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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B_613/2007 /hum
Urteil vom 11. Dezember 2007
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Briw.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Rolf Röthlisberger,
gegen
Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB); psychiatrische Begutachtung,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 23. Februar 2007.
Sachverhalt:
A.
X.________ verletzte am 21. August 2004 mit einem Metzgermesser A.________ am Hals. Sie erlitt dabei eine ca. 12 bis 14 cm lange Schnittwunde vorne am Hals, eine oberflächliche, ca. 6 cm lange Verletzung an der linken Halsseite sowie zwei kleinere Stich- bzw. Schnittverletzungen an der linken Schulter und an der linken Hand. Der Halsschnitt führte zu lebensgefährlichem Blutverlust, der einen notfallmässigen chirurgischen Eingriff notwendig machte.
B.
Am 16. März 2006 sprach ihn das Kreisgericht VIII Bern-Laupen in Anwendung von Art. 10 aStGB wegen Unzurechnungsfähigkeit von der Anschuldigung der versuchten vorsätzlichen Tötung frei und wies ihn gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB in eine Heil- oder Pflegeanstalt ein. Es verfügte die Rückkehr in den Strafvollzug, um den Übertritt in den stationären Massnahmevollzug vorzubereiten.
Auf seine Appellation hin sprach ihn das Obergericht des Kantons Bern von der Anschuldigung der versuchten vorsätzlichen Tötung ebenfalls in Anwendung von Art. 10 aStGB frei und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB an.
C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des Obergerichts aufzuheben (soweit es nicht bereits in Rechtskraft erwachsen sei), ihn wegen schwerer Körperverletzung schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen, eventuell die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, schliesslich ihm für das Verfahren vor Bundesgericht die unentgeltliche Verbeiständung und Prozessführung zu gewähren.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Vorinstanz spricht den Beschwerdeführer wegen Unzurechnungsfähigkeit (Art. 10 aStGB) frei. Ausgangspunkt für die Annahme der Unzurechnungsfähigkeit bildet seine wahnhafte Vorstellung, er und sein Sohn seien unter Schlafmitteleinfluss sexuell missbraucht worden. Die Vorinstanzen legen mit sehr ausführlicher Begründung dar, dass diese Behauptung nicht der Realität entspricht und eindeutig paranoiden Charakters ist.
Die Gutachterin stellte im psychiatrischen Gutachten vom 30. November 2004 beim Beschwerdeführer einen ausgeprägten systematisierten Wahn fest und diagnostizierte eine wahnhafte Störung (ICD-10 F 22.0) ohne Krankheitseinsicht im Tatzeitraum und aktuell, wobei die sich seit etwa fünf bis sechs Jahren manifestierende und einen chronischen Verlauf zeigende Störung durch einen im Vordergrund stehenden Wahn charakterisiert sei, der auf dem Boden einer allgemeinen Veränderung des Erlebens stehe, als Fehlbeurteilung der Realität imponiere, die mit erfahrungsunabhängiger Gewissheit auftrete und an der mit subjektiver Gewissheit festgehalten werde, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der gesunden Mitmenschen sowie zu ihrem kollektiven Meinen und Glauben stehe. Die Gutachterin entkräftete den Missbrauchsvorwurf eindeutig. Nach dem Gutachten lag zur Tatzeit eine ausgeprägte wahnhafte Symptomatik vor, welche dazu führte, dass das Handeln des Beschwerdeführers nicht mehr von allgemein verbindlichen Rechtsgedanken geleitet werden konnte. Es ist von einer Aufhebung der Einsichtsfähigkeit und damit der Zurechnungsfähigkeit insgesamt auszugehen, wobei die Alkoholisierung zur Tatzeit nur eine untergeordnete, allenfalls akzentuierende Rolle spielte. Die Gutachterin empfahl eine Massnahme, wobei wegen der Schwere und Chronizität des Störungsbildes und der aus dem Störungsbild resultierenden Gefährdung Dritter eine stationäre Behandlung gemäss Art. 43 aStGB mit medikamentösen psychotherapeutischen und psychoedukativen Elementen, zunächst unter gesicherten Bedingungen, auch gegen den Willen des Beschwerdeführers erforderlich sei (angefochtenes Urteil S. 27 ff. mit Hinweisen auf das Urteil des Kreisgerichts und das Gutachten, act. 307 - 328).
Im Zusatzgutachten vom 29. Juni 2005 (act. 365 ff.) nahm die Gutachterin zu Fragen der Verteidigung Stellung. Ferner bestätigte sie in einem Nachtrag vom 21. Juli 2005 (act. 389) ihre im Gutachten geäusserte Auffassung. In einer weiteren schriftlichen Stellungnahme vom 6. März 2006 (act. 674 - 677) bekräftigte sie ihre bereits schriftlich dargelegte Auffassung in Kenntnis des Hauptverhandlungsprotokolls und damit auch der Aussagen des Beschwerdeführers sowie von Dr. P.________ (angefochtenes Urteil S. 31).
Das Kreisgericht wie die Vorinstanz (auch in ihrem Beschluss vom 22. September 2006) haben mit sehr ausführlichen Begründungen den Antrag des Beschwerdeführers auf Einholung eines neuen Gutachtens abgelehnt (angefochtenes Urteil S. 32 - 39).
1.2 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe seinen psychischen Zustand ungenügend abgeklärt und willkürlich festgestellt. Sie habe es in Verletzung von Bundesrecht unterlassen, mehrere wesentliche und notwendige Beweismassnahmen durchzuführen. Für den Verfahrensausgang seien eine erneute psychiatrische Begutachtung und weitere Beweisaufnahmen offensichtlich entscheidend.
2.
2.1 Gemäss Art. 95 BGG sind die drei Einheitsbeschwerden (Beschwerde in Zivilsachen, Beschwerde in Strafsachen und Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) unter anderem zulässig wegen Verletzung von Bundesrecht oder Völkerrecht (Art. 95 lit. a und b BGG). Zum Begriff "Bundesrecht" im Sinne von Art. 95 lit. a BGG gehört auch Bundesverfassungsrecht (Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001, BBl 2001 4202, S. 4335). Sodann kann die Feststellung des Sachverhalts gerügt werden, allerdings nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 BGG). Da eine im Ergebnis offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts gegen das Willkürverbot gemäss Art. 9 BV verstösst (Botschaft, a.a.O., S. 4338), stellt sie ebenfalls eine Verletzung von Bundesrecht beziehungsweise Bundesverfassungsrecht dar (zur Veröffentlichung vorgesehener BGE 6B_89/2007 vom 24. Okt. 2007, E. 1.4.1).
2.2 Das Gericht würdigt Gutachten grundsätzlich frei (Art. 249 BStP, SR 312.0). Es darf in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe vom Gutachten abweichen und muss Abweichungen begründen. Das Abstellen auf nicht schlüssige Gutachten kann gegen Art. 9 BV verstossen, wenn gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern. Willkür liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht, wenn das Urteil sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn es im Ergebnis verfassungswidrig ist. Gemäss den in Art. 32 Abs. 1 BV und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK (SR 0.101) verankerten Grundsatz in dubio pro reo ist bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist (BGE 129 I 49 E.4; 128 I 81 E. 2, je zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung).
2.3 Das Gericht kann Beweisanträge abweisen, wenn es angesichts der bereits abgenommenen Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (Urteil 6B_283/2007 vom 5. Okt. 2007, E. 2 mit Hinweis auf BGE 131 I 153 E. 3; 125 I 127 E. 6c/cc; 124 I 208 E. 4a).
2.4 Die Vorinstanz ist weder in Willkür verfallen, als sie auf das Gutachten (mit Ergänzungsgutachten und Nachtrag sowie mündlichen Ausführungen) abstellte, noch war es willkürlich und verletzte es das Gehörsrecht des Beschwerdeführers, die Beweisanträge abzulehnen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers spricht es nicht gegen die Qualität eines Gutachtens, wenn dieses bereits zwei Monate nach Auftragserteilung erstattet wird. Zu Recht führt er selber an, das rasche Vorliegen eines Gutachtens sei für den beförderlichen Fortgang des Verfahrens an sich zu begrüssen, was nur unterstrichen werden kann. Weder ist zu beanstanden, dass es der Gutachterin sehr rasch klar war, wie sie den Beschwerdeführer zu beurteilen hatte, noch auch, dass dieser erst nach Erstellung des Gutachtens zu den Ausführungen der Gutachterin Fragen stellen und Ergänzungen verlangen konnte. Wie er selber einräumt, ist dies "üblich und nicht anders möglich" (Beschwerde S. 9). Dass eine Gutachterin nur bei "klaren Gegenargumenten" ihre einmal geäusserte Fachmeinung revidieren würde, liegt auf der Hand. Der Beschwerdeführer selber erachtet das Vorgehen der Gutachterin als nachvollziehbar, wenn sie seine Darstellungen über die an ihm und an seinem Sohn verübten Missbräuche nicht glaubte, sondern die Diagnose einer wahnhaften Störung ohne Krankheitseinsicht diagnostizierte. Er führt selber aus, dass die meisten involvierten und mit dieser Geschichte konfrontierten Personen spontan mit Unverständnis und Ablehnung reagiert hätten (Beschwerde S. 10). Darüber hinaus hat die Vorinstanz unter Berufung auf das Kreisgericht und noch unter Ausklammerung des Gutachtens die Missbrauchsvorwürfe in einer sorgfältigen Beweiswürdigung als ergebnislos erachtet (angefochtenes Urteil S. 39 - 41). Der Beschwerdeführer vermag nicht darzutun, was an dieser Würdigung willkürlich sein sollte. Einzig darauf hinzuweisen, die Strafverfolgungsbehörden seien seinen Missbrauchsvorwürfen stets nur punktuell und oberflächlich nachgegangen (Beschwerde S. 11), vermag Willkür nicht darzutun. Entgegen seiner Auffassung vermögen diese Beweiswürdigung und das Gutachten sehr wohl seine Behauptungen zu widerlegen. Auch seine Berufung auf Dr. P.________, der im Verfahren die Auffassung vertreten haben soll, dass es für die Diagnose einer wahnhaften Störung vorab Klarheit über den Wahrheitsgehalt der Missbrauchsgeschichten brauche, vermag nicht Willkür darzutun. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, dass die Darstellung der Vorinstanz (mit Verweisung auf das Kreisgericht), wonach Dr. P.________ ihn kaum genügend gut kannte und die Behandlung wegen sprachlicher Schwierigkeiten selber aufgab, nicht zutreffe oder sogar willkürlich gewesen sein sollte. Dr. P.________ hatte seit Dezember 2003 bis zwei Wochen vor der Hauptverhandlung keinen Kontakt mehr mit dem Beschwerdeführer, so dass er auch nicht volle Aktenkenntnis hatte und in der bezirksgerichtlichen Hauptverhandlung fälschlich bemerkt hatte, dass der Missbrauchsbehauptung ungenügend nachgegangen worden sei. Zudem hatte er als Therapeut eine andere Stellung bzw. einen anderen Auftrag als ein unabhängiger Gutachter. Auf die nicht näher belegte Aussage eines Zeugen (Z.________) lässt sich die Behauptung des Missbrauchs nicht stützen.
Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers sind ausführliche Abklärungen über die Behauptung des sexuellen Missbrauchs getroffen worden (anschaulich Urteil des Kreisgerichts, act. 831 - 835), und zwar - wiederum entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers - auch polizeilicher Natur. Er legt nicht im Geringsten dar, inwiefern weitere Abklärungen (Beschwerde S. 13) zu einem anderen Ergebnis hätten führen können.
3.
Zusammenfassend stellt die Vorinstanz willkürfrei auf das in jeder Hinsicht schlüssige Gutachten ab. Nicht zu beanstanden ist, dass die Vorinstanz anstelle eines Zweit- oder Obergutachtens ein Ergänzungsgutachten (mit Nachtrag) anordnete. Der Beschwerdeführer konnte an der Hauptverhandlung der Gutachterin Fragen stellen. Ein Zweitgutachten oder Ergänzungsgutachten ist einzuholen, wenn der gutachterliche Befund nicht genügt. Welche Art von Gutachten anzuordnen ist, ist Ermessensfrage. Ein Zweitgutachten steht im Vordergrund, wenn das Gericht ein bestehendes Gutachten für klar unzureichend und kaum verwertbar erachtet (Urteil 6B_283/2007 vom 5. Okt. 2007, E. 2). Vorliegend ist das Gegenteil der Fall.
4.
Damit sind auch die vor Bundesgericht gestellten Beweisanträge (Beschwerde S. 14) offensichtlich unbegründet, so dass offen bleiben kann, ob darauf überhaupt eingetreten werden könnte.
5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) ist abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Seiner finanziellen Lage ist mit einer herabgesetzten Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. Dezember 2007
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: