Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
9C_559/2009
Urteil vom 18. Dezember 2009
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.
Parteien
C.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 19. Mai 2009.
Sachverhalt:
A.
A.a Die 1970 geborene C.________ war seit 1997 als Informatik-Assistentin im Vollzeitpensum angestellt. Sie ist Mutter von drei Kindern (Geburt einer Tochter im Juni 1995, Zwillingsgeburt einer Tochter und eines Sohnes im Juni 2000). Seit Februar 2007 ist sie geschieden. Nach einem Nervenzusammenbruch im Februar 2002 reduzierte sie ab April 2002 das Arbeitspensum auf 50 %. Am 13. November 2003 meldete sie sich zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau holte Informationen zur gesundheitlichen und erwerblichen Situation der Versicherten ein. Mit Verfügung vom 6. Februar 2004 und Einspracheentscheid vom 5. April 2004 wies sie das Rentenbegehren ab.
A.b Die von C.________ eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 9. November 2004 teilweise gut und wies die Sache zur medizinischen Abklärung an die IV-Stelle zurück. Die im Auftrag der Verwaltung erstellte Expertise des medizinischen Zentrums X.________ vom 29. Juni 2006 attestierte C.________, sie leide unter einer rezidivierend depressiven Störung und sei in der angestammten Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig. Aufgrund zusätzlicher Abklärungen im Haushalt (Bericht vom 4. Januar 2008) ermittelte die IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 25 % und lehnte das Rentengesuch mit Verfügung vom 21. Januar 2009 erneut ab.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 19. Mai 2009 ab.
C.
C.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, es sei ihr ab 1. März 2003 (eventualiter 1. August 2007) eine halbe Rente zuzusprechen.
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde; Verwaltung und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die gesetzliche Kognitionsbeschränkung in tatsächlicher Hinsicht gilt namentlich für die Einschätzung der gesundheitlichen und leistungsmässigen Verhältnisse (Art. 6 ATSG). Im Rahmen der Invaliditätsbemessung - insbesondere bei der Ermittlung von Gesundheitsschaden sowie Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeitsprofil - sind zur Abgrenzung der (für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen) Tatsachenfeststellungen vom (letztinstanzlich frei überprüfbaren) Rechtsanwendungsakt der Vorinstanz weiterhin die kognitionsrechtlichen Grundsätze heranzuziehen, wie sie in BGE 132 V 393 E. 3 S. 397 ff. entwickelt wurden (vgl. ferner Urteil 8C_652/2008 vom 8. Mai 2009 E. 4).
2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung einschlägigen rechtlichen Grundlagen zutreffend dargelegt. Dies betrifft insbesondere auch die massgeblichen Bestimmungen und Grundsätze zur Beurteilung der Statusfrage und damit zur anwendbaren Invaliditätsbemessungsmethode (bei teilerwerbstätigen Versicherten nach der gemischten Methode; früher aArt. 28 Abs. 2ter IVG in Verbindung mit Art. 27bis IVV, seit 1. Januar 2008 Art. 28a Abs. 3 IVG; BGE 133 V 477 E. 6.3 S. 486 f. mit Hinweisen, 504 E. 3.3 S. 507 f.; 130 V 393 E. 3.3 S. 395 f.; 125 V 146 E. 2c S. 150 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 E. 3.1-3.4) sowie zum Beweiswert eines Berichts über die Abklärung im Haushalt (Urteile I 90/02 vom 30. Dezember 2002 E. 2.3.2, nicht publiziert in: BGE 129 V 67, aber in: AHI 2003 S. 215, I 236/06 vom 19. Juni 2006 E. 3.2 und I 733/03 vom 6. April 2004 E. 5.1.2).
3.
Die unter den Verfahrensbeteiligten umstrittene Frage, in welchem Ausmass die Beschwerdeführerin ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre, ist nach der Rechtsprechung mit Rücksicht auf die gesamten Umstände, so die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse, zu beantworten (in BGE 130 V 396 nicht publizierte E. 3.3, 125 V 146 E. 2c S. 150 mit Hinweisen). Dabei handelt es sich zwangsläufig um eine hypothetische Beurteilung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person berücksichtigen muss, welche indessen als innere Tatsachen einer direkten Beweisführung nicht zugänglich sind und in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden müssen. Die Beurteilung hypothetischer Geschehensabläufe ist eine Tatfrage, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung mitberücksichtigt werden (BGE 115 II 440 E. 5b S. 448; Urteil 4C.213/1990 vom 21. Mai 1991 E. 3b). Ebenso sind Feststellungen über innere oder psychische Tatsachen Tatfragen, wie beispielsweise was jemand wollte oder wusste (BGE 130 IV 58 E. 8.5 S. 62; 125 III 435 E. 2a/aa S. 436; 124 III 182 E. 3 S. 184; Fabienne Hohl, Procédure civile, Band II, Bern 2002, S. 295 Rz. 3219). Rechtsfragen sind hingegen Folgerungen, die ausschliesslich - losgelöst vom konkreten Sachverhalt - auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützt werden (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 4C.213/1990 vom 21. Mai 1991 E. 3b; Peter Münch in: Geiser/ Münch [Hrsg.], Prozessieren vor Bundesgericht, 2. Aufl., Basel 1998, S. 135 Rz. 4.43; Hohl, a.a.O., S. 297 Rz. 3227), oder die Frage, ob aus festgestellten Indizien mit Recht auf bestimmte Rechtsfolgen geschlossen worden ist (z.B. auf Rechtsmissbrauch, vgl. Urteil 2A.545/1999 vom 31. Januar 2000 E. 2b).
4.
Die Beschwerdeführerin war trotz Geburt dreier Kinder über Jahre vollerwerbstätig; sie hat auch angegeben, dass sie ohne gesundheitliche Behinderung einer vollen ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen würde (IV-Fragebogen betreffend Erwerbstätigkeit/Haushalt, unterzeichnet am 16. August 2007); beschwerdeweise macht sie wiederum geltend, sie habe ihr gesamtes Berufsleben auf einen Vollzeiterwerb ausgerichtet und würde dies ohne gesundheitliche Probleme auch so halten. Diesem Umstand haben Verwaltung und Vorinstanz nicht die erforderliche Beachtung geschenkt. Denn wenn vor Eintritt des (teil-)invalidisierenden Gesundheitsschadens eine mehrjährige volle Erwerbstätigkeit ausgeübt worden ist, braucht es überzeugende greifbare Anhaltspunkte, damit neu der Schluss gezogen werden kann, dass der Beschäftigungsgrad auch ohne gesundheitliche Probleme reduziert worden wäre. Diesem zur Beurteilung der Statusfrage wesentlichen und darum rechtlich bedeutsamen Gesichtspunkt ist bei der Beweiswürdigung nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Denn lediglich darauf hinzuweisen, dass ein volles Pensum nicht zu vereinbaren sei mit der Haushalts- und Betreuungsarbeit, reicht zur hypothetischen Annahme einer Teilzeitbeschäftigung nicht aus. Aus den Akten geht hervor, dass solche Arbeiten von der Mutter der Beschwerdeführerin (und zeitweise auch einer Au-Pair-Hilfe) übernommen wurden und der mittlerweile von der Beschwerdeführerin geschiedene Vater der Kinder weiterhin Betreuungsaufgaben wahrnimmt. Überdies wohnt ihre Schwester im gleichen Haus. Die Beschwerdeführerin bringt mit Recht vor, dass das vorinstanzliche Argument, es sei unwahrscheinlich, dass sie nach lediglich fünf Jahren Vollzeittätigkeit "für den Rest ihrer beruflichen Laufbahn" hätte vollerwerbstätig sein wollen, nicht nur fragwürdig ist, sondern für die Beantwortung der Statusfrage im massgebenden Zeitraum gar nicht relevant. Mit Rücksicht auf das sich aufgrund der Fakten und Indizien präsentierende Gesamtbild rechtfertigt sich in rechtlicher Hinsicht der Schluss (vgl. dazu oben E. 3), dass der Beschwerdeführerin der Status einer Vollerwerbstätigen zukommt. Damit ist der Invaliditätsgrad nach der Methode des Einkommensvergleichs festzusetzen.
5.
5.1 Für den Einkommensvergleich sind die Verhältnisse im Zeitpunkt des Beginns des Rentenanspruchs massgebend, wobei Validen- und Invalideneinkommen auf zeitidentischer Grundlage zu erheben und allfällige rentenwirksame Änderungen der Vergleichseinkommen bis zum Verfügungserlass zu berücksichtigen sind (BGE 129 V 222 E. 4.1 S. 223). Das kantonale Gericht hat den erwähnten Zeitpunkt gestützt auf die Angaben der behandelnden Ärztin Dr. med. R.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, zutreffend auf den 1. April 2003 festgelegt (Arztbericht vom 1. Dezember 2003; aArt. 29 Abs. 1 lit. b und 2 IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültigen Fassung).
5.2 Wie die Vorinstanz korrekt erwogen hat, ist das von der Beschwerdeführerin vor Eintritt des Gesundheitsschadens erzielte Erwerbseinkommen als Valideneinkommen zu berücksichtigen (BGE 126 V 75 E. 3a S. 76). Für die Bestimmung des Invalideneinkommens ist von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die Versicherte konkret steht, weil sie (auch) nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit ausübt, bei der besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind (Anstellung seit 1997), bei der sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft und zudem das Einkommen der Arbeitsleistung angemessen ist; darum ist hier der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn zu berücksichtigen (siehe auch BGE 126 V 75 E. 3b/aa S. 76 mit Hinweisen).
5.3 Der Anspruch auf eine halbe Rente ist bei den faktischen Gegebenheiten ausgewiesen: Die Beschwerdeführerin hat in der angestammten Tätigkeit zwar aus Krankheitsgründen unbestrittenermassen die Halbierung ihres Pensums in Kauf zu nehmen, bezieht aber den Lohn - entsprechend reduziert - in der angestammten Höhe. Von weiteren Abklärungen zu dem in den Akten nicht belegten massgebenden Vergleichseinkommen des Jahres 2003 ist darum abzusehen. Der Rentenanspruch ist ein Jahr nach Eintritt des Gesundheitsschadens entstanden, mithin im April 2003.
6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 19. Mai 2009 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 21. Januar 2009 werden aufgehoben, und es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab April 2003 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente hat.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. Dezember 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Meyer Schmutz