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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_113/2008 /daa
Urteil vom vom 22. Mai 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Haag.
Parteien
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Cornel Wehrli,
gegen
Bezirksamt Aarau, Laurenzenvorstadt 12, 5001 Aarau,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.
Gegenstand
Gesuch um Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 31. März 2008 des Obergerichts des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer.
Sachverhalt:
A.
Das Bezirksamt Aarau führt gegen X.________ eine kurz vor dem Abschluss stehende Strafuntersuchung wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Beschuldigte befindet sich seit dem 17. Oktober 2007 in Untersuchungshaft, welche mit Verfügung des Präsidiums der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau vom 31. Oktober 2007 unter anderem wegen Fortsetzungsgefahr bis zum Eingang der Anklage beim Gericht verlängert wurde. Ein Haftentlassungsgesuch von X.________ wies das Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts mit Verfügung vom 14. April 2008 ab.
Am 11. März 2008 ersuchte X.________ um Versetzung in eine geeignete stationäre Therapie im Sinne eines vorzeitigen Massnahmenantritts. Dieses Gesuch wurde vom Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts mit Verfügung vom 31. März 2008 abgewiesen.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 6. Mai 2008 beantragt X.________, die Verfügung des Obergerichts vom 31. März 2008 sei aufzuheben. Sie sei im Sinne eines vorzeitigen Massnahmenantritts in eine geeignete stationäre Therapie zu versetzen. Eventuell sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit, der Rechtsgleichheit, des Willkürverbots sowie von Art. 58 StGB.
C.
Das Bezirksamt Aarau, die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und das Obergericht verzichten auf eine Stellungnahme zur Beschwerde.
Erwägungen:
1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht zu Grunde liegt. Somit kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (BGE 132 I 270 E. 1.1 S. 273 mit Hinweis). Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Die Beschwerdeführerin hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Sie ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da das Bundesgericht nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden kann, ist der Antrag auf Versetzung in den vorzeitigen Massnahmenantritt zulässig (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_90/2007 vom 7. Juni 2007 zum vorzeitigen Strafantritt). Auf die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist einzutreten.
2.
Bei der vorliegenden Beschwerdesache handelt es sich nicht um einen Haftprüfungsfall im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV. Die Beschwerdeführerin beantragt nicht, sie sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft in die Freiheit zu entlassen. Vielmehr stellt sie den Antrag, der Freiheitsentzug sei zwar faktisch weiterzuführen, anstelle der Untersuchungshaft sei ihr jedoch der vorzeitige Antritt einer Massnahme (Suchtbehandlung einer jungen Erwachsenen, Art. 60 f. StGB) zu ermöglichen.
2.1 Ist die Anordnung einer Massnahme nach den Art. 59-61 StGB zu erwarten, so kann einem Täter gestattet werden, den Vollzug vorzeitig anzutreten (Art. 58 Abs. 1 StGB). Das kantonale Recht kann den vorzeitigen Vollzug von bestimmten weiteren Voraussetzungen abhängig machen, wie vor allem von einem entsprechenden Gutachten oder einer bereits begonnenen, Erfolg versprechenden Behandlung. Die Zuständigkeit für die Anordnung ergibt sich aus dem kantonalen Recht (Günter Stratenwerth/Wolfgang Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, Bern 2007, Art. 58 Rz. 1).
Nach § 75 Abs. 5 der Aargauer Strafprozessordnung vom 11. November 1958 (StPO/AG) kann anstelle von Untersuchungshaft in sinngemässer Anwendung von § 75 Abs. 3 und 4 StPO/AG der vorzeitige Vollzug einer Massnahme gestattet oder angeordnet werden. § 75 Abs. 3 StPO/AG ermöglicht die Durchführung der Untersuchungshaft in einer Strafanstalt und regelt die Zuständigkeit zu deren Anordnung. § 75 Abs. 4 StPO/AG bestimmt, dass ein Verhafteter auch bei einer solchen Versetzung bis zur rechtskräftigen Verurteilung Untersuchungshäftling bleibt, jedoch der Hausordnung der Strafanstalt untersteht, soweit es mit dem Zweck der Untersuchungshaft vereinbar ist.
2.2 Im angefochtenen Entscheid wird die Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts abgelehnt, weil die Beurteilung, ob eine Strafe oder eine Massnahme anzuordnen sei, in der Regel dem Sachrichter vorzubehalten sei. Eine vorzeitige Anordnung einer Massnahme präjudiziere faktisch die vom Strafrichter auszufällende Strafe und/oder Massnahme derart, dass nur in dringendsten Fällen dem Entscheid des zuständigen Sachgerichts vorgegriffen werden solle. Der vorzeitige Beginn einer Suchtbehandlung sei im vorliegenden Fall nicht dringend notwendig. Die Beschuldigte befinde sich seit Oktober 2007 im Untersuchungshaft, habe seither keine Drogen konsumiert und müsse keine wesentlichen Ersatzmedikamente einnehmen. Die Suchtfolgen seien nicht derart erheblich, dass ihnen nur mit einem sofortigen Massnahmenbeginn begegnet werden könne und ein späterer Massnahmenbeginn weniger wirksam erschiene. Die Strafuntersuchung sei abgeschlossen und das Verfahren stehe vor der Anklageerhebung. Eine spezielle Dringlichkeit, eine vorzeitige Massnahme kurz vor dem Hauptverfahren vor Gericht anzuordnen, liege nicht vor.
2.3 Die Beschwerdeführerin bezeichnet zunächst die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft anstelle der Anordnung einer stationären suchttherapeutischen Massnahme im Hinblick auf die Beschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) als unverhältnismässig (Art. 36 Abs. 3 BV). Sie bezieht sich dabei auf eine Erwägung des Obergerichts in seiner Verfügung vom 14. April 2008 betreffend Haftentlassung, welche nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet. Wie in E. 2 hiervor ausgeführt, handelt es sich beim vorliegenden Verfahren nicht um einen Haftprüfungsfall im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV. Zu beurteilen ist lediglich die Frage, ob das Obergericht die Voraussetzungen für den vorzeitigen Massnahmenantritt verneinen durfte.
2.4 Die Beschwerdeführerin hält die Argumentation des Obergerichts, die vorzeitige Anordnung einer Massnahme komme nur in dringendsten Fällen in Frage, für bundesrechtswidrig. Aus Art. 58 StGB und dem kantonalen Recht ergebe sich keine entsprechende Einschränkung. Dem Entscheid des Sachrichters werde mit dem vorzeitigen Massnahmenantritt nicht vorgegriffen, sondern das Gericht sei bei einer bereits laufenden Therapie viel besser in der Lage zu beurteilen, ob diese tatsächlich Erfolg verspreche.
2.5 Art. 58 StGB und § 75 Abs. 5 StPO/AG belassen mit den darin enthaltenen Kann-Formulierungen dem zuständigen Richter ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung, in welchen Fällen ein vorzeitiger Massnahmenantritt bewilligt werden soll. Der Beschwerdeführerin und dem Obergericht ist darin zuzustimmen, dass die Massnahmebedürftigkeit, die Massnahmefähigkeit und die Massnahmewilligkeit durch ein sachverständiges Gutachten klar ausgewiesen sind. Die Auffassung des Obergerichts, der vorzeitige Massnahmenantritt sei mit Rücksicht auf die Entscheidkompetenzen des Sachrichters nur in dringenden Fällen anzuordnen, steht jedoch nicht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung. Auch die Verneinung der Dringlichkeit des Massnahmenantritts ist vor dem Hintergrund des Gesundheitszustands der Beschwerdeführerin und der offenbar unmittelbar vor dem Abschluss stehenden Strafuntersuchung nicht zu beanstanden. Somit erscheint die im angefochtenen Entscheid zum Ausdruck gebrachte Ermessensausübung nicht als bundesrechtswidrig, auch wenn die Dringlichkeit der Massnahme im Gesetz nicht ausdrücklich als Voraussetzung für den vorzeitigen Massnahmenantritt erwähnt ist. Die vom Obergericht geübte Zurückhaltung bei der Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts beruht auf sachlichen Gründen und steht mit den tatsächlichen Verhältnissen im Einklang, weshalb der Willkürvorwurf (Art. 9 BV) fehl geht. Auch ist keine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots (Art. 8 BV) erkennbar, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich in den erwähnten Vergleichsfällen die Frage der Dringlichkeit gleich wie in Bezug auf die Beschwerdeführerin darstellte. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.
3.
Die Beschwerdeführerin ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. Ihre Mittellosigkeit kann bejaht werden, und die Beschwerde erscheint nicht als von vornherein aussichtslos. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG wird deshalb bewilligt. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben und dem Vertreter der Beschwerdeführerin ist eine Entschädigung auszurichten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Cornel Wehrli, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Bezirksamt Aarau sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Mai 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Haag