Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2C_165/2010
Urteil vom 29. September 2010
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Bundesrichterin Aubry Girardin,
Gerichtsschreiber Uebersax.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Affentranger,
gegen
Amt für Migration des Kantons Luzern, Fruttstrasse 15, 6002 Luzern,
Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern, Bahnhofstrasse 15, Postfach 3768, 6002 Luzern.
Gegenstand
Ausländerrecht,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 19. Januar 2010.
Erwägungen:
1.
1.1 X.________, geboren 1971, marokkanischer Staatsbürger, erhielt im Jahre 1998 zufolge der Heirat mit der Schweizerin S.________ eine Jahresaufenthaltsbewilligung, die regelmässig verlängert wurde. Eine Niederlassungsbewilligung wurde ihm angesichts seines strafrechtlich relevanten Verhaltens und seiner ungefestigten wirtschaftlichen Existenz nie erteilt. Am 24. Juni 2005 wurde die Ehe geschieden. Die elterliche Sorge über die gemeinsamen, in den Jahren 2000 und 2003 geborenen Kinder, zu denen X.________ keine regelmässigen Kontakte pflegte, wurde der Mutter zugeteilt.
1.2 Am 25. August 2005 heiratete X.________ in Marokko seine Landsfrau Y.________, geboren 1975, die ihm illegal in die Schweiz nachfolgte und im April 2007 aufgegriffen und weggewiesen wurde. Am 7. Mai 2007 stellte X.________ für sie ein Familiennachzugsgesuch. Ende April 2008 erhielt das Amt für Migration des Kantons Luzern davon Kenntnis, dass sich Y.________ seit Januar 2008 wiederum illegal in der Schweiz aufhielt und am 11. April 2008 den Sohn Z.________ geboren hatte, der an einem Herzfehler leidet und zunächst in den Kinderspitälern Zürich und Luzern stationär behandelt werden musste. Mit Verfügung vom 28. Oktober 2008 entschied das Amt für Migration, Y.________ und ihr Kind Z.________ hätten die Schweiz bis Ende November 2008 zu verlassen und den Ausgang des Verfahrens im Ausland abzuwarten. Das Nachzugsgesuch werde erst nach ihrer Ausreise behandelt; vorerst werde darauf nicht eingetreten.
1.3 Hiergegen beschwerte sich X.________ erfolglos zuerst beim Justiz- und Sicherheitsdepartement und hernach beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern. Dieses hielt in seinem Urteil vom 19. Januar 2010 fest, es gehe um eine nach altem Recht (Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAG; BS 1 121]) zu behandelnde Ermessensbewilligung im Sinne von Art. 4 ANAG. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung seien die kantonalen Migrationsbehörden nicht gehalten, Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung von Personen zu behandeln, die sich ohne entsprechenden Anspruch in der Schweiz aufhielten. Die Ausreise sei für Ehefrau und Kind auch verhältnismässig, weshalb das Zuwarten mit der Behandlung des Nachzugsbegehrens bis zum Verlassen der Schweiz rechtens sei.
1.4 Gegen dieses Urteil führt X.________ mit Eingabe vom 22. Februar 2010 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die kantonalen Behörden anzuweisen, auf das Nachzugsgesuch einzutreten. Im Weiteren ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unter Beiordnung des beigezogenen Rechtsanwalts. Der Beschwerdeführer wirft den kantonalen Behörden vor, sie hätten den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt, das ihnen gemäss Art. 4 ANAG zustehende Ermessen missbraucht und gegen Art. 8 EMRK verstossen.
1.5 Das Amt für Migration des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit sie nicht gegenstandslos sei. Es verweist auf den Umstand, dass das Bundesamt für Migration mittlerweile mit Verfügung vom 10. Dezember 2009 die Zustimmung zur Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers verweigert habe. Falls während der Gesuchsbearbeitung eine operative oder ärztliche Behandlung des Sohnes Z.________ in der Schweiz erforderlich werde, könnten die Gesuchsteller jederzeit Besuchervisa beanspruchen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und das Bundesamt für Migration schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
1.6 Mit Verfügung vom 25. Februar 2010 hat der Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
1.7 Mit Beschwerde an das Bundesgericht kann im Wesentlichen, von hier nicht interessierenden anderen Beschwerdegründen abgesehen, die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (vgl. Art. 95 BGG). Dazu zählt auch das Bundesverfassungsrecht. Das Bundesgericht wendet das Recht grundsätzlich von Amtes wegen an, prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber nur auf Rechtsverletzungen hin, die von den Beschwerdeführern geltend gemacht werden (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Bei der behaupteten Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254).
2.
2.1 Auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ausgeschlossen gegen die Erteilung oder Verweigerung von Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Gemäss Art. 4 ANAG, der hier unbestrittenermassen noch anwendbar ist (vgl. Art. 126 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG; SR 142.20]), entscheiden die zuständigen Behörden, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Verträge mit dem Ausland, nach freiem Ermessen über die Bewilligung von Aufenthalt und Niederlassung. Es besteht daher grundsätzlich kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, es sei denn, der Ausländer oder seine in der Schweiz lebenden Angehörigen könnten sich auf eine Sondernorm des Bundesrechts (einschliesslich Bundesverfassungsrecht) oder eines Staatsvertrags berufen (BGE 135 II 1 E. 1.1 S. 3 f. mit Hinweisen). Steht, wie hier, eine so genannte Ermessensbewilligung nach Art. 4 ANAG zur Diskussion, so kann der Beschwerdeführer demnach keinen den ordentlichen Beschwerdeweg an das Bundesgericht öffnenden Anspruch geltend machen. Dass er sich auf eine Ermessensüberschreitung oder den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismässigkeit nach Art. 5 Abs. 2 BV beruft, ändert daran nichts bzw. verschafft ihm keinen grundsätzlichen Anspruch im Sinne von Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG auf eine solche Bewilligung.
2.2 Der Beschwerdeführer argumentiert zwar neu, Art. 8 EMRK verleihe ihm einen derartigen Anspruch. Die Vorinstanz habe angenommen, er könne in der Schweiz verbleiben. In diesem Punkt habe sie jedoch den Sachverhalt offensichtlich falsch festgestellt, da das Bundesamt für Migration die Zustimmung zur weiteren Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung verweigert habe und er die Schweiz vermutlich - eine Beschwerde sei derzeit beim Bundesverwaltungsgericht hängig - werde verlassen müssen. Bei Richtigstellung der sachverhaltlichen Grundlage könne er sich nun auf Art. 8 EMRK berufen. Indessen legt der Beschwerdeführer nicht, jedenfalls nicht in Art. 106 Abs. 2 BGG genügender Form, dar, weshalb sich nun aus der erwähnten Konventionsnorm ein Anspruch auf weiteren Verbleib in der Schweiz ergeben soll. Auf dieses Vorbringen kann daher nicht eingetreten werden.
2.3 Im Übrigen wäre eine Anspruchssituation gestützt auf Art. 8 EMRK nicht ersichtlich: Der Beschwerdeführer verfügte selber nur über eine Aufenthaltsbewilligung und nicht über ein gefestigtes Aufenthaltsrecht, weshalb die allfällige Trennung von seinen Familienangehörigen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt (BGE 135 I 143 E. 1.3.1 S. 145 f.), um so weniger, wenn sie vorerst nur während der Dauer des Gesuchsverfahrens Platz greift. Soweit der Beschwerdeführer aus der Beziehung zu seinen hier lebenden beiden minderjährigen Kindern aus erster Ehe, die das Schweizer Bürgerrecht besitzen und damit über ein gefestigtes Aufenthaltsrecht verfügen, ein Aufenthaltsrecht ableiten wollte (vgl. BGE 135 I 143 E. 1.3.2 S. 146), so kann ein solches abgeleitetes Recht auf Verbleib nur in Frage stehen, wenn die familiäre Beziehung nach wie vor intakt ist und gelebt wird; im Allgemeinen verschafft selbst ein Besuchsrecht gegenüber einem in der Schweiz fest aufenthaltsberechtigten Kind noch keinen Anspruch auf eine dauernde Anwesenheit (Urteil 2C_335/2009 vom 12. Februar 2010 E. 1.1 und 2.2.2, auch zu den weiteren Voraussetzungen). Es ist jedoch aktenkundig, dass im Scheidungsurteil vom 24. Juni 2005 mangels eines etablierten Kontakts zwischen dem Beschwerdeführer und seinen getrennt lebenden Kindern nur eine allgemeine Besuchsberechtigung und -verpflichtung des Beschwerdeführers festgehalten werden konnte, die vom Beistand der Kinder von Amtes wegen in einem minimalen Umfang umgesetzt werden musste; überdies verpflichtete das Scheidungsurteil den Beschwerdeführer auch nicht zu Unterhaltsbeiträgen; ein abgeleitetes Anwesenheitsrecht gestützt auf Art. 8 EMRK wegen besonders engen Beziehungen zu den hier lebenden Kindern aus erster Ehe fiele daher wohl von vornherein ausser Betracht (Urteil 2C_335/2009 vom 12. Februar 2010 E. 2.2.2 mit zahlreichen Hinweisen, auch auf BGE 120 Ib 1 E. 3c S. 5). Auch die - wie erwähnt ungenügend substantiierte - Berufung auf Art. 8 EMRK kann daher die Zuständigkeit des Bundesgerichts nicht begründen.
2.4 Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit nicht einzutreten.
3.
3.1 Scheidet die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten aus, stellt sich die Frage, ob die Eingabe als subsidiäre Verfassungsbeschwerde entgegengenommen werden kann. Zur Verfassungsbeschwerde ist allerdings nur berechtigt, wer ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (Art. 115 lit. b BGG). Da der Beschwerdeführer - wie in E. 2 hiervor ausgeführt wurde - keinen Rechtsanspruch auf einen Aufenthalt in der Schweiz dargetan hat, fehlt ihm die Legitimation zu (materiellen) Rügen betreffend die Bewilligungsverweigerung (BGE 133 I 185). Die Anrufung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes hilft ihm auch in diesem Zusammenhang nicht. Dieser Grundsatz gehört bloss zu den verfassungsmässigen Prinzipien und stellt kein verfassungsmässiges Recht im Sinne von Art. 116 BGG dar (Urteil 2C_85/2010 vom 16. August 2010 E. 3.5 mit Hinweis auf BGE 134 I 153 E. 4.1 und 4.2.2 S. 156 ff.). Ebenso wenig kann der Beschwerdeführer mit der Rüge der Verletzung von Art. 8 EMRK gehört werden. Hat sich, im Rahmen der Eintretensfrage zum ordentlichen Rechtsmittel, ergeben, dass die angerufenen Grundrechte bzw. Rechte mit Verfassungsrang ihm keine Rechtsansprüche verschaffen, stellt sich die Frage ihrer Verletzung nicht und fehlt es diesbezüglich an der Beschwerdelegitimation gemäss Art. 115 lit. b BGG (Urteil 2D_26/2010 vom 13. Mai 2010 E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 133 I 185 E. 6.2 S. 199).
3.2 Trotz fehlender Legitimation in der Sache selber kann die Verletzung von Parteirechten geltend gemacht werden, deren Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft. Auch insoweit sind allerdings Rügen nicht zu hören, die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des Bewilligungsentscheids abzielen, wie die Behauptung, dass die Begründung des angefochtenen Entscheids unvollständig oder zu wenig differenziert ausgefallen sei oder sich nicht mit sämtlichen von der Partei vorgetragenen Argumenten auseinandersetze oder dass die Parteivorbringen willkürlich gewürdigt worden seien. Ebenso wenig ist der Vorwurf zu hören, der Sachverhalt sei unvollständig, aktenwidrig oder sonstwie willkürlich ermittelt bzw. festgestellt worden (sog. Star-Praxis; vgl. BGE 133 I 185; Urteil des Bundesgerichts 2D_13/2007 vom 14. März 2007 E. 2.2 und 2.3.1).
Im vorliegenden Zusammenhang schienen die Rügen, durch das Nichteintreten auf das Gesuch um Gewährung des Familiennachzuges sei dem Beschwerdeführer das Recht im Sinne von Art. 29 Abs. 1 BV verweigert worden und die fehlende Beurteilung dieses behaupteten Verfahrensmangels durch eine gerichtliche Behörde liefe auf eine Verletzung der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV hinaus, an sich nicht von vornherein ausgeschlossen. Grundlage dafür müsste die Behauptung bilden, das Ausländerrecht sei vom Grundsatz geprägt, es gebe einen Anspruch auf Behandlung von Gesuchen um Aufenthaltsbewilligung, der in einem gewissen Spannungsfeld dazu stehe, dass das Ergebnis des Gesuchsverfahrens jedenfalls bei illegaler Einreise grundsätzlich im Ausland abzuwarten sei (vgl. Art. 1 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAV; AS 1949 I 228]; vgl. neurechtlich auch Art. 17 AuG). Wieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen die Behandlung eines Bewilligungsgesuchs von einer Ausreise aus der Schweiz abhängig gemacht werden darf, könnte unter besonders gelagerten Umständen allenfalls für die Frage massgeblich sein, ob eine solche Anforderung eine formelle Rechtsverweigerung nach Art. 29 Abs. 1 BV darstellt. Die Beschwerdeschrift äussert sich allerdings dazu mit keinem Wort. Damit fehlt es an der hiefür erforderlichen qualifizierten Rüge (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG und E. 1.7).
3.3 Das Rechtsmittel kann daher auch nicht als subsidiäre Verfassungsbeschwerde behandelt werden.
4.
Die Beschwerde erweist sich als unzulässig, weshalb darauf nicht eingetreten werden kann.
Bei diesem Ergebnis wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er ersucht zwar um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Dem Gesuch kann jedoch wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde nicht entsprochen werden (Art. 64 BGG). Seinen beengten finanziellen Verhältnissen ist immerhin bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (vgl. Art. 65 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Amt für Migration, dem Justiz- und Sicherheitsdepartement sowie dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, dem Bundesamt für Migration und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III (zur Kenntnisnahme; ad C-328/2010), schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 29. September 2010
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Zünd Uebersax