Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_167/2010
Urteil vom 11. Juni 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiber Christen.
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Richard Nägeli,
gegen
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17, Postfach 2251,
8026 Zürich.
Gegenstand
Sicherheitshaft,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 12. Mai 2010
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führte eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen einfacher Körperverletzung, Drohung sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte. Am 19. Oktober 2009 wurde er verhaftet und in Untersuchungshaft versetzt. Die Staatsanwaltschaft erhob am 27. April 2010 Anklage am Bezirksgericht Zürich. Sie wirft X.________ im Wesentlichen vor, er habe am 19. Oktober 2009 seine von ihm getrennt lebende Ehefrau mehrmals geschlagen, getreten und gewürgt, sodass diese zahlreiche Hämatome, Prellmarken und Blutergüsse am Körper, insbesondere im Halsbereich sowie eine Rissquetschwunde über dem linken Auge, erlitten habe. Er habe sie mit dem Tod bedroht und gedroht, die sieben Monate alte Tochter auf den Boden fallen zu lassen. Anlässlich der Verhaftung habe er sich renitent und aggressiv verhalten.
B.
Am 11. Mai 2010 beantragte der Verteidiger von X.________, am 12. Mai 2010 dieser selbst, die Haftentlassung. Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich lehnte die Haftentlassungsgesuche mit Verfügung vom 12. Mai 2010 ab. Er bejahte den dringenden Tatverdacht und Kollusionsgefahr. Ob überdies Wiederholungsgefahr gegeben sei, liess er offen.
C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung der Verfügung des Haftrichters und seine Entlassung aus der Haft unter Ansetzung einer geeigneten Schutzmassnahme für die Geschädigte (Kontakt- und Rayonverbot). Ihm sei im Verfahren vor Bundesgericht die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu bewilligen.
Der Haftrichter hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen.
Erwägungen:
1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG ist gegen den angefochtenen Entscheid die Beschwerde in Strafsachen gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig.
Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss, der angefochtene Entscheid verletze sein verfassungsmässiges Recht auf persönliche Freiheit.
2.2 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV ) wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei (BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24 mit Hinweisen).
Sicherheitshaft darf nach der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 des Kantons Zürich (StPO; LS 321) nur angeordnet bzw. verlängert werden, wenn der Angeklagte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund vorliegt (§ 58 Abs. 1 i.V.m. § 67 Abs. 2 Satz 1 StPO/ZH). Der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeklagte werde Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhalts auf andere Weise gefährden (§ 58 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH).
2.3 Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er wendet sich gegen die Annahme von Kollusionsgefahr. Er macht geltend, das Untersuchungsverfahren sei nach der Durchführung der Einvernahme der Geschädigten im Januar 2010, dem Eingang des psychiatrischen Gutachtens Ende März 2010 und der Anklageerhebung beendet. Die wesentlichen Tatbestandselemente seien ermittelt und unveränderlich. Selbst wenn Kollusionsgefahr bestünde, gäbe es mildere Massnahmen zur Erreichung ihrer Vereitelung.
2.4 Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden. Es müssen konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 132 I 21 E. 3.2 S. 23 mit Hinweisen). Solche können sich namentlich aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen ergeben. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (BGE 132 I 21 E. 3.2.1 S. 23 mit Hinweisen). Nach Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigen Prüfung. Er dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind grundsätzlich an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2.2 S. 24 mit Hinweisen).
Sicherheitshaft darf nur als "ultima ratio" angeordnet werden. Wo sie durch mildere Ersatzmassnahmen ersetzt werden kann, muss von ihrer Fortdauer abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Massnahmen verfügt werden (BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen).
2.5 Die Strafuntersuchung ist hier abgeschlossen und die wesentlichen Beweise sind erhoben. Nach der dargelegten Rechtsprechung sind deshalb an die Annahme von Kollusionsgefahr erhöhte Anforderungen zu stellen.
Zwar kann nicht ausgeschlossen, dass sich der Beschwerdeführer bei einer Haftentlassung mit der Geschädigten in Verbindung setzen und diese veranlassen könnte, ihre belastenden Aussagen zumindest abzuschwächen. Die Vorinstanz erwägt jedoch selbst (S. 3 des angefochtenen Entscheids), es sei unwahrscheinlich, dass das Sachgericht auf eine neue Darstellung der Geschädigten abstellen würde. Selbst nach der Auffassung der Vorinstanz scheinen somit die Beweise - im vorliegenden fortgeschrittenen Verfahrensstadium - im Wesentlichen gesichert zu sein.
Was die Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers betrifft, ist auf das von Dr. med. W. Tur über den Beschwerdeführer erstattete psychiatrische Gutachten vom 20. März 2010 zu verweisen. Danach dürften die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte Ausdruck einer lebensphasischen Veränderung resp. einer besonderen aktuellen Situation im Sinn einer vorübergehenden psychischen Ausnahmesituation bzw. Reaktion auf eine spezifische Lebenssituation mit drohendem Scheitern der Ehe sein. Dabei hat auch der vorübergehende Einfluss von Alkohol eine Rolle gespielt, ohne dass zu jenem aber eine süchtige Bindung besteht (Gutachten S. 16). Der Gutachter kommt zum Schluss, dass von einer recht günstigen Legalprognose auszugehen sei. Weitere Drohungen gegenüber der Geschädigten seien lediglich mit einem leicht erhöhten Risiko behaftet, was auch für allfällige Tätlichkeiten gelte. Die Ausführungsgefahr hinsichtlich der Todesdrohung gegenüber der Geschädigten könne praktisch vernachlässigt werden (Gutachten S. 17).
Unter Würdigung dieser Umstände kann die Kollusionsgefahr jedenfalls nicht als so ausgeprägt beurteilt werden, dass sie nicht durch ein Rayon- in Verbindung mit einem Kontaktverbot (§ 72 Abs. 2 StPO/ZH) hinreichend gebannt werden könnte.
Die weitere Inhaftierung des Beschwerdeführers wegen Kollusionsgefahr ist somit nicht mehr gerechtfertigt. Die Beschwerde ist deshalb insoweit gutzuheissen.
3.
Die Vorinstanz hat offen gelassen, ob Wiederholungsgefahr gegeben sei. Die Sache ist an sie zurückzuweisen, damit sie sich dazu äussere. Die Haftentlassung durch das Bundesgericht kommt deshalb nicht in Betracht.
4.
Gerichtskosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht zu entrichten (Art. 68 BGG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist deshalb gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich vom 12. Mai 2010 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an diesen zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. Juni 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Christen