Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_296/2008
Urteil vom 11. Dezember 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Dold.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Eric Stern,
gegen
Kantonsgericht St. Gallen, Präsident der Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
Strafverfahren; Erlass der Einschreibgebühr,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 1. September 2008 des Kantonsgerichts St. Gallen, Präsident der Strafkammer.
Sachverhalt:
A.
Das Kreisgericht Gaster-See verurteilte am 25. Juni 2008 X.________ wegen mehrfachen Raubs, mehrfacher Freiheitsberaubung und mehrfachen Hausfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren unter Anrechnung der Auslieferungs- bzw. Untersuchungshaft seit dem 12. September 2007. Der amtliche Verteidiger wurde vom Staat entschädigt. Gegen das Urteil erhob X.________ Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen. Er beantragte im Wesentlichen, der Entscheid sei aufzuheben, er selbst sei freizusprechen und auf die beurteilten Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen sei nicht einzutreten. Zudem stellte er ein Gesuch um Erlass der Einschreibgebühr. Mit Verfügung vom 1. September 2008 wies der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen das Gesuch ab und setzte X.________ eine Notfrist von 10 Tagen zur Bezahlung der Einschreibgebühr von Fr. 800.-- an.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 2. Oktober 2008 beantragt X.________, die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen sei aufzuheben und die Einschreibgebühr sei ihm zu erlassen. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 29 Abs. 3 BV und verschiedener anderer Bestimmungen der BV und der EMRK.
Der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die angefochtene Verfügung, mit der das Gesuch des Beschwerdeführers um Erlass der Einschreibgebühr abgewiesen wurde, ist ein letztinstanzlicher kantonaler Zwischenentscheid, der das Berufungsverfahren nicht abschliesst. Wird die Gebühr nicht rechtzeitig bezahlt, gilt die Berufung als nicht eingelegt (Art. 225 Abs. 2 des Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 [StP; sGS 962.1]). Der Entscheid kann deshalb einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken (vgl. BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338; 129 I 129 E. 1.1 S. 131, 281 E. 1.1 S. 283 f.; je mit Hinweisen).
Bei Zwischenentscheiden folgt der Rechtsweg jenem der Hauptsache (Urteil 1B_151/2008 vom 17. November 2008 E. 1.2 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 119 Ib 412 E. 2a S. 414 mit Hinweisen). Gegen einen Entscheid betreffend die Abweisung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege in einem Strafverfahren ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG gegeben. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Deshalb ist der Antrag auf Erlass der Einschreibgebühr zulässig. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. Gemäss Art. 29 Abs. 3 des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 (BGerR; SR 173.110.131) ist die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts für die Behandlung der Beschwerde zuständig.
2.
Der Beschwerdeführer macht keine Verletzung der kantonalrechtlichen Bestimmungen über die unentgeltliche Rechtspflege geltend. Es ist deshalb direkt zu prüfen, ob die angerufenen verfassungs- oder konventionsrechtlichen Garantien verletzt wurden (vgl. BGE 134 I 92 E. 3.1.1 S. 98 mit Hinweisen).
2.1 Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege soll verhindert werden, dass dem bedürftigen Rechtsuchenden der Zugang zu Gerichts- und Verwaltungsinstanzen in nicht von vornherein aussichtslosen Verfahren wegen seiner wirtschaftlichen Verhältnisse verwehrt oder erschwert wird. Dieses Recht gewährleistet der bedürftigen Person, dass die entsprechende Gerichts- oder Verwaltungsinstanz ohne vorherige Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird. Indessen garantiert der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege keine definitive Übernahme der Kosten durch den Staat (BGE 122 I 322 E. 2c S. 324 f.; 110 Ia 87 E. 4 S. 90; 109 Ia 12 E. 3b S. 13; je mit Hinweisen).
Wer im Kanton St. Gallen ein strafprozessuales Rechtsmittel einlegt, bezahlt nach Art. 225 Abs. 1 StP die durch Verordnung bestimmte Einschreibgebühr. Wird die Gebühr trotz Ansetzung einer angemessenen Notfrist nicht bezahlt, gilt das Rechtsmittel als nicht eingelegt (Art. 225 Abs. 2 StP). Der Präsident der Rechtsmittelinstanz kann auf Gesuch die Einschreibgebühr erlassen, wenn der Einleger bedürftig und das Rechtsmittel nicht aussichtslos ist (Art. 225 Abs. 3 StP).
Vorliegend ist die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers nicht umstritten. Indessen erachtete der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen die Berufung gegen das Urteil des Kreisgerichts Gaster-See als aussichtslos.
2.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Begehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder die Gewinnaussichten nur wenig geringer sind als die Verlustgefahren. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht auf Kosten des Gemeinwesens anstrengen können. Die Prozesschancen sind in vorläufiger und summarischer Prüfung des Prozessstoffes abzuschätzen. Ob ein Begehren aussichtslos erscheint, beurteilt sich aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des Gesuchs (BGE 133 III 614 E. 5 S. 616; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f., je mit Hinweisen).
Die Frage nach der Aussichtslosigkeit eines Begehrens lässt sich erst im Zusammenhang mit seiner Begründung abschliessend beantworten. Zu beurteilen sind dabei grundsätzlich die Chancen des Rechtsmittels als Ganzes. Eine teilweise Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege fällt nur ausnahmsweise in Betracht (Urteil 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 6.2 mit Hinweis). In Bezug auf die Rechtsmittelregelung im Kanton St. Gallen ist zu beachten, dass innert der von Art. 239 Abs. 1 StP festgelegten Frist von 14 Tagen seit Zustellung des angefochtenen Entscheids lediglich die Berufungserklärung einzureichen ist. Gemäss Art. 242 Abs. 1 StP erhalten die Parteien später Gelegenheit, mit schriftlicher Eingabe die Berufung zu begründen, Gegenbemerkungen anzubringen und Beweisanträge zu stellen.
2.3 Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines Begehrens sind nicht in jedem Verfahren gleich. Im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand hat das Bundesgericht festgehalten, dass im Bereich der notwendigen Verteidigung der Angeschuldigte bzw. Verurteilte bei anerkannter Mittellosigkeit einen grundsätzlich unbedingten Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung auch im von ihm angehobenen Rechtsmittelverfahren habe (BGE 134 I 92 E. 3.2.1 S. 99; 129 I 281 E. 4 S. 285 ff.; je mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung gilt auch für den verfassungsmässigen Anspruch auf vorläufige Kostenbefreiung, dessen Voraussetzungen weniger streng sind als jene für den Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (vgl. Art. 29 Abs. 3 BV). Das Institut der notwendigen Verteidigung entstammt in erster Linie dem kantonalen Prozessrecht. Unter gewissen Voraussetzungen sind die Behörden indessen auch aufgrund der in Art. 31 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie in Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 3 lit. d UNO-Pakt II (SR 0.103.2) verankerten Aufklärungs- und Fürsorgepflicht gehalten, dem Betroffenen von Amtes wegen einen (obligatorischen) Verteidiger zu bestellen, wie das Bundesgericht in BGE 131 I 350 darlegte. Ob vorliegend ein Fall notweniger Verteidigung gegeben ist, kann offen gelassen werden, da sich das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers jedenfalls als nicht aussichtslos erweist.
2.4 Ausserhalb des Bereichs der notwendigen Verteidigung gilt, dass nur mit grosser Zurückhaltung auf Aussichtslosigkeit zu schliessen ist, soweit schwere Beschränkungen der persönlichen Freiheit in Frage stehen (Urteil des Bundesgerichts 1P.20/2000 vom 3. Februar 2000 E. 5c; vgl. auch BGE 134 I 92 E. 3.2.3 S. 100 mit Hinweis). Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, so dass diese Bedingung erfüllt ist.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass mit der Berufung ein erstinstanzliches Urteil angefochten wird (vgl. Beschluss des Bundesgerichts 6S.422/2000 vom 29. August 2001). Der erwähnte Beschluss betrifft zwar den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nach OG. Er lässt sich in diesem Punkt jedoch auf den Anspruch nach Art. 29 Abs. 3 BV übertragen. Gemäss Art. 32 Abs. 3 BV Satz 1 hat jede verurteilte Person das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Die im Strafprozessgesetz des Kantons St. Gallen vorgesehene Berufung erfüllt die Anforderungen dieser verfassungsrechtlichen Rechtsmittelgarantie. Gemäss Art. 238 StP können mit der Berufung grundsätzlich alle Mängel des Verfahrens und des angefochtenen Entscheids gerügt werden. Auch neue Tatsachen und Beweismittel werden zugelassen, soweit sie nicht missbräuchlich zurückgehalten worden sind.
Nicht massgebend ist, ob der Beschwerdeführer tatsächlich Aussicht darauf hat, mit seinen Berufungsanträgen vollumfänglich durchzudringen. In einem die Erhöhung von Unterhaltsbeiträgen betreffenden Entscheid liess es das Bundesgericht genügen, dass gewisse Chancen auf teilweise Gutheissung des Berufungsbegehrens bestanden (Urteil 5P.207/1999 vom 12. Juli 1999 E. 2e und 3 mit Hinweis). Diese Rechtsprechung gilt nicht nur im Zivilprozessrecht, sondern a fortiori auch im von der Unschuldsvermutung beherrschten Strafprozessrecht (vgl. Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II). Bewirkt im Bereich des Privatrechts das klare Überklagen (d.h. das Geltendmachen einer offensichtlich überhöhten Forderung) die Aussichtslosigkeit des Begehrens, so ist Entsprechendes im Bereich des Strafrechts nicht denkbar (vgl. Gerold Steinmann, in: Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. 2008, N. 39 zu Art. 29 BV S. 600). Anders zu entscheiden würde bedeuten, dem Beschwerdeführer den im Bereich des Strafverfahrens verfassungsmässig garantierten Rechtsweg abzuschneiden (vgl. Art. 32 Abs. 3 BV).
Besteht demnach eine gewisse Möglichkeit, dass das in der Sache zuständige Gericht ein milderes Urteil fällen wird, so darf das Rechtsmittel nicht als aussichtslos bezeichnet werden.
2.5 Die Vorinstanz legt dar, es bestünden Beweise in der Form von DNA-Spuren. Der Angeklagte bestreite seine (Mit-)Täterschaft mit haltlosen Argumenten. Das erstinstanzliche Urteil setze sich mit diesen Argumenten auseinander und sei überzeugend begründet. Die Gewinnaussichten des Begehrens auf vollumfänglichen Freispruch seien beträchtlich geringer als die Verlustgefahren.
Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, dass eine zweitinstanzliche Überprüfung der Schuldfrage grundsätzlich möglich sein müsse. Im Berufungsverfahren könnten neue Entlastungsmomente hinzukommen und Eventualanträge gestellt werden. In diesem Zusammenhang weist der Beschwerdeführer darauf hin, dass Zeugen nicht einvernommen worden seien, die belegen könnten, dass die gefundenen Kleider mit seinen DNA-Spuren bei den Raubüberfällen gar nicht oder zumindest nicht von ihm selbst verwendet worden seien. Schliesslich sei denkbar, dass es im Berufungsverfahren bei einem zumindest teilweisen Schuldspruch bleibe, die Strafe jedoch reduziert werde.
Der Beurteilung der Vorinstanz kann im Lichte von Art. 29 Abs. 3 BV nicht gefolgt werden. Der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts konnte bei Erlass seiner Verfügung die Erfolgsaussichten der Berufung noch gar nicht in genügender Weise beurteilen, da ihm die Gründe für die Einreichung des Rechtsmittels nicht bekannt waren. Art. 239 StP entsprechend reichte der Beschwerdeführer zunächst lediglich eine Berufungserklärung ein. Gemäss Art. 242 Abs. 1 StP wird er noch Gelegenheit erhalten, diese mit einer Begründung zu versehen. Zudem scheint es nicht als ausgeschlossen, dass als Folge des Berufungsverfahrens das Urteil für den Beschwerdeführer günstiger ausfällt. Dass ein vollumfänglicher Freispruch, wie ihn der Beschwerdeführer in seinem Berufungsantrag forderte, unwahrscheinlich ist, ist nach dem Gesagten (E. 2.4) entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht massgebend.
3.
Insgesamt sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege erfüllt. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen aufzuheben. Dem Beschwerdeführer ist die Einschreibgebühr zu erlassen (Art. 107 Abs. 2 BGG).
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind im bundesgerichtlichen Verfahren keine Kosten zu erheben ( Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ). Es ist gerechtfertigt, in Anwendung von Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG dem Beschwerdeführer zulasten des Kantons St. Gallen für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen. Bei dieser Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 1. September 2008 aufgehoben. Dem Beschwerdeführer wird die Einschreibgebühr für seine Berufung vom 19. August 2008 ans Kantonsgericht St. Gallen erlassen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Kantonsgericht St. Gallen, Präsident der Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. Dezember 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Dold