Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B_858/2009
Urteil vom 31. Mai 2010
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Mathys,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari
Gerichtsschreiber Borner.
Parteien
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Camenzind,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, 6301 Zug ,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Versuchte schwere Körperverletzung; Verletzung des rechtlichen Gehörs,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug, Strafrechtliche Abteilung, vom 25. August 2009.
Sachverhalt:
A.
Das Jugendgericht des Kantons Zug wies X.________ am 20. Februar 2009 wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, Tätlichkeiten, Angriffs, Raubs, Sachbeschädigung, versuchter Nötigung, Geldfälschung, Inumlaufsetzens falschen Geldes und mehrfacher Widerhandlung gegen Art. 19a Ziff. 1 BetmG definitiv in eine Erziehungseinrichtung ein und ordnete zusätzlich eine ambulante psychotherapeutische Behandlung und Begleitung an. Es bestrafte ihn mit einem Freiheitsentzug von 15 Monaten und schob den Vollzug von zwei Dritteln der Strafe bedingt auf. Zudem verpflichtete es ihn, verschiedene Privatkläger zu entschädigen.
Eine Berufung von X.________ wies das Obergericht des Kantons Zug am 25. August 2009 ab. Es auferlegte ihm eine unbedingte Freiheitsstrafe von 3 Jahren und bestätigte im Übrigen das erstinstanzliche Urteil.
B.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Während die Vorinstanz begehrt, die Beschwerde sei abzuweisen, hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug auf eine Vernehmlassung verzichtet (act. 13 und 14).
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer bringt vor, das Verbot der reformatio in peius fliesse "direkt aus der verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 4 BV". Die Vorinstanz habe dieses Verschlechterungsverbot verletzt, indem sie ihm die beabsichtigte Erhöhung des Strafmasses nicht vorgängig angezeigt habe (Beschwerdeschrift, S. 3 Ziff. 2).
2.
Die Vorinstanz erhöhte die zusätzlich zur Erziehungsmassnahme ursprünglich verfügte Freiheitsstrafe von 15 Monaten - wovon 10 bedingt - auf 36 Monate unbedingt. Dabei stützte sie sich insbesondere auf den pädagogischen Zwischenbericht des Jugendheims Erlenhof vom 4. August 2009, der sich in mehrfacher Hinsicht negativ über das Verhalten des Beschwerdeführers ausgesprochen hatte.
In Kenntnis dieses Berichts äusserten sich die Verteidigung und die Jugendanwaltschaft an der Berufungsverhandlung zur Frage der Strafzumessung. Insoweit ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt.
Wie die Vorinstanz in der Vernehmlassung zutreffend ausführt, kennt der Kanton Zug (noch) kein Verbot der reformatio in peius (siehe aber Art. 391 Abs. 2 StPO/CH, die am 1. Januar 2011 in Kraft treten wird). Insoweit durfte sie über das erstinstanzliche Strafmass hinausgehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine derartige Erhöhung des Strafmasses vor dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör und insbesondere dem Fairnessgebot (Art. 29 BV) standhält.
3.
Der Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung gemäss Art. 29 Abs. 1 BV gewährleistet grundsätzlich ein faires Verfahren im Rahmen der Rechtsanwendung. Ein Ausfluss dieser Verfahrensgarantie liegt im Verhalten der Behörden (und der Parteien) nach Treu und Glauben. Im Rahmen ihrer generellen prozessualen Fürsorgepflicht muss die Behörde einen Verfahrensbeteiligten von Amtes wegen informieren, wenn er sich anschickt, einen offensichtlichen Verfahrensfehler zu begehen, der rechtzeitig behoben werden kann. Eine erhöhte Sorgfalt des Entscheidungsträgers ist geboten, wenn die in Frage stehende Rechtsfolge (z.B. Freiheitsentzug) besonders schwerwiegend auf die persönliche Stellung einwirkt (BGE 124 II 265 E. 4a; Müller/Schefer, Grundrechte in der Schweiz, Bern 2008, 4. Auflage, S. 821 ff. Ziff. 1 f.).
Der Beschwerdeführer legte gegen das Urteil des Jugendgerichts Berufung ein in der Hoffnung, das Rechtsmittel führe zu einem für ihn günstigeren neuen Entscheid. Die Staatsanwaltschaft beantragte, das erstinstanzliche Urteil sei zu bestätigen, nicht jedoch dessen Verschärfung. Der Beschwerdeführer konnte sich zwar zum negativen Zwischenbericht des Jugendheims äussern. Doch musste er nicht damit rechnen, dass die Vorinstanz parallel zur Erziehungsmassnahme die Freiheitsstrafe von 15 Monaten - wovon 10 Monate bedingt - auf 36 Monate unbedingt erhöhen würde. Über eine derartige Erhöhung des Strafmasses hätte die Vorinstanz den Beschwerdeführer vorgängig orientieren müssen. Indem sie dies nicht tat, verletzte sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör.
4.
Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur Gehörsgewährung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Mit der Gutheissung der Beschwerde ist das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Der Kanton Zug hat dessen Rechtsvertreter angemessen zu entschädigen (Art. 68 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 25. August 2009 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Zug hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zug, Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 31. Mai 2010
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Favre Borner