BGer 6B_91/2010
 
BGer 6B_91/2010 vom 31.05.2010
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
6B_91/2010
Urteil vom 31. Mai 2010
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Mathys,
Gerichtsschreiberin Koch.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Simon Krauter,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Verweigerung der Anrechnung der Ausschaffungshaft,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 3. Dezember 2009.
Sachverhalt:
A.
Das Obergericht des Kantons Thurgau verurteilte X.________ alias aX.________ am 3. Dezember 2009 zweitinstanzlich wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes, falscher Anschuldigung und Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 10.-- und einer Busse von Fr. 200.--. Die Untersuchungshaft von 32 Tagen rechnete es auf die Freiheitsstrafe an.
B.
Gegen dieses Urteil erhebt X.________ Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die vom 8. Januar bis zum 17. Mai 2007 ausgestandene Ausschaffungshaft sei ebenfalls auf die Freiheitsstrafe anzurechnen. Die Verfahrenskosten seien der Staatskasse aufzuerlegen, und er sei angemessen zu entschädigen. Eventualiter ersucht er um Bewilligung der amtlichen Verteidigung bzw. der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
Erwägungen:
1.
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz rechne die Ausschaffungshaft zu Unrecht nicht auf die Freiheitsstrafe von 18 Monaten an. In Fällen, in welchen die Ausschaffungshaft faktisch die Funktion der Untersuchungshaft übernehme, sei diese auf die Strafe anzurechnen. Die Voraussetzungen der Ausschaffungs- und Untersuchungshaft seien gleichzeitig erfüllt gewesen. Er sei ein abgewiesener Asylbewerber, weshalb die Fluchtgefahr zu bejahen sei. Auch Fortsetzungsgefahr sei gegeben, weil er trotz einschlägiger Vorstrafe weiter delinquiert habe. Zwar habe der Untersuchungsrichter auf eine Verlängerung der Untersuchungshaft nach dem 8. Januar 2007 verzichtet, dies aber nur, weil er in Ausschaffungshaft versetzt worden sei.
1.2 Die Vorinstanz erwägt, die Untersuchungshaft sei einzig wegen Kollusionsgefahr, nicht aber wegen Fluchtgefahr angeordnet worden. Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft seien ab dem 8. Januar 2007 nicht mehr gegeben gewesen. Im Anschluss an die Konfrontationseinvernahme vom 17. Dezember 2006 habe keine Kollusionsgefahr mehr bestanden, weil sämtliche Beteiligten befragt worden seien. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft habe eine einzige Einvernahme am 23. April 2007 stattgefunden. Einen Grund, den Beschwerdeführer bis zu diesem Zeitpunkt in Haft zu behalten, habe aus strafprozessualer Sicht nicht bestanden. Der Zweck der ab dem 8. Januar 2007 vom Migrationsamt angeordneten Ausschaffungshaft habe ausschliesslich in der Durchsetzung der Ausschaffung des Beschwerdeführers gelegen. Sie sei deshalb nicht auf die ausgefällte Strafe anzurechnen. Auch die behauptete Zusicherung des Untersuchungsrichters auf Anrechnung der Ausschaffungshaft führe zu keiner anderen Beurteilung. Denn der Untersuchungsrichter sei für den Entscheid über die Anrechnung nicht zuständig, was für den Verteidiger ohne Weiteres ersichtlich gewesen sei. Andererseits hätte er die Möglichkeit gehabt, die Rückversetzung in die Untersuchungshaft zu verlangen.
1.3
1.3.1 Das Gericht rechnet die Untersuchungshaft, die der Täter während dieses oder eines anderen Verfahrens ausgestanden hat, auf die Strafe an (Art. 51 StGB). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Ausschaffungshaft auf die Freiheitsstrafe jedenfalls dann anzurechnen, wenn der Beschuldigte, hätte er sich nicht in Ausschaffungshaft befunden, in Untersuchungshaft genommen worden wäre, also in einer Konstellation, wo konkurrierend die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und der Ausschaffungshaft gegeben sind (BGE 124 IV 1 E. 2b S. 3).
1.3.2 Nach § 106 Abs. 1 des Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 30. Juni 1970 und 5. November 1991 (Strafprozessordnung, StPO/TG, RB 312.1) kann gegen Angeschuldigte oder Verurteilte unter anderem ein Haftbefehl erlassen werden bei Fluchtgefahr (Ziff. 1) oder wenn die Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit ernsthaft zu befürchten ist oder die Freiheit des Angeschuldigten mit Gefahr für Dritte verbunden ist (Ziff. 3).
1.3.3 Für die Frage, ob unter willkürlicher Anwendung kantonalen Strafprozessrechts ein Haftgrund verneint wurde, gelten erhöhte Begründungsanforderungen. Die Beschwerdeschrift muss die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche Rechtssätze inwiefern durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen; auf rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweisen).
1.4 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Beispielsweise können entsprechende Äusserungen oder Vorbereitungshandlungen auf eine Fluchtgefahr hinweisen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweisen). Dass solche den Akten zu entnehmen wären bzw. weitere Umstände auf eine Flucht hindeuteten, legt der Beschwerdeführer nicht näher dar. Vielmehr spricht der Umstand, dass er bereits während der Inhaftierung im Dezember 2006 eine Beziehung zu einer Schweizerin pflegte (Vorakten act. 17, 195), die er kurze Zeit später heiratete (erstinstanzliches Urteil S. 31), gegen eine Fluchtgefahr. Das Argument des Beschwerdeführers, er sei als fluchtgefährlich einzustufen, da er ein abgewiesener Asylbewerber sei, dem eine Freiheitsstrafe drohe, überzeugt nicht, soweit es den Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügt. Auch die sinngemässe Verneinung der Fortsetzungsgefahr durch die Vorinstanz hält vor dem Willkürverbot nach Art. 9 BV ohne Weiteres stand.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der Untersuchungsrichter habe seinem Rechtsvertreter telefonisch versichert, dass die Ausschaffungshaft auf eine Freiheitsstrafe angerechnet werde. Damit beruft er sich sinngemäss auf Vertrauensschutz.
2.2 Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nach Art. 9 BV verleiht einen Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden. Er setzt weiter voraus, dass gestützt auf berechtigtes Vertrauen nicht mehr rückgängig zu machende nachteilige Dispositionen getroffen wurden und dass nicht überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen. Der Vertrauensschutz ist nur zu bejahen, wenn die Behörde im Rahmen ihrer Kompetenz gehandelt hat und der Betroffene sich nicht unverzüglich Kenntnis über die Unrichtigkeit der Auskunft verschaffen konnte (vgl. BGE 131 II 627 E. 6.1 S. 636 f. mit Hinweisen).
2.3 Der Untersuchungsrichter ist für die Frage, ob die Ausschaffungshaft auf die Strafe angerechnet wird, nicht zuständig. Dies ergibt sich bereits durch einen einfachen Blick ins Gesetz, welches vorsieht, dass das Gericht über die Anrechnung von Untersuchungshaft entscheidet (Art. 51 StGB). Selbst wenn der Untersuchungsrichter die entsprechende Auskunft erteilt hätte, kann sich der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer nicht auf Vertrauensschutz berufen.
3.
Der Beschwerdeführer rügt im Weiteren sinngemäss eine Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 50 StGB. Die Vorinstanz gehe auf die Frage der Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr nicht ein.
3.1 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers genügt das vorinstanzliche Urteil den Anforderungen an die Begründungspflicht nach Art. 50 StGB. Denn die Vorinstanz verneint nebst der Kollusionsgefahr weitere Haftgründe und bringt so zum Ausdruck, dass sie die Flucht- und Fortsetzungsgefahr implizit verneint. Eine Beschwerde ist im Übrigen nicht alleine deshalb gutzuheissen, um die Begründung zu verbessern oder zu vervollständigen, soweit die Entscheidung im Ergebnis bundesrechtskonform erscheint (BGE 127 IV 101 E. 2c. S. 104 f. mit Hinweisen). Die Verneinung der Haftgründe Flucht- und Fortsetzungsgefahr ist, wie oben gezeigt, nicht zu beanstanden.
4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er stellt ein Gesuch um amtliche Verteidigung bzw. unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesgericht gibt es keine amtliche Verteidigung. Das Bundesgerichtsgesetz sieht die unentgeltliche Rechtspflege vor (Art. 64 BGG), bei deren Gewährung das Bundesgericht der Partei einen Anwalt oder eine Anwältin bestellt, wenn dies zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist (Art. 64 Abs. 2 Satz 1 BGG). Indessen ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war. Den angespannten finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 31. Mai 2010
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Favre Koch