BGer 1B_314/2010
 
BGer 1B_314/2010 vom 22.11.2010
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
1B_314/2010
Urteil vom 22. November 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Christen.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bivetti,
gegen
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons
St. Gallen, Moosbruggstrasse 11, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
Unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 27. August 2010 des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen, Präsident.
Sachverhalt:
A.
X.________ stammt aus Guinea. Auf sein Asylgesuch trat das Bundesamt für Migration am 26. Mai 2010 nicht ein.
Am 27. Mai 2010 kam es in einem Transitzentrum für Asylsuchende zu einem Zwischenfall mit zwei Personen des Sicherheitsdienstes, Angestellte der Securitas AG. Nach den Angaben von X.________ habe ihm ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes mehrmals Tränengas in die Augen gesprüht und sein Mobiltelefon beschädigt. Beide hätten ihn in den Oberkörper, Bauch und die Hoden geschlagen.
B.
Am 9. Juni 2010 stellte X.________ bei der Kantonspolizei St. Gallen Strafantrag gegen die beiden Personen des Sicherheitsdienstes.
Am 25. Juni 2010 liess er durch seinen Vertreter bei der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erneut Strafantrag stellen sowie Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche anmelden. Er ersuchte um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.
Das Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen wies das ihm überwiesene Gesuch am 19. Juli 2010 ab.
Dagegen führte X.________ Beschwerde beim Präsidium des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen. Dieses wies die Beschwerde mit Entscheid vom 27. August 2010 ab. Es verweigerte ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und verzichtete auf die Erhebung von Kosten.
C.
X.________ erhebt Beschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des Entscheids des Verwaltungsgerichts. Ihm sei im Strafverfahren die unentgeltliche Verbeiständung zu gewähren; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
Das Departement beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht hat sich vernehmen lassen und beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde. In der Replik hält X.________ an der Beschwerde fest.
Erwägungen:
1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG ist hier die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Die unrichtige Bezeichnung des Rechtsmittels durch den Beschwerdeführer (als Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) schadet nicht (BGE 134 III 379 E. 1.2 S. 382).
1.2 Die Vorinstanz hat als oberes kantonal letztinstanzliches Gericht entschieden. Gegen ihren Entscheid ist die Beschwerde zulässig (Art. 80 Abs. 1 BGG).
1.3 Angefochten ist ein kantonaler strafrechtlicher Zwischenentscheid betreffend die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung des Geschädigten. Die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV) sowie die willkürliche Anwendung von kantonalem Recht. Die anwaltliche Unterstützung sei bei Einreichung der Strafklage notwendig gewesen. Da die Tatverdächtigen Beamte seien, mache die Vorinstanz die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung davon abhängig, ob die Anklagekammer eine Ermächtigung zur Eröffnung der Strafuntersuchung erteile. Die Anklagekammer habe aber der Staatsanwaltschaft am 29. Juli 2010 mitgeteilt, dass kein Ermächtigungsverfahren durchgeführt werde. Gegenstand des Gesuches sei nicht das Ermächtigungsverfahren, sondern das Strafverfahren an sich. Der Strafkläger sei vor der Eröffnung des Strafverfahrens, mit der Erhebung der Strafklage auf anwaltlichen Beistand angewiesen. Der Beschwerdeführer benötige Unterstützung bei der Geltendmachung von Zivilforderungen, bei Einvernahmen und Beweisanträgen. Das Verfahren sei juristisch nicht schwierig. Der Beschwerdeführer sei ein Asylbewerber, dem das schweizerische System und die Amtssprache fremd seien. Aufgrund seiner Erfahrungen im Heimatland begegne er den Behörden mit Misstrauen. Ihm drohe die Ausschaffung nach Spanien.
2.2 Unabhängig vom kantonalen Prozessrecht besteht ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung unmittelbar aufgrund von Art. 29 Abs. 3 BV (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 226).
Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Ein verfassungsmässiger Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege besteht für jedes staatliche Verfahren, in welches der Gesuchsteller einbezogen wird oder welches zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist. Nicht entscheidend ist dabei die Rechtsnatur der Entscheidungsgrundlagen oder jene des in Frage stehenden Verfahrens (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227; 121 I 60 E. 2a/bb S. 62; 119 Ia 264 E. 3a S. 265). Neben der sachlichen Notwendigkeit und der Nichtaussichtslosigkeit des vom Geschädigten verfolgten Prozessziels verlangt eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung die finanzielle Bedürftigkeit des Gesuchstellers (BGE 127 I 202 E. 3b S. 205 mit Hinweisen). Sachliche Notwendigkeit bedeutet, dass der Rechtsuchende, auf sich alleine gestellt, seine prozessualen Interessen nicht ausreichend wirksam wahren kann. Sie beurteilt sich aufgrund der Gesamtheit der konkreten Umstände des Einzelfalles. Dazu zählen bei Zivilklägern im Strafverfahren namentlich die Schwere der Betroffenheit durch das Delikt, die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles sowie die Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; Urteil 1B_119/2009 vom 27. August 2009 E. 5).
Im Allgemeinen kann dem Geschädigten zugemutet werden, seine Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung im Strafverfahren ohne anwaltliche Vertretung geltend zu machen. Der unmittelbar eingetretene Schaden kann im Normalfall leicht belegt werden, sei es durch eine Schätzung oder aber durch Vorlage von Rechnungen für die Wiedergutmachung. Auch im Hinblick auf eine Genugtuung kann die erlittene Unbill vom Betroffenen üblicherweise ohne weitere Hilfe zum Ausdruck gebracht werden (Urteil 1B_186/2007 vom 31. Oktober 2007 E. 4).
2.3 Aufgrund der konkreten Umstände kann dies im vorliegenden Fall nicht ohne Weiteres angenommen werden. Mit dem Einreichen der Strafklage bzw. Strafanzeige befindet sich der Beschwerdeführer in einem staatlichen Verfahren (vgl. Urteil 1B_73/2010 vom 10. Mai 2010 E. 2). In diesem wird gestützt auf seine Eingabe zu entscheiden sein, ob die Voraussetzungen zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegeben sind. Die Tatverdächtigen sind Angestellte der Securitas AG, tätig im Auftrag des Bundesamts für Migration. Eine Ermächtigung im Sinne von Art. 19 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz; SR 170.32) hat die Staatsanwaltschaft bisher nicht eingeholt. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz macht die fehlende Ermächtigung die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nicht entbehrlich. Der Anspruch darauf gilt unabhängig davon, in welchem Stadium sich das staatliche Verfahren befindet, zumal das Prozesshindernis behebbar ist und die der nachträglichen Beibringung der Ermächtigung vorausgegangenen prozessualen Handlungen nicht nichtig sind (vgl. BGE 110 IV 46 E. 3). Der Beschwerdeführer hat ein erhebliches Interesse an der Eröffnung des Strafverfahrens, um die von ihm geltend gemachten Ansprüche durchzusetzen. Gilt in einem Verfahren die Untersuchungsmaxime, so lässt dies die anwaltliche Vertretung nicht ohne Weiteres als unnötig erscheinen. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken. Ist - wie hier - noch eine Ermächtigung des Bundes erforderlich, kommt einer möglichst substanziierten Strafklage grosse Bedeutung zu, da sie als Anstoss zur Erteilung der Ermächtigung einen hinreichenden Tatverdacht enthalten soll. Der Beschwerdeführer ist ein abgewiesener Asylbewerber, dem der Vollzug seiner Ausweisung nach Spanien droht. Er wäre alsdann schwer erreichbar und in der selbstständigen Wahrung seiner Interessen eingeschränkt. Er verfügt lediglich über mangelhafte Französischkenntnisse. Seine schulische Ausbildung ist bescheiden. Mit dem schweizerischen Rechtssystem ist er nicht vertraut. Seine Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen wird er zu substanziieren und beziffern haben, da insofern die Untersuchungsmaxime nicht gilt (Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2005, N. 620). In Würdigung der gesamten Umstände des konkreten Falles kann nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer könnte, auf sich allein gestellt, seine Interessen sachgerecht und wirksam wahrnehmen. Eine Rechtsvertretung des Beschwerdeführers erweist sich daher unter dem Gesichtswinkel von Art. 29 Abs. 3 BV als erforderlich.
Die vom Beschwerdeführer eingereichte Strafklage bzw. der eingereichte Strafantrag erscheint nicht von vornherein aussichtslos. Aufgrund des Vorfalles vom 27. Mai 2010 rückte die Polizei aus. Ein Arztzeugnis bestätigt die körperlichen Verletzungen des Beschwerdeführers. Zwar ist noch eine Ermächtigung zur Eröffnung der Strafuntersuchung einzuholen, doch kann deshalb die Gewinnaussicht nicht als beträchtlich geringer als die Verlustgefahr bezeichnet werden. Auch eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügte, würde sich im vorliegenden Fall bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen.
Der Beschwerdeführer ist abgewiesener Asylbewerber und verfügt über kein Einkommen. Seine Bedürftigkeit ist zu bejahen.
2.4 Nach dem Gesagten ist dem Beschwerdeführer ab Einreichung der Strafklage die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren. Dies gilt auch für das Verfahren vor der Vorinstanz.
3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Gerichtskosten sind bei diesem Ausgang des Verfahrens nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Vertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht zu entrichten (Art. 68 BGG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im Verfahren vor Bundesgericht ist deshalb gegenstandslos. Die Sache ist zur Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens und zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 68 Abs. 5 und Art. 107 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. August 2010 aufgehoben und die Sache zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen und Bestellung eines Rechtsvertreters für den Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton St. Gallen hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Marco Bivetti, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Sicherheits- und Justizdepartement und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Präsident, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. November 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Féraud Christen