BGer 9C_256/2009
 
BGer 9C_256/2009 vom 17.09.2009
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
9C_256/2009
Urteil vom 17. September 2009
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,
gegen
N.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Bodenmann,
Beschwerdegegner,
IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 28. Januar 2009.
Sachverhalt:
A.
Der 1948 geborene N.________ bezog seit Oktober 1998 eine ganze Invalidenrente. Seit 24. Januar 2008 befindet er sich im vorzeitigen Strafvollzug. In der Folge sistierte die IV-Stelle des Kantons Thurgau nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren die Invalidenrente mit Verfügung vom 26. Juni 2008 rückwirkend ab 31. Januar 2008. Mit einer weiteren Verfügung vom 30. Juni 2008 forderte die IV-Stelle die dem Versicherten von Februar bis Juni 2008 zu viel ausgerichteten Rentenbetreffnisse von total Fr. 6075.- zurück.
B.
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde änderte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Verfügung vom 26. Juni 2008 dahin ab, dass es die Invalidenrente für die Dauer des Strafvollzugs lediglich zur Hälfte einstellte. Dementsprechend reduzierte es die verfügte Rückforderung um die Hälfte auf Fr. 3037.50 (Entscheid vom 28. Januar 2009).
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben; ferner ersucht es darum, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren.
Während N.________ die Abweisung der Beschwerde beantragen und um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen lässt, schliesst die IV-Stelle auf Gutheissung der Beschwerde.
D.
Mit Verfügung der Instruktionsrichterin vom 7. Juli 2009 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Erwägungen:
1.
Streitig und zu prüfen ist die von der IV-Stelle für die Zeit ab 31. Januar 2008 verfügte, von der Vorinstanz auf die Hälfte der Rentenbetreffnisse beschränkte Sistierung der Invalidenrente des Beschwerdegegners während der Dauer des Strafvollzuges. Davon abhängig ist sodann die Rechtmässigkeit der von der Verwaltung angeordneten, vorinstanzlich reduzierten Rückforderung.
2.
Art. 21 ATSG bestimmt unter der Überschrift "Kürzung und Verweigerung von Leistungen" was folgt:
"Hat die versicherte Person den Versicherungsfall vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert, so können ihr die Geldleistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder in schweren Fällen verweigert werden (Abs. 1).
Geldleistungen für Angehörige oder Hinterlassene werden nur gekürzt oder verweigert, wenn diese den Versicherungsfall vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt haben (Abs. 2).
Soweit Sozialversicherungen mit Erwerbsersatzcharakter keine Geldleistungen für Angehörige vorsehen, kann höchstens die Hälfte der Geldleistungen nach Absatz 1 gekürzt werden. Für die andere Hälfte bleibt die Kürzung nach Absatz 2 vorbehalten (Abs. 3).
(Abs. 4)
Befindet sich die versicherte Person im Straf- oder Massnahmevollzug, so kann während dieser Zeit die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter ganz oder teilweise eingestellt werden; ausgenommen sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Absatz 3 (Abs. 5)."
3.
3.1 Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, dass Art. 21 Abs. 3 ATSG einer Sistierung der ganzen Invalidenrente entgegenstehe, handle es sich doch um eine Leistung mit Erwerbsersatzcharakter; überdies sehe die Invalidenversicherung nach wie vor Geldleistungen für Kinder, und damit für Angehörige, vor.
3.2 Das BSV wendet ein, Art. 21 Abs. 5 ATSG sei eine Sistierungsnorm, von welcher die Bestimmungen über die Kürzung und Verweigerung von Leistungen (Art. 21 Abs. 1 und 4 ATSG) abzugrenzen seien. So würden die Geldleistungen für Angehörige sowohl bei einer Sistierung nach Art. 21 Abs. 5 ATSG als auch bei Leistungsverweigerungen und -kürzungen (Art. 21 Abs. 1 ATSG) unter Vorbehalt von Art. 21 Abs. 2 ATSG weiterhin ausgerichtet. Art. 21 Abs. 3 ATSG enthalte alsdann eine Sonderregelung bei Leistungen mit Erwerbsersatzcharakter, soweit die entsprechende Sozialversicherung keine Geldleistungen für Angehörige vorsieht. Aus der Systematik des Art. 21 ATSG schliesst das BSV, dass Abs. 3 dieser Norm auf Fälle der Sistierung einer Geldleistung während des Strafvollzugs nicht anwendbar sei. Dass Abs. 5 zweiter Teilsatz auf Abs. 3 verweist, habe bloss deklaratorische Bedeutung und solle klarstellen, dass Geldleistungen für Angehörige (Zusatz- und Kinderrenten) in Einklang mit der Rechtsprechung nicht der Kürzung unterliegen. Zu beachten sei ferner, dass Art. 21 Abs. 3 selbst dann, wenn er in Sistierungsfällen nach Art. 21 Abs. 5 ATSG anwendbar wäre, jedenfalls für den Bereich der Invalidenversicherung ausser Betracht fällt. Denn die Invalidenversicherung richte Geldleistungen für Angehörige in Form von Kinderrenten aus, was die Anwendbarkeit von Art. 21 Abs. 3 ATSG auf dem Gebiet der Invalidenversicherung ausschliesse.
4.
Art. 21 Abs. 5 zweiter Teilsatz ATSG stellt klar, dass Geldleistungen für Angehörige (Zusatzrenten) keiner Kürzung oder Sistierung unterliegen, wie dies bereits nach der vor Inkrafttreten des ATSG ergangenen Rechtsprechung zutraf (BGE 113 V 273, bestätigt in BGE 114 V 143 E. 2 S. 144). Ob Art. 21 Abs. 3 Satz 1 ATSG in Fällen des Straf- oder Massnahmevollzugs auf Grund des Verweises in Abs. 5 zweiter Teilsatz entsprechend der Annahme der Vorinstanz grundsätzlich überhaupt anwendbar ist, und deswegen nur eine hälftige Kürzung gestattet, auch wenn im konkreten Fall keine Zusatzleistungen im Sinne von Art. 21 Abs. 5 zweiter Teilsatz ATSG zur Ausrichtung gelangen, kann offenbleiben, wie das BSV zutreffend festhält. Denn die Kürzung lediglich der Hälfte der Geldleistungen ist nach Art. 21 Abs. 3 Satz 1 ATSG auf Leistungen von Sozialversicherungen mit Erwerbsersatzcharakter beschränkt, die keine Geldleistungen für Angehörige vorsehen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz trifft dies für die Invalidenversicherung auch nach dem Wegfall der Zusatzrenten für die Ehegatten mit Inkrafttreten der 5. IV-Revision am 1. Januar 2008 nicht zu. Denn nach Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 IVG haben Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der AHV beanspruchen könnte, weiterhin Anspruch auf Kinderrenten in der Höhe von 40 % der entsprechenden Invalidenrente. Dabei handelt es sich um Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Art. 21 Abs. 3 Satz 1 ATSG (Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 21 N 50 und N 57 f.). Fällt aber die Anwendung von Art. 21 Abs. 3 ATSG schon deswegen ausser Betracht, ist dem angefochtenen Entscheid die Grundlage entzogen. Ob eine familienrechtliche Unterhaltspflicht des inhaftierten Invaliden gegenüber seiner Ehegattin besteht, ist entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts bei der Anwendung von Art. 21 Abs. 5 ATSG unerheblich. Schliesslich vermögen auch die Vorbringen des Beschwerdegegners zu keiner Bestätigung des angefochtenen Entscheides zu führen.
5.
Aus den vorstehenden Darlegungen folgt, dass der Beschwerdegegner von Februar bis Juni 2008 zu Unrecht Invalidenrenten im Gesamtbetrag von Fr. 6075.- bezogen hat. Die Rückerstattungsverfügung der IV-Stelle vom 30. Juni 2008 erweist sich damit als rechtens, da die Voraussetzungen für eine Rückforderung nach Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG erfüllt sind.
Ob der gute Glaube und eine grosse Härte als Voraussetzungen für den Erlass der Rückerstattung gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG gegeben sind, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Mit Eingabe vom 4. August 2008 hat der Beschwerdegegner die Verwaltung um Erlass der Rückforderung ersucht. Dementsprechend wird zunächst die IV-Stelle über das Erlassgesuch zu befinden haben.
6.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, ist stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die anwaltliche Verbeiständung geboten erscheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der Beschwerdegegner wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht. Danach hat die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 28. Januar 2009 aufgehoben.
2.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Rechtsanwalt Werner Bodenmann wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, der IV-Stelle des Kantons Thurgau und der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 17. September 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Meyer Widmer