Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
8C_808/2009
Urteil vom 4. Januar 2011
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille,
Gerichtsschreiber Holzer.
Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Lind,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. August 2009.
Sachverhalt:
A.
Die 1974 geborene B.________ war zuletzt als Reinigungsangestellte erwerbstätig. Am 12. Februar 2003 meldete sie sich unter Hinweis auf Rückenbeschwerden bei der IV-Stelle Aargau zum Leistungsbezug an. Nach medizinischen Abklärungen lehnte diese mit Verfügung vom 19. Juni 2006 und Einspracheentscheid vom 16. Dezember 2008 die Ausrichtung einer Rente ab, da die Versicherte in ihrer angestammten Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig sei.
B.
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. August 2009 ab, soweit es auf sie eintrat.
C.
Mit Beschwerde beantragt B.________ sinngemäss, ihr sei unter Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides ab Februar 2002 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichti-gung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die Beweiswürdigung durch das kantonale Gericht verletzt namentlich dann Bundesrecht, wenn es den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteil 8C_727/2009 vom 19. November 2009 E. 1.2).
2.
2.1 Der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person zu mindestens 40 % invalid ist (Art. 28 IVG). Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.
2.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007, E. 3.2).
2.3 Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, als sie einen Rentenanspruch der Versicherten verneinte.
3.
3.1 Das kantonale Gericht hat in Würdigung der medizinischen Akten, insbesondere unter Bezugnahme auf das Gutachten der MEDAS vom 14. Mai 2008 für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin sowohl in ihrer angestammten Tätigkeit als Reinigungskraft als auch in sämtlichen anderen mittelschweren Tätigkeiten voll arbeitsfähig ist.
3.2 Die Versicherte ist der Ansicht, die vorinstanzliche Beweiswürdigung verletze Bundesrecht, da das kantonale Gericht diverse Arztberichte, welche gleichzeitig oder nach der MEDAS-Begutachtung entstanden sind, unzureichend berücksichtigt habe. Wie Dr. med. A.________, Regionaler Ärztlicher Dienst der IV-Stelle Aargau, in seiner Stellungnahme vom 24. Oktober 2007 überzeugend erwogen hat, liegt erst seit Dezember 2006 eine komplexe medizinische Situation vor. Für die Zeit vor Dezember 2006 kann ohne weiteres auf die Gutachten der Dres. med. C.________, FMH für Physikalische Medizin und Rehabilitation, spez. Rheumatologie, vom 1. September 2005 und D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 7. Juni 2006 abgestellt werden. Diese bescheinigen der Beschwerdeführerin keine Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit. Somit ist die vorinstanzliche Feststellung des medizinischen Sachverhaltes jedenfalls für die Zeit vor Dezember 2006 nicht offensichtlich unrichtig.
4.
Umstritten ist in erster Linie der psychische Gesundheitszustand und damit die Höhe der aus psychischen Gründen zu attestierenden Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdeführerin in der Zeit zwischen Dezember 2006 und Dezember 2008.
4.1 Bezüglich des psychischen Gesundheitszustandes liegt ein Gutachten der MEDAS vor. Das Bundesgericht hat hinsichtlich solcher von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden, Gutachten externer Spezialärzte wiederholt festgehalten, das Gericht dürfe diesen Gutachten vollen Beweiswert zuerkennen, solange "nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit" der Expertise sprechen (BGE 8C_216/2009 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353). Dies bedeutet indessen entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen nicht, dass nicht den Anforderungen an Gutachten entsprechende Berichte behandelnder Ärztinnen und Ärzte im Vorneherein unbeachtlich wären. Vielmehr hat das Gericht alle entscheiderheblichen Beweise tatsächlich zu würdigen (BGE 8C_216/2009 E. 4.3). Die Berichte der behandelnden medizinischen Fachpersonen sind demnach daraufhin zu untersuchen, ob sie konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens enthalten. Austrittsberichte aus Kliniken und Institutionen, in die die versicherte Person stationär aufgenommen wurde, sind besonders sorgfältig zu würdigen. Somit hat die Vorinstanz gegen Bundesrecht verstossen, als sie sich der Berichte der behandelnden Ärzte lediglich mit dem Hinweis auf ihre Stellung und auf den Umstand, dass die Berichte nicht die Anforderungen an Gutachten erfüllten, entledigte. Daraus folgt, dass das Bundesgericht an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht gebunden ist (Art. 105 Abs. 2 BGG).
4.2 Den Akten ist hinsichtlich des psychischen Gesundheitszustandes und der allenfalls daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit Folgendes zu entnehmen:
4.2.1 Dr. med. E.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, diagnostizierte in seinem psychiatrischen Zusatzgutachten zu Handen der MEDAS vom 11. April 2008 eine leichte depressive Episode (ICD-10: F32.0). Aufgrund dieses Leidens sei die Versicherte weiterhin in der Lage, ihrer angestammten Tätigkeit vollzeitlich nachzugehen, allerdings resultiere eine Leistungsverminderung von 20 %. Eine somatoforme Schmerzstörung oder eine instabile Persönlichkeit wurde vom Gutachter explizit verneint.
4.2.2 Die Beschwerdeführerin weilte vom 1. April bis zum 1. Mai 2008 stationär in der Klinik F.________. Im Austrittbericht vom 9. Mai 2008 wurden in psychiatrischer Hinsicht eine komplexe Angststörung mit generalisierten Ängsten und Panikattacken (ICD-10: F41.3), eine depressive Episode (ICD-10: F32.11) mit/bei Persönlichkeit mit emotional instabilen Zügen und selbstverletzendem Verhalten (ICD-10: F60.3) und einem Verdacht auf dissoziative Zustände diagnostiziert. Für die Zeit ihres Klinikaufenthaltes wurde der Versicherten eine 100 %-ige Arbeitsunfähigkeit attestiert, zur längerdauernden Erwerbsfähigkeit wurde keine Stellung genommen.
4.2.3 Der Dienst X.________ berichtete am 19. September 2007 von einer besserungsfähigen mittelgradig depressiven Episode und einer unspezifischen Angstsymptomatik. Am 29. April 2009 bestätigte dieser Dienst das Fortbestehen der depressiven Symptomatik, wobei bei Austritt aus der stationären Behandlung im Dezember 2008 eine Arbeitsfähigkeit von 0 % festgestellt worden sei.
4.2.4 Dr. med. G.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, behandelte die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben seit anfangs Juni 2008. In seinem Bericht vom 18. Mai 2009 wies er auf den stark schwankenden Zustand der Versicherten hin. Er diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 F33.11), wobei als Differenzialdiagnose eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) in Frage komme. Weiter diagnostizierte er eine Persönlichkeit mit emotional instabilen Zügen und Neigung zu selbstverletzendem Verhalten (ICD-10: F60.30). Theoretisch könne bei der mittelschweren depressiven Episode eine Arbeitsfähigkeit von 50 % angenommen werden. Aufgrund des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin seit acht Jahren keiner ausserhäuslichen Tätigkeit mehr nachgegangen sei und die Belastbarkeit durch die Persönlichkeitsstörung zusätzlich reduziert sei, könne der Versicherten eine Tätigkeit auf dem primären Arbeitsmarkt nicht mehr zugemutet werden.
4.3 Gemäss der ICD-10-Klassifikation unterscheidet sich eine leichte von einer mittelgradigen depressiven Episode unter anderem dadurch, dass die betroffene Person bei einer leichten Episode zwar beeinträchtigt, aber oft in der Lage ist, die meisten ihrer Aktivitäten zu bewältigen. Demgegenüber hat eine von einer mittelgradigen depressiven Episode betroffene Person meist grosse Schwierigkeiten, ihre alltäglichen Aktivitäten fortzusetzen (vgl. DILLING/FREYBERGER [Hrsg.], Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 4. Aufl. Bern 2008, S. 135 f.). Somit erscheint es als folgerichtig, wenn diejenigen medizinischen Fachpersonen, welche lediglich eine leichte depressive Episode diagnostizierten, die Arbeitsfähigkeit in einem grösseren Umfang als gegeben erachten, als jene, welche eine mittelgradige depressive Episode bejahten. Allerdings kann auch eine leichte depressive Episode im Einzelfall die Arbeitsfähigkeit erheblich beeinträchtigen, wenn sie zusammen mit anderen Befunden - wie etwa einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung - auftritt (Urteil I 653/04 vom 19. April 2006, E. 3). Sowohl die Ärzte der Klinik F.________ als auch - in Anlehnung an diese - Dr. med. G.________ diagnostizieren bei der Beschwerdeführerin eine Persönlichkeit mit emotional instabilen Zügen und selbstverletzendem Verhalten (ICD-10: F60.3). Diese Diagnose wurde von Dr. med. E.________ nicht gestellt. Zwar diskutierten die Ärzte der Klinik F.________ die Kriterien dieser Diagnose nicht, doch konnte die Versicherte dort über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Da der Austrittsbericht erst nach dem Gutachten erstellt wurde, lag er dem Gutachter noch nicht vor. Somit bestehen konkrete Indizien, dass der Gesundheitszustand in psychischer Hinsicht im Gutachten von Dr. med. E.________ nicht vollständig wiedergegeben sei und dass über die vom Gutachter attestierte Leistungsverminderung von 20 % hinaus eine weitere Arbeitsunfähigkeit bestanden haben könnte. Klarheit kann bei vorliegender Aktenlage nur eine erneute psychiatrische Begutachtung der Versicherten bringen. Der kantonale Gerichtsentscheid ist demgemäss aufzuheben und die Akten sind an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese ein psychiatrisches Gutachten zur Frage der Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin in der Zeit zwischen Januar 2007 und Dezember 2008 einhole und hernach erneut über den Leistungsanspruch entscheide.
4.4
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. August 2009 aufgehoben wird. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Januar 2011
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
Leuzinger Holzer