung mit ihrer fehlenden Differenzierung zwischen körperlichen und psychischen Beschwerden zu erfolgen (zum Ganzen BGE 123 V 98 E. 2a S. 99, 119 V 335). Von diesem Grundsatz ist abzuweichen, wenn die zum typischen Beschwerdebild eines HWS-Schleudertraumas gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur ausgeprägten psychischen Problematik aber unmittelbar nach dem Unfall ganz in den Hintergrund treten oder die physischen Beschwerden im Verlaufe der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben: diesfalls ist die Prüfung der adäquaten Kausalität praxisgemäss unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall gemäss BGE 115 V 133 vorzunehmen (BGE 123 V 98 E. 2a S. 99; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437 [Urteil U 164/01 vom 18. Juni 2002]).
2.
2.1 Unbestritten ist und fest steht, dass der Beschwerdeführer beim Unfall eine Halswirbelsäulen (HWS) - Distorsion erlitten hat. Gemäss den Akten und Parteivorbringen besteht kein Anlass, den vorinstanzlich in einlässlicher Würdigung der medizinischen Unterlagen und den bejahten (teilweisen) natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem über den 30. September 2004 hinaus fortdauernden, die Leistungsfähigkeit einschränkenden psychischen Beschwerdebild des Versicherten letztinstanzlich erneut der richterlichen Überprüfung zu unterziehen (BGE 110 V 48 E. 4b S. 53). Zu beurteilen bleibt die - einzig - umstrittene Adäquanz des Kausalzusammenhangs.
2.2 Auf Grund der bildgebenden Untersuchung vom 25. Juli 2002 schliessen Dr. med. T.________, Chefarzt, und Dr. med. G.________, Oberarzt, Institut für Radiologie und Nuklearmedizin, Spital L.________, einen Nachweis für eine Gefügelockerung oder Wirbelkörperfrakturen aus und stellen auch keine Befundpathologien fest (Schreiben vom 30. Juli 2002). Nach unbefriedigender konservativer Therapie ersucht der behandelnde Hausarzt Dr. med. M.________, Spezialarzt für Neurologie FMH, um eine Kostengutsprache für weitere Abklärungen an der Klinik B.________. Im Austrittsbericht der Klinik B.________vom 21. März 2003 bestätigen Frau Dr. med. N.________, Oberassistenzärztin, und Dr. med. R.________, Spezialarzt FMH für physikalische Medizin, die Diagnose einer HWS Distorsion. Im neurologischen Konsilium vom 3. Februar 2003 hält Dr. med. Z.________, Leitender Arzt für Neurorehabilitation, zwar eine HWS Distorsion fest, bezweifelt jedoch eine leichte traumatische Hirnverletzung. Das heutige Störungsbild basiere auf psychoreaktiven Störungen und insbesondere auf Angst vor einem Sarkom. Dem neuropsychologischen Bericht vom 12. Februar 2003 des lic. phil. F.________, Psychologe (Klinik B.________) ist die Diagnose einer schweren depressiv-reaktiven und schmerzbedingten Leistungshemmung zu entnehmen. Im psychosomatischen Konsilium vom 6. Februar 2003 stellt Dr. med. T.________, Oberarzt, eine reaktive Depression von aktuell mittelschwerem Ausmass einschliesslich latenter Suizidalität (IDC-10: F32.1) fest.
Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die zum typischen Beschwerdebild nach Schleudertrauma der HWS auftretenden Beeinträchtigungen zwar teilweise vorhanden sind, die geklagten Beschwerden jedoch mit einer medizinisch und psychosozialen belasteten Lebensgeschichte zusammenhängen. Mit der Vorinstanz ist festzuhalten, dass die physischen Beschwerden gesamthaft eine untergeordnete Rolle zwischen Unfall und Beurteilungszeitpunkt gespielt haben, zumal die bildgebenden Untersuchungen keine Auffälligkeiten aufwiesen. Die psychischen Beschwerden sind hingegen dominierend, weshalb die Adäquanzbeurteilung nicht nach den für Schleudertrauma und schleudertraumaähnliche Verletzungen der HWS (BGE 117 V 359 ff: RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317 E. 3; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67), sondern nach den für psychische Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.) geltenden Regeln zu erfolgen hat (BGE 123 V 98 E. 2a S. 99; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437).
2.3 Daran vermögen auch die Ausführungen des Dr. med. V.________ vom 10. April 2006 nichts zu ändern. Im Gegenteil wird anhand seiner Angaben deutlich, dass in Höhe C6/7 die Diskusprotrusion seit den Voruntersuchungen vom Jahr 2002 zugenommen habe. Folglich deutet der einzige Befund im Bereich der Wirbelsäule auf eine alters- und belastungsbedingte Schwäche des Bindegewebes, die sich im Laufe der Jahre verschlechtert hat, und daher nicht unfallbedingt ist. Auch die Ausführungen des Dr. med. C.________, Oberarzt, Spital X.________, im Bericht vom 27. Oktober 2006 schliessen auf eine psychische Überlagerung, weshalb sogar von einer indizierten operativen Behebung der foraminalen Einengungen C 6/7 abgeraten wird.
3.
Unbestrittenermassen werden einfache Verkehrsunfälle im Rahmen der Adäquanzbeurteilung in der Regel als mittelschwer im Grenzbereich zu den leichten Unfällen qualifiziert (vgl. RKUV 2005 Nr. U 549 S. 237 E. 5.1.2 mit Hinweisen). Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs wäre daher zu bejahen, wenn ein einzelnes der in die Beurteilung einzubeziehenden Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt wäre oder mehrere der zu berücksichtigenden Kriterien gegeben wären (BGE 115 V 133 E. 6c/bb S. 140).
Der Unfall vom 22. Juli 2002 hat sich nicht unter besonders dramatischen Begleitumständen ereignet noch war er - objektiv betrachtet (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 209 E. 3b/cc; vgl auch RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313) - von besonderer Eindrücklichkeit. Er hatte auch keine schweren Verletzungen oder Verletzungen besonderer Art zur Folge. Die Diagnose eines Schleudertraumas oder einer schleudertraumaähnlichen Verletzung der HWS vermag die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzung und insbesondere ihre erfahrungsgemässe Eignung, psychische Fehlentwicklungen auszulösen, für sich allein nicht zu begründen. Es bedarf hiezu einer besonderen Schwere der für das Schleudertrauma typischen Beschwerden oder besonderer Umstände, welche das Beschwerdebild beeinflussen können (Urteile U 79/05 vom 10. Februar 2006, U 386/04 vom 28. April 2005, und U 371/02 vom 4. September 2003). Diese können beispielsweise in einer beim Unfall eingenommenen besonderen Körperhaltung und den dadurch bewirkten Komplikationen bestehen (RKUV 2003 Nr. U 489 S. 361 E. 4.3 mit Hinweisen). Solche Umstände sind hier nicht gegeben. Zutreffend hat die Vorinstanz auch das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung ausgeschlossen (Urteile U 82/04 vom 14. März 2005, U 361/02 vom 24. September 2003, und U 357/01 vom 8. April 2002). Im Vordergrund stand die Behandlung eines weitgehend psychisch bedingten Schmerzsyndroms, was bei der Adäquanzbeurteilung unberücksichtigt zu bleiben hat (Urteil U 79/05 vom 10. Februar 2006). Von einer ärztlichen Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hat, kann ebenso wenig gesprochen werden wie von einem schwierigen Heilungsverlauf und massiven Komplikationen. So sind auch keine körperlichen Dauerschmerzen ausgewiesen, jedenfalls nicht in ausgeprägter Weise, vielmehr wird auf eine eingeschränkte Sensibilität hingewiesen. Die Vorinstanz schliesst hingegen das Kriterium der somatisch bedingten Arbeitsunfähigkeit nicht aus, jedoch verneint sie zu Recht dessen ausgeprägte Form, zumal die psychische Symptomatik im Vordergrund steht. Da somit weder eines der für die Adäquanzbeurteilung massgebenden Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist, noch mehrere der zu berücksichtigenden Kriterien gegeben sind, ist die Adäquanz der geltend gemachten Beschwerden zu verneinen.
Wie im Einspracheentscheid vom 14. März 2005 richtig festgehalten wurde, entfällt in der Folge ein Anspruch auf weitere Versicherungsleistungen in Form einer Invalidenrente und/oder einer Integritätsentschädigung. Gestützt auf Art. 107 Abs. 1 BGG ist das Bundesgericht jedoch an die Parteibegehren gebunden, weshalb letztinstanzlich eine reformatio in peius bezüglich der Integritätsentschädigung nicht vorgenommen werden kann (Seiler/von Werth/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 455 N 2-3).
4.
Die unentgeltliche Rechtspflege kann gewährt werden (Art. 64 BGG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Dr. Claude Schnüriger, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 27. November 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Ursprung Heine