Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_315/2009
Urteil vom 18. März 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.
Verfahrensbeteiligte
A.________, Beschwerdeführer,
gegen
Vizepräsidium des Bezirksgerichts Münchwilen, Toggenburgerstrasse 31, Postfach,
9532 Rickenbach bei Wil,
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld.
Gegenstand
Strafverfahren; Bestellung eines Offizialverteidigers,
Beschwerde gegen den Beschluss vom 21. September 2009 des Obergerichts des Kantons Thurgau.
Sachverhalt:
A.
Gegen A.________ ist vor dem Bezirksgerichtsgericht Münchwilen ein Strafverfahren hängig. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau wirft ihm in der Anklage vom 12. März 2009 Misswirtschaft mit einem Deliktsbetrag von rund 11 Mio. Franken, allenfalls mehrfachen Betrug mit einem Deliktsbetrag von knapp 8,5 Mio. Franken und mehrfache Bevorzugung eines Gläubigers mit einem Deliktsbetrag von rund 0,15 Mio. Franken vor. Sie beantragt eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren bedingt und 100, allenfalls 300 Tagessätze Geldstrafe à 100 Franken.
B.
Am 30. März 2009 beantragte A.________, ihm einen amtlichen Verteidiger in der Person von Rechtsanwalt Alexander Schawalder, Aarau, beizugeben.
Das Vizepräsidium des Bezirksgerichts Münchwilen lehnte das Begehren am 10. August 2009 ab.
Das Obergericht des Kantons Thurgau wies die Beschwerde von A.________ gegen diesen bezirksgerichtlichen Entscheid am 21. September 2009 ab.
C.
Mit Beschwerde vom 4. November 2009 beantragt A.________, diesen Entscheid des Bezirksgerichts und des Obergerichts aufzuheben. Er ersucht, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und ihm rückwirkend auf den 30. März 2009 die amtliche Verteidigung zu gewähren. Für das bundesgerichtliche Verfahren sei ihm unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
D.
Der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts wies das Gesuch um aufschiebende Wirkung am 3. Dezember 2009 ab.
E.
Das Bezirksgericht Münchwilen verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht beantragen, die Beschwerde abzuweisen.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid verweigert dem Beschwerdeführer die amtliche Verbeiständung und schliesst damit das Strafverfahren nicht ab. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid im Sinn von Art. 93 Abs. 1 BGG, der nur anfechtbar ist, wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und dadurch einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten ersparen würde (lit. b). Nach konstanter Rechtsprechung erfüllt die Verweigerung der amtlichen Verteidigung die erste Voraussetzung (BGE 133 IV 335 E. 4 mit Hinweisen auf die Praxis zu Art. 87 OG; Urteil 1B_245/2008 vom 11. November 2008 E. 2), die Beschwerde ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig. Unzulässig ist hingegen der Antrag, auch den erstinstanzlichen Entscheid aufzuheben. Dieser ist durch den Entscheid Obergerichts ersetzt worden (Devolutiveffekt) und gilt als inhaltlich mitangefochten (BGE 134 II 142 E. 1.4.5 S. 144; 129 II 438 E. 1 S. 441 mit Hinweisen). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist, soweit sie die gesetzlichen Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG (BGE 134 II 244 E. 2 mit Hinweisen) genügt, was nicht durchgehend der Fall ist.
2.
2.1 Nach § 51 Abs. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Thurgau vom 30. Juni 1970/5. November 1991 (StPO) hat ein Angeschuldigter Anspruch auf amtliche Verteidigung, wenn er bedürftig ist und dies zur Wahrung seiner Interessen im Sinn von § 50 Abs. 4 StPO erforderlich ist. Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich der Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands auch direkt aus Art. 29 Abs. 3 BV. Danach hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands. Als bedürftig gilt, wer die Kosten eines Prozesses nicht aufzubringen vermag, ohne jene Mittel anzugreifen, deren er zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts für sich und seine Familie bedarf (BGE 128 I 225 E. 2.5.1 S. 232; 127 I 202 E. 3b S. 205). Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs. Dazu gehören einerseits sämtliche finanzielle Verpflichtungen, anderseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 120 Ia 179 E. 3a S. 181; 124 I 1 E. 2a S. 2, 97 E. 3b S. 98; 118 Ia 369 E. 4a S. 370; je mit Hinweisen).
Beide kantonalen Instanzen gehen übereinstimmend davon aus, dass die Schwere und die Komplexität der Tatvorwürfe die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren erfordern. Strittig ist einzig, ob der Beschwerdeführer bedürftig ist.
2.2 Der Vizepräsident des Bezirksgerichts hat im erstinstanzlichen Entscheid erwogen, der Beschwerdeführer arbeite bei der B.________ GmbH und erziele eine Bruttomonatssalär von Fr. 3'500.--. Gehe man davon aus, dass er einen 13. Monatslohn erhalte, ergebe sich ein Bruttolohn von jährlich Fr. 45'500.--, was mit dem Lohnausweis 2008 übereinstimme; der Nettolohn betrage diesfalls jährlich Fr. 40'646.-- bzw. monatlich Fr. 3'387.--. Nach der Steuererklärung 2008 habe er zudem einen Nebenverdienst von Fr. 940.-- erzielt. Es sei daher von monatlichen Einkünften des Beschwerdeführers von Fr. 3'465.-- auszugehen. Als Vermögen sei dem Beschwerdeführer eine Lebensversicherung mit Rückkaufswert von Fr. 12'920.-- anzurechnen.
Als erweiterten Notbedarf des Beschwerdeführers anerkannte der Vizepräsident in Anwendung der Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums vom 1. Juli 2009 Fr. 3'000.--, nämlich: Fr. 1'200.-- als Grundbetrag, Fr. 360.-- als 30-prozentigen Zuschlag dazu, Fr. 984.-- als Darlehenszins für das Eigenheim, Fr. 200.-- als Nebenkosten und Fr. 245.-- für Krankenkassenprämien. Daraus zog er den Schluss, dass dem Beschwerdeführer jährlich Fr. 18'500.-- (12 x Fr. 465.-- + Fr. 12'920.--) für die Bezahlung seinen Verteidigers zur Verfügung stünden, was er als zurzeit ausreichend beurteilte. Falls die Verteidigungskosten im Verlauf des Verfahrens diesen Betrag überstiegen, könne ein neues Gesuch um amtliche Verbeiständung gestellt werden.
2.3 Das Obergericht hat dazu erwogen, der Beschwerdeführer arbeite in einem Restaurant, womit für ihn der vom Bundesrat am 19. November 1998 allgemeinverbindlich erklärte Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) gelte. Danach habe er einen Anspruch auf einen 13. Monatslohn. Als Kaderangestellter habe er zudem Anspruch auf einen Bruttolohn von mindestens Fr. 4'597.-- pro Monat. Damit ergebe sich einschliesslich des 13. Monatslohnes ein Nettolohn von rund Fr. 4'400.--. Selbst wenn man davon ausgehe, dass er nicht nur Kadermitglied, sondern Betriebsleiter sei und als solcher vom L-GAV nicht erfasst werde, so könne daraus nicht im Ernst der Schluss gezogen werden, der Beschwerdeführer verdiene als promovierter Betriebswissenschafter monatlich brutto lediglich Fr. 3'500.--, weniger als nach L-GAV ein Mitarbeiter ohne Berufslehre. Die anderslautenden Bestätigungen seiner Arbeitgeberin vermöchten daran nichts zu ändern. Die Gesellschafter der B.________ GmbH seien die C.________ AG und D.________, der Lebenspartner des Beschwerdeführers und ebenfalls Geschäftsführer der B.________ GmbH. Dessen Bescheinigungen kämen daher keine grosse Bedeutung zu. Wohl könne es angesichts der Lohnabrechnungen sowie der Steuererklärungen und -veranlagungen zutreffen, dass dem Beschwerdeführer nur ein Bruttolohn von Fr. 3'500.-- ausgerichtet worden sei. Dieser Lohn liege aber derart weit vom Marktüblichen entfernt, dass zwingend davon ausgegangen werden müsse, das Einkommen des Beschwerdeführers werde absichtlich tief gehalten. Mit Blick auf das Gesuch um amtliche Verbeiständung müsse dies als rechtsmissbräuchlich gewertet werden. Auszugehen sei daher von einem monatlichen Nettolohn von allermindestens Fr. 4'400.--.
Beim erweiterten Notbedarf trug das Obergericht dem Umstand Rechnung, dass der Beschwerdeführer seine Wohnliegenschaft zusammen mit seinem Lebenspartner bewohnt und dieser die Hälfte der Hypothekarzinsen und Nebenkosten zu tragen habe. Der Grundbetrag belaufe sich angesichts der kostensenkenden Lebensgemeinschaft auf die Hälfte des einem Ehepaar zustehenden Grundbetrags von Fr. 1'700.--, somit Fr. 850.--, was zusammen mit dem 25-prozentigen Zuschlag einen anrechenbaren Grundbetrag von Fr. 1'062.50 ergebe. Hinzu kämen die Hälfte der vom Bezirksgericht für Wohnen und Wohnnebenkosten eingeräumten Beträge, nämlich Fr. 495.-- und Fr. 100.--, die unbestrittenen Kosten für die Krankenversicherung von Fr. 245.30 sowie - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - die Steuerlast von Fr. 20.--. Nicht zu berücksichtigen seien, wie die Vorinstanz zu Recht entschieden habe, die Verzinsung eines Darlehens von Fr. 275'000.--, da dessen Bestand zweifelhaft sei. Bei einem Einkommen von mindestens Fr. 4'400.-- und einem prozessualen Existenzminimum von Fr. 1'922.80 resultiere ein jährlicher Einnahmenüberschuss von nahezu Fr. 30'000.--, womit der Beschwerdeführer in der Lage sei, seinen Anwalt zu bezahlen.
2.4 Bei der Erfassung der wirtschaftlichen Situation des Beschwerdeführers ist nach dem Effektivitätsgrundsatz von den Einkünften und Vermögenswerten auszugehen, über die er tatsächlich verfügt (BGE 118 Ia 369 E. 4b). Es geht somit nicht an, ihm den für seine Tätigkeit vom L-GAV vorgeschriebenen Mindestlohn anzurechnen, wenn er diesen, aus welchen Gründen auch immer, gar nicht erzielt. Entgegen der Vorstellung der Staatsanwaltschaft (Vernehmlassung Ziff. 2 S. 2) wäre es noch weniger zulässig, ihm den Lohn als hypothetisches Einkommen anzurechnen, den er als Betriebswissenschafter mit langjähriger Berufserfahrung erzielen könnte, wenn er in eine städtische Agglomeration umziehen und einen seiner akademischen Ausbildung entsprechenden Beruf ergreifen würde.
2.4.1 Der Beschwerdeführer erzielte nach eigenen Angaben einen monatlichen Bruttolohn von Fr. 3'500.--. Nach den unbestrittenen Berechnungen im erstinstanzlichen Entscheid ergibt dies bei 13 Monatslöhnen einen Nettolohn von Fr. 3'387.--. Der Beschwerdeführer macht allerdings geltend, nur 12 Monatslöhne zu erhalten; diesfalls läge der monatliche Nettolohn knapp 8% tiefer, also bei rund Fr. 3'120.--.
2.4.2 Beim Grundbetrag ist das Obergericht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer in Hausgemeinschaft mit seinem Lebenspartner lebt. Es hat bei dessen Berechnung die für Ehepaare geltenden Regeln herangezogen und insbesondere nur die Hälfte der Wohnkosten (Hypothekarzinsen, Nebenkosten) in Betracht gezogen. Dieses Vorgehen ist nicht zu beanstanden, und der Beschwerdeführer erhebt zu Recht keine Einwände dagegen. Nicht berücksichtigt hat das Obergericht, wie schon die erste Instanz, die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verzinsung einer Darlehensschuld, da es vom Bestand dieses Darlehens nicht überzeugt war. Auch dies kritisiert der Beschwerdeführer nicht in einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Weise und legt nicht dar, inwiefern die Annahme des Obergerichts, die Existenz dieser Darlehensschuld sei weder glaubhaft noch gar erwiesen, willkürlich sein soll. Zusammenfassend ist nicht ersichtlich, inwiefern die obergerichtliche Annahme, der Grundbedarf des Beschwerdeführers betrage Fr. 1'922.50, bundesrechtswidrig sein sollte.
2.4.3 Somit ergibt sich für die Berechnung des erweiterten Existenzminimums, wenn man auf die Angaben des Beschwerdeführers über sein Einkommen abstellt, dass monatlichen Einkünften von rund Fr. 3'120.-- Ausgaben von Fr. 1'922.50 gegenüberstehen, womit ihm ein Überschuss von monatlich Fr. 1'197.50, bzw. jährlich Fr. 14'370.-- zur Verfügung bleibt.
2.5 Auch wenn in einem komplexen Wirtschaftsstraffall die Verteidigungskosten diesen Betrag bei weitem übersteigen können, so ist zu berücksichtigen, dass das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung nach der Anklageerhebung gestellt wurde, in einem Zeitpunkt notabene, in dem der Verteidiger im Wesentlichen noch die Hauptverhandlung vorzubereiten und dieser beizuwohnen hat. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer diesen Aufwand aus seinen freien Mitteln finanzieren kann. Die Abweisung seines Gesuchs um unentgeltliche Verteidigung erweist sich somit jedenfalls im Ergebnis als verfassungskonform. Sollte der Verteidigungsaufwand seine freien Mittel in Zukunft übersteigen oder seine Einkünfte sinken, so ist dem Beschwerdeführer unbenommen, ein neues Gesuch zu stellen, wobei er dann gehalten ist, seine wirtschaftliche Situation ebenso wie seine Aufwendungen für die Verteidigung transparent und nachvollziehbar darzustellen und zu belegen.
3.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da er seine verfügbaren Mittel für seine Verteidigung im kantonalen Strafverfahren benötigt, rechtfertigt sich, von einer Kostenauflage abzusehen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Damit wird sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Der Beschwerdeführer reichte seine Beschwerde am letzten Tag der Beschwerdefrist ein. Eine Beschwerdeergänzung war somit ausgeschlossen, weshalb die Bestellung eines amtlichen Verteidigers für das bundesgerichtliche Verfahren sinnlos gewesen wäre und damit von vornherein ausser Betracht fiel. Da der Beschwerdeführer in eigener Sache prozessierte, ist ihm keine Parteienschädigung zuzusprechen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Vizepräsidium des Bezirksgerichts Münchwilen sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 18. März 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Störi