Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_267/2008
Urteil vom 5. Februar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiber Härri.
Parteien
X.________ AG, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Lorenz Erni,
gegen
Bundesanwaltschaft, Taubenstrasse 16, 3003 Bern, Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Entsiegelung,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 10. September 2008 des Bundesstrafgerichts, I. Beschwerdekammer.
Sachverhalt:
A.
Aufgrund des Berichts der italienischen Agentur für Flugsicherheit ("Agenzia nazionale per la sicurezza del volo") zu einem Vorfall vom 29. Juni 2003 bei der Landung eines Flugzeugs der schweizerischen X.________ AG in Olbia (Italien) eröffnete die Bundesanwaltschaft am 2. Juli 2007 ein gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren gegen die beiden Schweizer Piloten wegen des Verdachts der Störung des öffentlichen Verkehrs gemäss Art. 237 Ziff. 1 und 2 StGB .
Mit Verfügung vom 30. November 2007 forderte die Bundesanwaltschaft die X.________ AG auf, ihr den internen Ermittlungsbericht zum Vorfall und sämtliche Unterlagen, auf die sich dieser Bericht stützt, herauszugeben.
Dagegen erhob die X.________ AG am 10. Dezember 2007 bei der Bundesanwaltschaft Einsprache und verlangte die Siegelung der zu edierenden Akten. Gleichentags gelangte die X.________ AG mit Beschwerde an das Bundesstrafgericht und beantragte die Aufhebung der Editionsverfügung.
Mit Entscheid vom 14. Dezember 2007 trat das Bundesstrafgericht (I. Beschwerdekammer) auf die Beschwerde nicht ein.
Am 21. Dezember 2007 reichte die X.________ AG der Bundesanwaltschaft den internen Ermittlungsbericht versiegelt ein.
B.
Am 19. Juni 2008 ersuchte die Bundesanwaltschaft das Bundesstrafgericht um Entsiegelung des von der X.________ AG eingereichten Berichts.
Mit Entscheid vom 10. September 2008 hiess das Bundesstrafgericht (I. Beschwerdekammer) das Gesuch gut. Es ermächtigte die Bundesanwaltschaft, die ihr am 21. Dezember 2007 durch die X.________ AG eingereichten Unterlagen zu entsiegeln und zu durchsuchen.
C.
Die X.________ AG führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 10. September 2008 sei aufzuheben und das Entsiegelungsgesuch abzuweisen; eventualiter sei der Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 10. September 2008 aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an dieses zurückzuweisen.
D.
Das Bundesstrafgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Die Bundesanwaltschaft hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
E.
Mit Verfügung vom 28. Oktober 2008 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.
Erwägungen:
1.
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft die Verfolgung einer Straftat und stützt sich auf Art. 69 BStP (SR 312.0). Dagegen ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben.
1.2 Gemäss Art. 79 BGG ist die Beschwerde unzulässig gegen Entscheide der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, soweit es sich nicht um Entscheide über Zwangsmassnahmen handelt.
Die Vorinstanz hat die Beschwerdegegnerin ermächtigt, die von der Beschwerdeführerin eingereichten Unterlagen zu entsiegeln und zu durchsuchen. Dies stellt gegenüber der Beschwerdeführerin eine Zwangsmassnahme dar (BGE 131 I 52 E. 1.2.2 S. 54; 130 II 302 E. 3.1 S. 304; Urteil 1B_101/2008 vom 28. Oktober 2008 E. 1.3 mit Hinweisen).
Die Beschwerde ist auch insoweit zulässig.
1.3 Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine nicht beschuldigte Dritte, die durch eine strafprozessuale Zwangsmassnahme in ihren Interessen berührt ist. Sie ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt (NIKLAUS SCHMID, Die Strafrechtsbeschwerde nach dem Bundesgesetz über das Bundesgericht - eine erste Auslegeordnung, ZStrR 124/2006 S. 187; MARC THOMMEN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, Art. 81 BGG N. 18).
1.4 Anders als für die beiden Beschuldigten schliesst der angefochtene Entscheid das Verfahren für die Beschwerdeführerin ab. Es liegt ihr gegenüber ein Teilentscheid nach Art. 91 lit. b BGG vor (Urteil 1B_206/2007 vom 7. Januar 2008 E. 3.3). Dagegen ist die Beschwerde zulässig.
1.5 Mit der Beschwerde nach Art. 79 BGG kann namentlich die Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte gerügt werden. (Urteil 1B_101/2008 vom 28. Oktober 2008 E. 1.4 mit Hinweis).
1.6 Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Beschwerdegegnerin sei zur Führung des von ihr eingeleiteten gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen die beiden Piloten wegen Störung des öffentlichen Verkehrs gemäss Art. 237 StGB nicht zuständig, da diese Bestimmung nur den auf oder über dem Territorium der Schweiz stattfindenden öffentlichen Verkehr schütze, nicht aber jenen des Auslands. Die Beschwerdegegnerin sei daher auch nicht befugt gewesen, von der Beschwerdeführerin die Herausgabe des internen Ermittlungsberichts über den Vorfall in Olbia zu verlangen, weshalb das Entsiegelungsgesuch abzuweisen sei. Die Beschwerdeführerin beschränkt (S. 5 Ziff. 14) die Beschwerde ausdrücklich auf diesen Einwand.
2.2 Die Beschwerdegegnerin forderte mit Verfügung vom 30. November 2007 die Beschwerdeführerin auf, den internen Ermittlungsbericht herauszugeben. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin am 10. Dezember 2007 Beschwerde bei der Vorinstanz. Darin machte sie (S. 6 f.) die fehlende Zuständigkeit der Beschwerdegegnerin geltend. Der Einwand erfolgte somit im frühest möglichen Zeitpunkt und ist nicht verwirkt (vgl. BGE 130 III 66 E. 4.3 S. 75 mit Hinweisen).
2.3 Gemäss Art. 97 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. Dezember 1948 über die Luftfahrt (Luftfahrtgesetz, LFG; SR 748.0) gilt das schweizerische Strafrecht auch für Taten, die an Bord eines schweizerischen Luftfahrzeugs ausserhalb der Schweiz verübt werden.
Nach Art. 98 Abs. 1 LFG unterstehen die an Bord eines Luftfahrzeugs begangenen strafbaren Handlungen - unter Vorbehalt des hier nicht anwendbaren Absatzes 2 - der Bundesstrafgerichtsbarkeit.
Art. 97 Abs. 1 LFG umschreibt das Flaggen- bzw. Immatrikulationsprinzip (BGE 128 IV 277 E. 3.2 S. 283; PETER POPP/PATRIZIA LEVANTE, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 2. Aufl. 2007, Art. 3 StGB N. 1; JOSÉ HURTADO POZO, Droit pénal, Partie générale, 2008, S. 68 N. 196). Dabei wird das Luftfahrzeug nicht dem Hoheitsgebiet des Flaggenstaates gleichgestellt; dies auch nicht im Sinne einer Fiktion als "fliegender Gebietsteil". Die Zuständigkeit des Flaggenstaates wird nicht als Ausfluss seiner Gebietshoheit aufgefasst, sondern als Rechtshoheit und Gerichtsbarkeit über Personen und Eigentum (Botschaft vom 28. September 1962 über die Änderung des Luftfahrtgesetzes, BBl 1962 II 732).
2.4
2.4.1 Gemäss Art. 237 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser oder in der Luft hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen in Gefahr bringt. Bringt der Täter dadurch wissentlich Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr, so kann auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren erkannt werden (Ziff. 1). Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe (Ziff. 2).
Nach der jüngeren Rechtsprechung bezweckt Art. 237 StGB den Schutz von Leib und Leben der Personen, die am öffentlichen Verkehr teilnehmen (BGE 134 IV 255 E. 4.1 S. 259 mit Hinweis).
Ob und wieweit Art. 237 StGB auch den öffentlichen Verkehr schützt, ist umstritten. Einigkeit besteht aber darüber, dass Leib und Leben geschützt sind, soweit sie durch den öffentlichen Verkehr gefährdet sind (MATTHIAS SCHWAIBOLD, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 2. Aufl. 2007, Art. 237 StGB N. 5 mit Hinweisen).
2.4.2 Es geht also jedenfalls auch um den Schutz von Leib und Leben. Die Beschwerdeführerin lässt dies ausser Acht. Sie nimmt (S. 7 Ziff. 18) an, Art. 237 StGB schütze einzig den öffentlichen Verkehr. Ihr Einwand geht deshalb an der Sache vorbei. Gemäss Art. 97 Abs. 1 LFG setzt die Anwendbarkeit schweizerischen Strafrechts voraus, dass die Tat an Bord eines schweizerischen Luftfahrzeugs im Ausland verübt worden ist. Das ist hier nach dem Vorwurf, welche die Beschwerdegegnerin gegen die beiden Piloten erhebt, der Fall. Diese begingen die ihnen angelasteten Flugfehler im Cockpit, also an Bord. Der Erfolg, nämlich die Gefährdung der übrigen Besatzungsmitglieder und der Passagiere, trat ebenfalls an Bord ein. Diese Personen sind durch Art. 237 StGB geschützt (BGE 100 IV 54 E. 5 S. 55; 105 IV 41 E. 3). Nach dem klaren Wortlaut von Art. 97 Abs. 1 LFG ist schweizerisches Strafrecht hier somit anwendbar. Die Beschwerdeführerin bringt keine triftigen Gründe vor, die es rechtfertigten, vom klaren Wortlaut abzuweichen. Zwar weist sie zutreffend darauf hin, dass bestimmte Tatbestände an Bord eines Flugzeuges nicht begangen werden können. Das gilt etwa für die Grenzverrückung nach Art. 256 StGB oder die Beseitigung von Vermessungs- und Wasserstandszeichen nach Art. 257 StGB. Zu diesen Tatbeständen gehört Art. 237 StGB jedoch nicht. Nach der Rechtsprechung fällt eine an Bord eines schweizerischen Luftfahrzeugs im Ausland begangene einfache Körperverletzung unter den Anwendungsbereich des schweizerischen Strafrechts (BGE 128 IV 277). Bei einer Tat, wie sie hier den Beschuldigten vorgeworfen wird, die Leib und Leben von Menschen an Bord gefährdet, kann nichts anderes gelten.
2.4.3 Für die Anwendbarkeit von Art. 237 StGB im vorliegenden Fall spricht überdies die Botschaft vom 24. November 1976 über die Änderung des Luftfahrtgesetzes. Darin wird Bezug genommen auf das Montrealer Übereinkommen vom 23. September 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (RS 0.748.710.3). Nach Art. 3 des Übereinkommens sind die darin genannten strafbaren Handlungen "mit schweren Strafen zu bedrohen". In der Botschaft wird gesagt, die Frage, ob im Hinblick darauf neue Deliktstatbestände in das Luftfahrtgesetz aufzunehmen seien, sei erörtert und angesichts der im Strafgesetzbuch enthaltenen Straftatbestände verneint worden. Wohl beschränke sich die Strafandrohung des im Vordergrund stehenden Delikts der Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) auf eine Höchststrafe von zehn Jahren Zuchthaus. Es sei indessen davon auszugehen, dass in schweren Fällen Verbrechen gegen Leib und Leben ( Art. 111, 112, 122 StGB ) und gemeingefährliche Verbrechen ( Art. 221, 223, 224 StGB ) hinzuträten; dies mit Strafandrohungen bis zu lebenslänglichem Zuchthaus (BBl 1976 III 1250). Diese Ausführungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Bestimmungen des Luftfahrtgesetzes, welche ausserhalb der Schweiz verübte Taten betreffen. Auch der Gesetzgeber ging somit davon aus, eine Störung des öffentlichen Verkehrs im Ausland, wie sie den Piloten hier zur Last gelegt wird, unterstehe dem schweizerischen Recht.
2.4.4 Hinzuweisen ist ferner auf BGE 106 IV 121. Im Fall, der jenem Urteil zugrunde lag, hatte jemand ein Flugzeug nach dem Start in Barcelona in seine Gewalt gebracht und den Piloten in der Folge gezwungen, auf verschiedenen ausländischen Flughäfen zu landen. Die Entführung endete auf dem Flughafen Zürich. Die kantonale Instanz sprach den Täter unter anderem der Störung des öffentlichen Verkehrs gemäss Art. 237 StGB schuldig. Das Bundesgericht wies die dagegen vom Verurteilten erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ab. Es erwog dabei insbesondere, durch die Entführung einer Kursmaschine und durch die Landungen auf den verschiedenen Flugplätzen, verbunden mit erpresserischen Forderungen und schweren Drohungen, habe der Beschwerdeführer den durch Art. 237 StGB geschützten öffentlichen Luftverkehr in erheblichem Masse vorsätzlich gestört (E. 3a S. 122). Mit diesen Ausführungen hat das Bundesgericht die Auffassung der Beschwerdeführerin, Art. 237 StGB sei bei Landungen auf ausländischen Flughäfen nicht anwendbar, in der Sache bereits verworfen.
2.5 Die Beschwerde ist danach unbegründet. Das schweizerische Strafrecht ist hier gemäss Art. 97 Abs. 1 LFG anwendbar und die Bundesstrafgerichtsbarkeit nach Art. 98 Abs. 1 LFG gegeben.
Art. 96 LFG behält im Übrigen die Anwendbarkeit von Art. 4-6 StGB (heute: Art. 4-7 StGB ) vor. Ob schweizerisches Recht auch aufgrund des aktiven oder passiven Personalitätsprinzips gemäss Art. 7 StGB anwendbar wäre, kann offen bleiben.
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesstrafgericht, I. Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Februar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Härri