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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_140/2008 /fun
Urteil vom 17. Juni 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Haag.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Raphaël Camp,
gegen
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach 1233, 8026 Zürich.
Gegenstand
Vorzeitiger Strafantritt,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 21. Mai 2008
der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich.
Sachverhalt:
A.
X.________ wird unter anderem vorgeworfen, den neuen Lebenspartner seiner früheren Ehefrau mit dem Tod bedroht zu haben. Er wurde mit Verfügung des Haftrichters des Bezirks Uster vom 28. Januar 2008 in Untersuchungshaft versetzt. Am 25. April 2008 ordnete der Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich als Haftrichter die Fortsetzung der Untersuchungshaft einstweilen längstens bis 28. Juli 2008 an. Der Haftrichter verneinte das Vorliegen von Kollusionsgefahr und stützte die Haftverlängerung nebst dem dringenden Tatverdacht auf Fortsetzungs- und Ausführungsgefahr.
Nach der Schlusseinvernahme durch die Staatsanwaltschaft ersuchte der Beschuldigte am 20. Mai 2008 um Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts. Die Staatsanwaltschaft lehnte dieses Begehren mit Verfügung vom 21. Mai 2008 ab. Sie führte aus, die Strafuntersuchung sei zwar abgeschlossen. Zusätzlich zur Wiederholungsgefahr bestünde jedoch Kollusionsgefahr, da im Strafvollzug aus betrieblichen Gründen die Aussenkontakte nicht hinreichend kontrolliert werden könnten.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 23. Mai 2008 beantragt X.________ im Wesentlichen, ihm sei sofort der vorzeitige Strafantritt zu gewähren.
Die Staatsanwaltschaft teilt mit, gegen den Beschuldigten sei am 20. Mai 2008 Anklage wegen Drohung erhoben worden. Im Übrigen verzichtet sie auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Bei der angefochtenen Verfügung der Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen Entscheid in Strafsachen, welcher der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG unterliegt. § 71a Abs. 3 der kantonalen Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH) bezeichnet den Entscheid der Staatsanwaltschaft über den vorzeitigen Strafantritt als endgültig. Ein kantonales Rechtsmittel gegen diesen Entscheid ist somit entgegen der Rechtsmittelbelehrung in der angefochtenen Verfügung nicht gegeben. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da das Bundesgericht nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden kann, ist der Antrag auf sofortige Gewährung des vorzeitigen Strafantritts zulässig (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_90/2007 vom 7. Juni 2007 E. 1). Auf die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist einzutreten.
2.
Bei der vorliegenden Beschwerdesache handelt es sich nicht um einen Haftprüfungsfall im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV. Der Beschwerdeführer beantragt nicht, er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft in die Freiheit zu entlassen. Vielmehr stellt er den Antrag, der Freiheitsentzug sei nicht mehr in Form der Untersuchungshaft durchzuführen, sondern ihm sei stattdessen der vorzeitige Antritt einer Freiheitsstrafe (im ordentlichen Strafvollzug) zu ermöglichen.
2.1 Untersuchungs- oder Sicherheitshaft kann in vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug umgewandelt werden, wenn die richterliche Anordnung einer unbedingten Strafe oder einer sichernden Massnahme zu erwarten ist und der Zweck des Strafverfahrens nicht gefährdet wird (§ 71a Abs. 3 StPO/ZH). Für alle strafprozessualen Häftlinge (inklusive Gefangene im vorzeitigen Straf- und Massnahmenvollzug) gilt die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV). Ausserdem können sie sich auf die einschlägigen Verfahrensgarantien von Art. 31 BV berufen (BGE 133 I 270 E. 2 S. 275 mit Hinweisen) und jederzeit ein Begehren um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug stellen (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 79 f.). Dieses Gesuch darf nur abgewiesen werden, wenn strafprozessuale Haftgründe fortdauern und die Dauer der Haft bzw. des Strafvollzugs nicht in die Nähe der konkret zu erwartenden Strafe gerückt ist (BGE 133 I 270 E. 3.4.2 S. 281 mit Hinweisen; 117 Ia 72 E. 1d S. 80).
Liegt ausser dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts Kollusionsgefahr vor, steht einer Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit von Art. 10 Abs. 2 BV grundsätzlich nichts entgegen. Es ist diesfalls auch nicht verfassungswidrig, ein Gesuch des Untersuchungsgefangenen um vorzeitigen Strafantritt und damit um Überführung in den Strafvollzug abzuweisen, da in den Vollzugsanstalten nicht gewährleistet werden kann, dass die Kollusionsgefahr wirkungsvoll gebannt wird (Urteil des Bundesgerichts 1P.724/2003 vom 16. Dezember 2003). Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts vereitelt oder gefährdet. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt indessen die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4c S. 261).
Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Angeschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhalts sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (vgl. BGE 132 I 21 E. 3.2.1; 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4b S. 261, je mit Hinweisen).
Nach Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigen Prüfung. Er dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Zwar ist auch die richterliche Sachaufklärung vor unzulässiger Einflussnahme zu bewahren, insbesondere im Hinblick auf die (in der Regel beschränkte) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme anlässlich der Hauptverhandlung. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind jedoch grundsätzlich an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2.2; 117 Ia 257 E. 4b S. 261; je mit Hinweisen).
2.2 Das Vorliegen des dringenden Tatverdachts wird vorliegend nicht bestritten. Der Beschwerdeführer führt aus, es sei nicht nachvollziehbar, inwiefern Kollusionsgefahr bestehe. Er sei bereits mit allen relevanten Zeugen konfrontiert worden, und weitere Zeugen seien nach der Aktenlage nicht zu finden. Dem Beschuldigten könne nicht vorgeworfen werden, er habe versucht, Zeugen zu beeinflussen oder den Anzeigeerstatter zum Rückzug der Strafanzeige zu veranlassen. Auch sei nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Untersuchungshandlungen sich noch aufdrängen könnten. Der zuständige Haftrichter sei in seiner Verfügung vom 25. April 2008 ebenfalls zum Schluss gekommen, dass keine Kollusionsgefahr mehr bestehe. Als besonderer Haftgrund sei lediglich die Wiederholungsgefahr bejaht worden.
2.3 In BGE 132 I 21 (E. 3.4 und 3.5 S. 25 ff.) bejahte das Bundesgericht Kollusionsgefahr in einem Fall, in welchem dem Angeklagten vorgeworfen wurde, bei seinen Aktivitäten zur Förderung der Prostitution bzw. im Rahmen des Menschenhandels massiven Druck auf verschiedene Geschädigte und deren Angehörige ausgeübt zu haben, durch Drohungen, Nötigungen, Tätlichkeiten und Erpressungsversuche. Bei dieser Aktenlage dürfe von einer besonders ausgeprägten Neigung des Beschwerdeführers zu Kollusionshandlungen ausgegangen werden, weshalb der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr auch im fortgeschrittenen Verfahrensstadium ausreichend erstellt sei.
Auch in den anderen Fällen, in denen das Bundesgericht Kollusionsgefahr nach Anklageerhebung bejahte, bestanden konkrete Hinweise dafür, dass der Angeschuldigte bei einer Haftentlassung auf Zeugen Einfluss nehmen werde, um sie zu einem Widerruf oder einer Abschwächung ihrer belastenden Aussagen zu veranlassen (vgl. Entscheide 1P.612/2004 vom 11. November 2004 E. 3.4; 1P.788/2000 vom 11. Januar 2001 E. 2d) oder es lagen andere Umstände vor, die eine Beeinflussung wichtiger Belastungszeugen als wahrscheinlich erscheinen liessen (vgl. Entscheid 1P.548/1997 vom 27. Oktober 1997 E. 2c und d: geringes Alter des Opfers, das im selben Haus wohnte wie der Beschwerdeführer und dessen Angehörige).
2.4 Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer seit Einleitung des Strafverfahrens nicht versucht, Kontakt zu Zeugen aufzunehmen und diese zu beeinflussen. Der zuständige Haftrichter ist in seiner Verfügung vom 25. April 2008 zum Schluss gekommen, Kollusionsgefahr sei zu verneinen, da keine noch nicht einvernommene Zeugen bekannt seien und keine Gefahr ersichtlich sei, dass der Beschuldigte die bereits befragten Zeugen zu beeinflussen versuche. Die Kollusionsgefahr sei neu zu beurteilen, falls neue Zeugen bekannt werden sollten.
Die Vorinstanz hat sich mit diesen Ausführungen nicht auseinandergesetzt und insbesondere keine neuen noch nicht befragten Zeugen genannt. Sie stützt sich im angefochtenen Entscheid lediglich auf die allgemeine Tatsache, dass im Strafvollzug aus betrieblichen Gründen die Aussenkontakte nicht hinreichend kontrolliert werden könnten. Damit werden jedoch keine konkreten Anhaltspunkte für die Bejahung der Kollusionsgefahr beim Beschwerdeführer genannt, sondern es wird lediglich Ziff. 33.19 der Weisungen der Staatsanwaltschaft wiedergegeben, nach welcher der vorzeitige Strafantritt bei Kollusionsgefahr generell nicht in Frage kommt. Mit diesem Hinweis wird die konkrete Kollusionsgefahr in Bezug auf den Beschwerdeführer nicht begründet. Im Übrigen nennt die Vorinstanz keine Anhaltspunkte, welche für die Bejahung der Kollusionsgefahr sprechen würden.
3.
3.1 Es ergibt sich, dass in der angefochtenen Verfügung die Kollusionsgefahr ohne hinreichende Begründung bejaht wird. Die Staatsanwaltschaft hätte ihre Abweichung von der Beurteilung in der Haftrichterverfügung vom 25. April 2008 aufgrund neuer Untersuchungsergebnisse begründen müssen. Solche neuen Erkenntnisse sind nicht ersichtlich, weshalb die angefochtene Verfügung aufzuheben ist.
3.2 Das Vorliegen von Wiederholungsgefahr wird nicht bestritten, so dass der vorzeitige Strafantritt grundsätzlich in Frage kommen kann. Der Staatsanwaltschaft ist Gelegenheit zu geben, die übrigen Voraussetzungen von § 71a Abs. 3 StPO/ZH für die Anordnung des vorzeitigen Strafantritts zu prüfen, weshalb die beantragte sofortige Versetzung des Beschwerdeführers in den vorzeitigen Strafvollzug im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren nicht angeordnet werden kann. Im Laufe der weiteren Beurteilung kann die Staatsanwaltschaft in Übereinstimmung mit der Haftrichterverfügung vom 25. April 2008 auch allfällige neue konkrete Umstände berücksichtigen, welche für die Bejahung der Kollusionsgefahr sprechen würden. Sollten entsprechende Anhaltspunkte jedoch nicht vorliegen, so müsste bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen von § 71a Abs. 3 StPO/ZH der vorzeitige Strafantritt gewährt werden.
3.3 Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG) und es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich vom 21. Mai 2008 aufgehoben. Die Sache wird zu neuem Entscheid an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. Juni 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Haag