Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1C_346/2009
Urteil vom 6. November 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli, Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Steinmann.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Züst,
gegen
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen, Abteilung Administrativmassnahmen, Moosbruggstrasse 11, 9001 St. Gallen,
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Präsident, Spisergasse 41, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
Führerausweisentzug,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 25. Juni 2009 der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung IV.
Sachverhalt:
A.
Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons St. Gallen entzog X.________ mit Verfügung vom 9. Januar 2009 den Führerausweis wegen leichter Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften für die Dauer von einem Monat. Gegen diese Verfügung erhob X.________ bei der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen Beschwerde. Diese wies das Rechtsmittel am 25. Juni 2009 ab. Unter Verweis auf ein bundesgerichtliches Urteil (2C_360/2009 vom 23. Juni 2009) gab sie an, dass gegen ihren Entscheid beim Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen Beschwerde geführt werden könne.
B.
X.________ erhob entsprechend dieser Rechtsmittelbelehrung beim Verwaltungsgericht am 15. Juli 2009 Beschwerde. In der Folge übermittelte der Präsident des Verwaltungsgerichts die Beschwerde samt Akten am 6. August 2009 dem Bundesgericht zum Entscheid. Er führte aus, dass der Instanzenzug in Strassenverkehrssachen nicht an das Verwaltungsgericht, sondern von der Verwaltungsrekurskommission direkt an das Bundesgericht führe.
Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens hält die Verwaltungsrekurskommission dafür, dass sie wie bisher in Strassenverkehrsfällen als letztinstanzliches kantonales Gericht urteile. Der Präsident des Verwaltungsgerichts bestätigt die Auffassung, dass die Verwaltungsrekurskommission in Angelegenheiten des Strassenverkehrsrechts als oberes Gericht im Sinne von Art. 86 Abs. 2 BGG zu betrachten sei. X.________ hat sich zu der aufgeworfenen prozessrechtlichen Frage nicht geäussert. Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt hat nicht Stellung genommen.
Erwägungen:
1.
Der Präsident des Verwaltungsgerichts hat die vorliegende Beschwerde dem Bundesgericht überwiesen. Er ist der Ansicht, die Verwaltungsrekurskommission stelle ein oberes kantonales Gericht und somit eine Vorinstanz zum Bundesgericht dar. Mit dem Verfahren vor der Verwaltungsrekurskommission würden der kantonale Instanzenzug abgeschlossen und der Weiterzug an das Verwaltungsgericht ausgeschlossen. Deshalb sei das Bundesgericht für die materielle Beurteilung zuständig.
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 135 II 94 E. 1 S. 96). Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, welche kantonale Instanz im Sinne des Bundesgerichtsgesetzes Vorinstanz des Bundesgerichts ist.
2.
Nach Art. 86 Abs. 2 BGG setzen die Kantone in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts obere Gerichte ein. Es stellt sich die Frage, was unter oberen Gerichten im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist.
Das Bundesgericht hat in BGE 134 I 125 E. 3.5 eine zürcherische Regelung geprüft und dabei den für den ganzen Kanton vorgesehenen Haftrichter am Bezirksgericht Zürich zur Beurteilung von Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen nicht als oberes Gericht qualifiziert. Gleich urteilte es in BGE 135 II 94 im Bereiche ausländerrechtlicher Administrativhaft hinsichtlich des Haftgerichts Bern-Mittelland. In einem neuesten Entscheid erkannte die II. öffentlich-rechtliche Abteilung, dass die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen hinsichtlich ausländerrechtlicher Haft kein oberes Gericht im Sinne von Art. 86 Abs. 2 BGG sei (Urteil 2C_360/2009 vom 23. Juni 2009).
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob die Verwaltungsrekurskommission hinsichtlich von Massnahmen auf dem Gebiete des Strassenverkehrs ein oberes Gericht darstelle und damit Vorinstanz zum Bundesgericht bilde oder aber ob diese Voraussetzung fehle, vorerst der kantonale Rechtsmittelweg mit Anrufung des Verwaltungsgerichts auszuschöpfen sei und erst das Verwaltungsgericht Vorinstanz zum Bundesgericht sei.
3.
3.1 Die Verfassung des Kantons St. Gallen (KV/SG; SR 131.225) legt in Art. 77 die Grundsätze der Justiz fest und sieht vor, dass das Gesetz unter Vorbehalt der Bundesgesetzgebung die Verfahren der Zivil-, Straf-, Staats- und Verwaltungsrechtspflege sowie die Gerichtsorganisation ordne. Nach Art. 80 wird die Rechtspflege in Staats- und Verwaltungssachen ausgeübt durch Verwaltungsbehörden des Kantons und der Gemeinden, das Verwaltungsgericht als oberstes Gericht und weitere gerichtliche Instanzen der Verwaltungsrechtspflege. Das Gerichtsgesetz (GerG; Gesetzessammlung 941.1) nennt in Art. 16 ff. die Verwaltungsrekurskommission als Verwaltungsrechtspflegeinstanz und bestimmt die Organisation. Die hauptamtlichen Richter der Verwaltungsrekurskommission werden gemäss Art. 24 lit. e GerG vom Kantonsrat gewählt. Nach Art. 43 lit. c GerG übt das Verwaltungsgericht die Aufsicht über die Verwaltungsrekurskommission aus. Schliesslich sieht Art. 98 lit. a GerG vor, dass die Regierung Vorschriften über die Organisation der Verwaltungsrekurskommission erlässt; der Regierungsrat hat von dieser Kompetenz in der Verordnung über die Organisation der Verwaltungsrekurskommission Gebrauch gemacht (Gesetzessammlung 941.113).
Das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege (VRG; Gesetzessammlung 951.1) nennt in Art. 32 als Organe der Verwaltungsrechtspflege u.a. das Verwaltungsgericht (lit. d) und die Verwaltungsrekurskommission (lit. b). Der Rekurs an die Verwaltungsrekurskommission ist in Art. 41 ff. VRG geordnet. Dabei unterscheidet das Verwaltungsrechtspflegegesetz in Art. 59 Abs. 1 zwischen einem Bereich, in dem die Verwaltungsrekurskommission gemäss dem Marginale von Art. 41 VRG Vorinstanz des Verwaltungsgerichts ist, und einem Bereich, wo die Verwaltungsrekurskommission nach dem Marginale von Art. 41bis VRG als oberes kantonales Gericht amtet und demnach ein Weiterzug an das Verwaltungsgericht ausgeschlossen ist. Letzteres trifft nach Art. 41bis zu auf dem Gebiet der Strassenverkehrsgesetzgebung, nach Art. 71a ff. VRG auf dem Gebiet des fürsorgerischen Freiheitsentzuges und vormundschaftlicher Massnahmen und nach Art. 93 bis f. VRG auf dem Gebiet ausländerrechtlicher Zwangsmassnahmen (vgl. Rechtsmittelordnung vor dem V. Nachtrag vom 23. Januar 2007 zum VRG Urs Peter Cavelti/Thomas Vögeli, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton St. Gallen, 2. Auflage 2003, N. 502 ff. S. 263 ff.).
3.2 Diese kantonale Regelung kann sich letztlich auf die kantonale Organisationsautonomie abstützen, wie sie sich aus der Bundesverfassung ergibt. Nach Art. 46 Abs. 1 und 3 BV (Fassung gemäss Bundesbeschluss vom 3. Oktober 2003, in Kraft seit dem 1. Januar 2008) setzen die Kantone das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um. Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung. Dies schliesst indes nicht aus, dass der Bund gemäss seinen Zuständigkeiten in bestimmten Bereichen Vorgaben festlegt und mit geeigneten Vorkehren für deren Durchsetzung sorgt. Das gilt namentlich für die Ordnung der Rechtsprechung. Die Bundesverfassung sieht mit Art. 188 BV auf Bundesebene als oberste rechtsprechende Behörde das Bundesgericht vor; das Gesetz bestimmt die Organisation und das Verfahren. Dem ist der Bundesgesetzgeber mit dem Erlass des Bundesgerichtsgesetzes nachgekommen. Dieses ordnet in allgemeiner Weise den Zugang zum Bundesgericht und umschreibt die Anforderungen an die Vorinstanzen. Art. 86 Abs. 2 BGG schreibt vor, dass die Kantone im Bereiche der öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als Vorinstanzen obere Gerichte einsetzen. Diese Bestimmung bewirkt unbestreitbar einen Eingriff in die Organisationsautonomie der Kantone, der im Rahmen der Justizreform auf der Ebene von Bundesverfassung und Bundesgesetz abgedeckt ist.
Daraus ergibt sich, dass die Kantone im Bereiche der öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten obere Gerichte zur Verfügung stellen müssen, welche den Kriterien von Art. 86 Abs. 2 BGG genügen. Zu fragen ist somit, welcher Sinngehalt der Bestimmung von Art. 86 Abs. 2 BGG beizulegen ist und welche Anforderungen an ein "oberes Gericht" im Sinne dieser Bestimmung zu stellen sind.
4.
4.1 Es ist unbestritten, dass der in der Sache angefochtene Führerausweisentzug keine Materie im Sinne von Art. 86 Abs. 3 BGG betrifft und die Regelung von Art. 86 Abs. 2 BGG daher im vorliegenden Fall anwendbar ist. Ebenso steht ausser Frage, dass die Verwaltungsrekurskommission eine gerichtliche Instanz ist, wie sie von Art. 29a, Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV vorausgesetzt wird. Damit fragt sich einzig, ob die Verwaltungsrekurskommission ein "oberes Gericht" im Sinne von Art. 86 Abs. 2 BGG sei.
4.2 Anders als in Strafsachen (vgl. Art. 80 Abs. 2 BGG) und teilweise in Zivilsachen (vgl. Art. 75 Abs. 2 BGG) verlangt das Bundesgerichtsgesetz im Bereiche der öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht, dass die oberen Gerichte im Sinne von Art. 86 Abs. 2 BGG als Rechtsmittelinstanzen amten. Es fordert im Bereiche des öffentlichen Rechts keinen doppelten kantonalen Instanzenzug (vgl. BGE 134 II 318 E. 4.4 S. 323 f.; 135 II 94 E. 4.1 S. 97). Das Bundesrecht belässt den Kantonen die Möglichkeit, eine einzige richterliche Instanz einzusetzen und damit für eine Straffung des Instanzenzuges zu sorgen. Das Erfordernis eines "oberen" Gerichts setzt voraus, dass eine einzige, für das ganze Kantonsgebiet zuständige richterliche Behörde geschaffen wird. Vorinstanz des Bundesgerichts soll in einem bestimmten Sachbereich eine einzige gerichtliche Behörde sein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sämtliche öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten bei einer einzigen kantonalen Vorinstanz konzentriert sein müssten. Neben einem allgemein zuständigen Verwaltungsgericht fallen für besondere Sachbereiche Spezialgerichte (wie etwa Rekurs- oder Schätzungskommissionen) durchaus in Betracht (vgl. BGE 135 II 94 E. 4.1 S. 98).
4.3 Es verbleibt zu prüfen, ob die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen in Anbetracht ihrer konkreten Kompetenzen und unter Berücksichtigung der kantonalen Ordnung, wonach ein Teil ihrer Urteile ans Verwaltungsgericht weitergezogen werden kann (vgl. oben E. 3.1), eine "obere" richterliche Behörde darstellt.
In seiner neuesten Rechtsprechung hat das Bundesgericht die für Art. 86 Abs. 2 BGG massgeblichen Kriterien in mehreren Urteilen geprüft. Im Jahre 2008 hat es - neben dem Erfordernis einer gesamtkantonalen Tätigkeit - erwogen, die Doktrin fordere, dass das Gericht keiner andern richterlichen Behörde unterstellt sei (BGE 134 I 125 E. 3.5 S. 135). Im Jahre 2009 hat es zum einen festgehalten, dass von einem oberen Gericht nicht gesprochen werden könne, wenn eine hierarchische Unterstellung unter ein anderes Gericht bestehe und die Entscheidungen im betroffenen Bereich noch kantonal angefochten werden können. Darüber hinaus wurde zum andern gefordert, dass die Entscheide der gerichtlichen Behörde auch in den übrigen Zuständigkeitsbereichen nicht an eine höhere kantonale Instanz weitergezogen werden können (BGE 135 II 94 E. 4.1 S. 98). Wie erwähnt, wurde in Anwendung dieser Kriterien dem Haftgericht Bern-Mittelland die Eigenschaft als oberes kantonales Gericht abgesprochen. In gleicher Weise entschied das Bundesgericht im Urteil 2C_360/2009 vom 23. Juni 2009 in Bezug auf ausländerrechtliche Freiheitsbeschränkungen hinsichtlich der st. gallischen Verwaltungsrekurskommission. Zu diesem Ergebnis gelangte das Bundesgericht, obwohl die Bereiche, in denen die Verwaltungsrekurskommission kantonal letztinstanzlich entscheidet (SVG, FFE und Ausländerhaft), mehr als die Hälfte aller von ihr behandelten Beschwerdesachen ausmachen.
In Anbetracht der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist an den erwähnten Auslegungskriterien zu Art. 86 Abs. 2 BGG festzuhalten. Danach kann als oberes Gericht nur eine kantonale richterliche Behörde gelten, wenn deren Entscheide weder im betroffenen Sachbereich noch in andern Materien mit einem ordentlichen kantonalen Rechtsmittel angefochten werden können. Diese Voraussetzung trifft für die Verwaltungsrekurskommission nach der dargestellten Rechtsmittelordnung (Art. 41 in Verbindung mit Art. 59 VRG) nicht zu.
An dieser Beurteilung ändert der Umstand nichts, dass die Frage in einer Reihe von Urteilen nicht aufgeworfen worden ist. Es handelte sich um Beschwerden, auf die schon aus andern Gründen nicht einzutreten war und weitere Eintretensvoraussetzungen daher nicht geprüft werden mussten.
4.4 Gesamthaft ergibt sich daraus, dass die Verwaltungsrekurskommission kein oberes Gericht im Sinne von Art. 86 Abs. 2 BGG darstellt und demnach nicht Vorinstanz des Bundesgerichts sein kann.
Bei dieser Sachlage kann auf die dem Bundesgericht übermittelte Beschwerde nicht eingetreten werden. Die Sache ist demnach zur weitern Behandlung an das Verwaltungsgericht als ordentliche obere kantonale Beschwerdeinstanz zu überweisen (vgl. Urteil 2C_360/2009 vom 23. Juni 2009 E. 2.3.1).
Der Beschwerdeführer hat sich zur Zuständigkeitsfrage nicht geäussert. Es ist ihm keine Parteientschädigung zuzusprechen. Kosten sind nicht zu erheben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Die Beschwerde wird zur weitern Behandlung an das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen überwiesen.
3.
Es werden keine Kosten erhoben.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt, der Verwaltungsrekurskommission, Abteilung IV, und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Präsident, sowie dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 6. November 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Steinmann