Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B_583/2009
Urteil vom 27. November 2009
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Mathys,
Gerichtsschreiber Störi.
Parteien
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Konrad Jeker,
Beschwerdeführer,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Wehrle,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Versuchte vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung; faires Verfahren, Grundsatz in dubio pro reo,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht,
vom 24. März 2009.
Sachverhalt:
A.
Das Strafgericht Basel-Landschaft sprach X.________ und Y.________ am 23. Januar 2008 der versuchten vorsätzlichen Tötung und schweren Körperverletzung schuldig. Es bestrafte X.________ mit 5 Jahren und seinen Sohn Y.________ mit 4 Jahren Zuchthaus. Ausserdem verurteilte es die beiden im Grundsatz zur solidarischen Zahlung von Schadenersatz und Genugtuung an Z.________, wobei es ihre Haftungsquote auf 80 % festsetzte. Es hielt folgenden Sachverhalt für erwiesen:
Z.________ beabsichtigte, mit A.________ gegen den Willen ihrer Eltern ein Liebesverhältnis einzugehen. Am 16. Mai 2005 suchte er in Begleitung eines Kollegen ihren Onkel, X.________, an dessen Wohnort auf, um sein Einverständnis zur angestrebten Beziehung zu erlangen. Auf sein Klingeln an der Haustüre erschien X.________, dem seine zwei Söhne folgten. Z.________ zeigte ihnen seine mitgebrachte Pistole und steckte sie wieder ein. Sein Begleiter ergriff nun die Flucht, weil einer der beiden Söhne eine Axt bei sich gehabt habe. Die Unterredung eskalierte zum Streit. Mit Hilfe seiner beiden Söhne überwältigte X.________ Z.________, schlug mit einer Eisenstange auf ihn ein und hörte damit auch dann nicht auf, als er bereits bewusstlos war. Z.________ erlitt schwere, zum Teil lebensgefährliche Verletzungen am Oberkörper und am Kopf.
Dieses Urteil wurde sowohl von Z.________ als auch von X.________ und von Y.________ angefochten. Ersterer setzte sich gegen die Reduktion der Haftungsquote zur Wehr, letztere beide beantragten, freigesprochen zu werden.
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft wies am 24. März 2009 die Appellation von Z.________ ab und hiess die Appellationen von X.________ und Y.________ teilweise gut. Es sprach beide der versuchten vorsätzlichen Tötung sowie der schweren Körperverletzung im Putativnotwehrexzess schuldig und verurteilte den Ersten zu vier, den Zweiten zu zwei Jahren Freiheitsstrafe.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, dieses Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben, ihn freizusprechen und die Sache zur Neuregelung der Zivil- und Kostenfolgen an die erste Instanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
C.
Das Kantonsgericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Z.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. X.________ nimmt zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft unaufgefordert Stellung.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei vor erster Instanz nicht effektiv verteidigt gewesen, da sein damaliger Rechtsvertreter seine elementarsten Pflichten verletzt habe. Er habe keinerlei Beweisanträge gestellt und sich damit begnügt, an der Hauptverhandlung zu plädieren. Insbesondere habe er es unterlassen, den Einvernahmen von zwei Belastungszeugen beizuwohnen und ihn damit um seinen Anspruch gebracht, mit diesen konfrontiert zu werden und ihnen Ergänzungsfragen stellen zu können. Die Verfahrensleitung hätte unter diesen Umständen ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen und für eine effektive Verteidigung sorgen müssen. Er habe zudem dem Kantonsgericht beantragt, die beiden Belastungszeugen einzuvernehmen und mit ihm zu konfrontieren. Auf diese Weise hätte die mangelhafte Verteidigung im Verfahren vor erster Instanz mit geringem Aufwand behoben werden können. Die Abweisung dieses Antrags durch das Kantonsgericht sei unverständlich. Seine Verurteilung verletze Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 IPRG.
2.
2.1 Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens, wie er in weitgehend übereinstimmender Weise von Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 EMRK garantiert wird (BGE 113 Ia 412 E. 3b S. 421), ergibt sich für den Richter die Pflicht, die rechtsungewohnten, anwaltlich nicht vertretenen Verfahrensbeteiligten über ihre Rechte aufzuklären. Die richterliche Fürsorgepflicht erschöpft sich indessen nicht darin, den Angeklagten dort, wo er gar keinen Verteidiger hat, über seine Verteidigungsrechte zu unterrichten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss der amtliche wie der private Verteidiger die Interessen der Angeschuldigten in ausreichender und wirksamer Weise wahrnehmen und die Notwendigkeit von prozessualen Vorkehrungen im Interesse der Angeschuldigten sachgerecht und kritisch abwägen. Der Angeschuldigte hat Anspruch auf eine sachkundige, engagierte und effektive Wahrnehmung seiner Parteiinteressen. Wird von den Behörden untätig geduldet, dass der Verteidiger seine anwaltlichen Berufs- und Standespflichten zum Schaden des Angeschuldigten in schwerwiegender Weise vernachlässigt, kann darin eine Verletzung der in Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 EMRK gewährleisteten Verteidigungsrechte liegen (BGE 120 Ia 48 E. 2 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie die Literatur). Der zuständige Richter ist im Falle einer offenkundig ungenügenden Verteidigung nicht nur verpflichtet, den amtlichen Verteidiger zu ersetzen (BGE 120 Ia 48 E. 2b a.E.). Er hat auch bei einer privaten Verteidigung einzuschreiten und nach der Aufklärung des Angeschuldigten über seine Verteidigungsrechte das zur Gewährleistung einer genügenden Verteidigung Erforderliche vorzukehren, d.h. z.B. einen amtlichen Verteidiger zu bestellen (BGE 124 I 185 E. 3).
2.2 Der Anspruch des Angeklagten, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, gehört zu den Grundzügen des von Art. 6 Ziff. 1 EMRK sowie von den Art. 29 - 32 BV garantierten rechtsstaatlichen Verfahrens, weshalb ihm nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts grundsätzlich absoluter Charakter zukommt. Uneingeschränkt gilt er jedenfalls in den Fällen, bei denen dem streitigen Zeugnis ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses den einzigen oder den wesentlichen Beweis darstellt (Urteil des EGMR i.S. Delta gegen Frankreich vom 19. Dezember 1990, Serie A, Bd. 191-A, Ziff. 37; BGE 129 I 151 E. 3.1; 125 I 127 E. 6c/cc und dd S. 135 f.; 124 I 274 E. 5b S. 286). Von der Konfrontation des Angeklagten mit dem Belastungszeugen kann allenfalls ohne Verfassungs- und Konventionsverletzung abgesehen werden, wenn dies aus äusseren Umständen, die die Strafverfolgungsbehörden nicht zu vertreten haben, unmöglich ist, etwa weil der Zeuge verstorben oder sonstwie dauernd einvernahmeunfähig geworden ist (BGE 125 I 127 E. 6c/dd S. 136). In diesen Fällen ist nach Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK erforderlich, dass der Beschuldigte zu den belastenden Aussagen hinreichend Stellung nehmen kann, diese sorgfältig geprüft werden und der Schuldspruch nicht allein darauf abgestützt wird (BGE 131 I 476 E. 2.2 S. 481 f.; 124 I 274 E. 5b S. 286).
2.3 Der genaue Anlass und Ablauf der Auseinandersetzung vom 16. Mai 2006 war von Anfang an unklar und konnte auch im Strafverfahren nicht restlos erhellt werden. Zu widersprüchlich und unzuverlässig haben sich die Aussagen der Beteiligten erwiesen. Besser ist die Beweislage einzig für den letzten Teil des Geschehens, bei welchem das Opfer vom Beschwerdeführer und seinen Söhnen am Boden festgehalten und mit einer Eisenstange geschlagen wurde. Diese Phase wurde von zwei unabhängigen Zeugen - B.________ und C.________ - beobachtet. Beide zeigten sich stark beeindruckt von der Brutalität des Vorgehens. Die Täter hätten "wie Tiere" bzw. mit voller Wucht auf das Opfer eingeschlagen und nicht aufgehört, als dieses bereits bewusstlos gewesen sei (angefochtener Entscheid E. 3.6 S. 15 ff.).
2.3.1 B.________ und C.________ wurden zunächst durch die Kantonspolizei Solothurn einvernommen, ohne dass der Beschwerdeführer Gelegenheit gehabt hätte, daran teilzunehmen. Das Bezirksstatthalteramt Arlesheim befragte die beiden knapp ein halbes Jahr später als Zeugen, wobei auf den Einvernahmeprotokollen einleitend "in Abwesenheit von Rechtsanwalt D.________ und E.________ (Termin angezeigt am ...)" vermerkt ist.
2.3.2 Im Hinblick auf die erstinstanzliche Hauptverhandlung stellte Advokat E.________, der damalige Verteidiger des Beschwerdeführers, keine Beweisanträge.
2.3.3 Im Appellationsverfahren stellte der neue Verteidiger des Beschwerdeführers den Antrag, B.________ und C.________ als Zeugen einzuvernehmen und ihm Gelegenheit zu geben, ihnen Ergänzungsfragen zu stellen. Das Kantonsgericht wies diesen Antrag mit Verfügung vom 20. Oktober 2008 ab mit der Begründung, die Termine der untersuchungsrichterlichen Einvernahmen seien dem Anwalt des Beschwerdeführers mitgeteilt und sein Konfrontationsrecht damit gewahrt worden.
2.4 Die Aussagen von B.________ und C.________ waren im Verfahren gegen den Beschwerdeführer von erheblicher Bedeutung, sowohl in Bezug auf die rechtliche Qualifikation als auch das Verschulden. So entzieht beispielsweise die Aussage, das Opfer sei weiter geschlagen worden, als es bereits (erkennbar) bewusstlos gewesen sei, der Berufung auf Notwehr die tatsächliche Grundlage. Dem (damaligen) Verteidiger des Beschwerdeführers muss dies bewusst gewesen sein, da beide Zeugen ihre Belastungen bereits Monate vor der untersuchungsrichterlichen Einvernahme gegenüber der Polizei zu Protokoll gegeben hatten. Unter diesen Umständen wäre es für den auf Freispruch plädierenden Verteidiger unabhängig von der verfolgten Verteidigungsstrategie objektiv geboten gewesen, mit seinem Mandanten an der Konfrontationseinvernahme teilzunehmen und die von ihm höchstens teilweise anerkannten Belastungen zu hinterfragen. Insofern könnte im Umstand, dass er dies unterliess, effektiv ein mit einer angemessenen Verteidigung unvereinbares Pflichtversäumnis liegen.
Die Gründe, weshalb der (damalige) Verteidiger von der Konfrontationsmöglichkeit keinen Gebrauch machte, sind indessen unbekannt und werden dies wohl auch bleiben. Er ist am Verfahren nicht mehr beteiligt und seine Beziehung zu seinem ehemaligen Mandanten unterliegt dem Anwaltsgeheimnis. Er dürfte beispielsweise nicht preisgeben, wenn er den Einvernahmen aufgrund einer strikten Weisung seines Mandanten ferngeblieben wäre. Es ist zudem keineswegs erstellt, ob er überhaupt zu diesen Konfrontationseinvernahmen eingeladen wurde. Entsprechende Zustellbelege fehlen, soweit ersichtlich, in den dem Bundesgericht eingereichten Akten. Es steht somit weder fest, dass der erste Verteidiger überhaupt seine Anwaltspflichten verletzte, noch dass das Strafgericht dies hätte erkennen und gestützt auf seine richterliche Fürsorgepflicht (oben E. 2.1) hätte einschreiten müssen. Dies kann allerdings offen bleiben.
2.5 Die Appellation im Sinne der §§ 177 ff. der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft vom 3. Juni 1999 (StPO) ist ein ordentliches (§ 181 StPO), vollkommenes Rechtsmittel, das die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils hemmt und mit dem die umfassende Neubeurteilung des Falles in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht erreicht werden kann. Davon geht offensichtlich auch das Kantonsgericht aus, hat es sich doch zu Beginn der Berufungsverhandlung bei den Parteien erkundigt, ob sie Noven vorzubringen hätten. Für das Verfahren vor der Appellationsinstanz gelten dementsprechend, mit gewissen Einschränkungen, die Vorschriften des erstinstanzlichen Hauptverfahrens (§ 185 Abs. 1 StPO). Von Bedeutung ist § 188 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach im Appellationsverfahren (im Gegensatz zum strafgerichtlichen Hauptverfahren) Beweise nur soweit erhoben werden, als sie das Gericht zur Ermittlung des relevanten Sachverhalts und zum Entscheid über die Appellation als erforderlich erachtet. Dies kann selbstredend nicht bedeuten, dass es im Belieben des Kantonsgerichts steht, ob es ein fristgerecht angebotenes Beweismittel ablehnt. Unter dem Gesichtspunkt des konventions- und verfassungsmässigen Gehörsanspruchs ist dies nur zulässig, wenn es in willkürfreier antizipierter Beweiswürdigung zum Schluss kommt, das angebotene Beweismittel sei ungeeignet, das Beweisergebnis zu beeinflussen (BGE 124 I 208 E. 4a; 122 V 157 E. 1d; 119 Ib 492 5b/bb).
Das ist offensichtlich nicht der Fall. Es ist keineswegs auszuschliessen, dass die Konfrontation der Belastungszeugen mit dem Beschwerdeführer neue Erkenntnisse in Bezug auf die letzte Phase der Auseinandersetzung bringt. Das Kantonsgericht durfte den Antrag daher nicht abweisen, nur weil der Beschwerdeführer diese Konfrontation bereits im Untersuchungs- oder im erstinstanzlichen Verfahren hätte verlangen bzw. daran teilnehmen können und dies unterliess. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wäre dies nur zulässig gewesen, wenn der Beschwerdeführer den Antrag rechtsmissbräuchlich erst so spät gestellt hätte (Entscheid des Bundesgerichts 1P.524/2004 vom 2. Dezember 2004, E. 3, in: Pra 2005 Nr. 45 S. 359). Das wirft ihm das Kantonsgericht indessen nicht vor. Mit der Abweisung des Antrags, ihn an der Berufungsverhandlung mit den beiden Belastungszeugen zu konfrontieren, hat das Kantonsgericht somit das von Art. 29 Abs. 2 BV garantierte rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt und ihm damit im Ergebnis ein faires Verfahren im Sinne von Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 EMRK verweigert. Die Rüge ist begründet.
3.
Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid ans Kantonsgericht zurückzuweisen, ohne dass die weiteren Rügen zu prüfen wären. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend würde an sich der unterliegende Beschwerdegegner kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da sein Antrag auf Bestätigung des angefochtenen Entscheids nicht von vornherein aussichtslos war und seine Bedürftigkeit ausgewiesen erscheint ( Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung des Beschwerdeführers wird gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
2.2 Rechtsanwalt Andreas Wehrle, Solothurn, wird für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.-- entschädigt.
3.
Rechtsanwalt Konrad Jeker, Solothurn, wird für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. November 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Favre Störi