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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
8C_862/2010
Urteil vom 4. Januar 2011
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
Gerichtsschreiber Jancar.
Verfahrensbeteiligte
Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21, 4051 Basel,
vertreten durch Advokatin Elisabeth Ruff Rudin,
Beschwerdeführerin,
gegen
S.________,
vertreten durch Advokat Dr. Axel Delvoigt,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang; Wiedererwägung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 9. August 2010.
Sachverhalt:
A.
Die 1969 geborene S.________ arbeitete als Pflegehilfe im Zentrum W.________ und war damit bei der Basler Versicherungsgesellschaft (nachfolgend Basler) obligatorisch unfallversichert. Am 24. Juni 1996 hielt sie mit ihrem Auto vor einem Rotlicht an, worauf der nachfolgende Personenwagen in das Heck ihres Autos stiess. In der Folge wurde bei ihr unter anderem eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) diagnostiziert. Die Basler kam für Heilbehandlung und Taggeld auf. Mit Verfügung vom 11. Januar 2005 stellte sie die Taggeldleistungen auf den 31. August 2004 ein; ausgehend von einer Arbeitsfähigkeit von 80 % sprach sie der Versicherten eine Invalidenrente bei einer Erwerbseinbusse von 27 % und eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 20 % zu. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 18. Januar 2006 ab. Mit Verfügung vom 6. August 2009 hob sie diesen Entscheid wiedererwägungsweise auf und stellte die Leistungen per 31. August 2009 ein. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 28. Oktober 2009 ab.
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das kantonale Gericht den Einspracheentscheid auf und verurteilte die Basler dazu, der Versicherten rückwirkend die Versicherungsleistungen - insbesondere die Rente basierend auf einer Erwerbseinbusse von 27 % - ab 1. September 2009 auszurichten (Entscheid vom 9. August 2010).
C.
Mit Beschwerde beantragt die Basler, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei der Einspracheentscheid zu bestätigen.
Die Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
Mit dem streitigen Einspracheentscheid vom 28. Oktober 2009 zog die Basler den unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 - womit sie der Versicherten eine Invalidenrente (Erwerbsunfähigkeit 27 %) und eine Integritätsentschädigung (Integritätseinbusse 20 %) zugesprochen hatte - nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Wiedererwägung. Sie legte dar, eine zumindest teilweise natürliche Kausalität zwischen dem Unfall vom 24. Juni 1996 und den Beschwerden der Versicherten sei überwiegend wahrscheinlich gegeben. Indessen sei deren adäquate Unfallkausalität weder nach der Praxis für psychische Unfallfolgen (BGE 115 V 133) noch nach der Schleudertrauma-Praxis (BGE 117 V 359) erfüllt. Der Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 sei somit zweifellos unrichtig. Das kantonale Gericht hat dessen zweifellose Unrichtigkeit verneint.
3.
Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Zweifellose Unrichtigkeit liegt vor, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist, dass der Verwaltungsakt unrichtig war. Es darf nur ein einziger Schluss - derjenige auf dessen Unrichtigkeit - möglich sein, wobei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung massgebend ist (BGE 126 V 399 E. 2b/bb S. 401, 125 V 383 E. 3 S. 389 f. und E. 6a S. 393; SVR 2006 UV Nr. 17 S. 60 E. 5.2 [U 378/05]; Urteil 8C_436/2007 vom 16. Juni 2008 E. 2). Zweifellose Unrichtigkeit liegt in der Regel vor, wenn eine Leistungszusprache auf Grund falsch oder unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen - hier des Kausalzusammenhangs nach Art. 6 Abs. 2 UVG - liegt, deren Beurteilung in Bezug auf gewisse Schritte und Elemente notwendigerweise Ermessenszüge aufweist (SVR 2010 AHV Nr. 12 S. 42 E. 3.7 [9C_1094/2009], IV Nr. 5 S. 10 E. 2.2 [8C_1012/2008], 2006 UV Nr. 17 S. 60 E. 5.3; Urteil 8C_512/2008 vom 14. Januar 2009 E. 6.1).
Das Bundesgericht hat sich zum Begriff der zweifellosen Unrichtigkeit in Fällen geäussert, welche - wie vorliegend - eine Rentenzusprechung bei Folgen eines Autounfalles mit Schleudertrauma betrafen. Demnach genügt es für das Rückkommen auf eine formell rechtskräftige Verfügung über sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche und insbesondere auf die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs sowie der diesbezüglich massgeblichen Kriterien nicht, dass der Sozialversicherungsträger oder das Gericht einfach sein Ermessen an die Stelle desjenigen der ursprünglich verfügenden oder urteilenden Behörde setzt, sofern die damalige Ermessensausübung vertretbar war. Vielmehr muss die neue Ermessensausübung als die klarerweise einzig richtige erscheinen (Urteile 8C_436/2007 E. 2 und U 5/07 vom 9. Januar 2008 E. 5.3.2.2; vgl. auch Urteil 8C_512/2008 E. 6.1 und 6.2.2).
4.
4.1 Die Basler beruft sich zur Begründung ihrer Beschwerde im Wesentlichen darauf, sie habe in der ursprünglichen Verfügung vom 11. Januar 2005 und im entsprechenden Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 keine bzw. eine fehlerhafte Adäquanzprüfung vorgenommen. Sie habe übersehen, dass es sich um einen banalen Geschehensablauf bzw. um einen leichten Unfall gehandelt habe, bei dem die Adäquanz in der Regel ohne Weiteres bzw. anhand der praxisgemässen Kriterien klarerweise hätte verneint werden müssen. Keines der praxisgemässen sieben Adäquanzkriterien sei erfüllt. Die Annahme der adäquaten Kausalität sei offensichtlich falsch gewesen. Eine Rente hätte damit nicht gesprochen werden dürfen. Ob wiedererwägungsweise eine erstmalige Prüfung der Adäquanz vorgenommen, oder ob sie aufgrund offensichtlich unrichtiger Prüfung wiederholt werde, spiele keine Rolle. Die grundsätzlich zulässige Prüfung der Adäquanz erfolge notwendigerweise unter Prüfung mehrerer rechtlicher Einzelfragen. Diese Notwendigkeit der Prüfung und Bewertung einzelner Teilschritte verhindere aber keinesfalls ein Ergebnis, wonach die ursprüngliche Verfügung zweifellos falsch sei. Es bestehe keine Voraussetzung, wonach die Verfügung auf den ersten Blick erkennbar unrichtig sein müsste. Die Vorinstanz habe sich nicht vertieft damit auseinandergesetzt, ob bei diesem Bagatellereignis die Annahme der Adäquanz zu einem vertretbaren Ergebnis geführt habe oder nicht. Ob die Unfallfolgen gemäss der Diagnose im Gutachten des Instituts X.________ vom 24. August 2004 als adäquat zum Unfall zu beurteilen seien, sei eine Rechtsfrage und damit vom Bundesgericht in voller Kognition zu überprüfen. Gleiches gelte für die Rechtsfrage, ob der ursprüngliche Entscheid mit fehlerhafter Adäquanzprüfung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG zu einem offensichtlich falschen Ergebnis geführt habe.
4.2 Vorab ist festzuhalten, dass Auffahrkollisionen auf ein haltendes Fahrzeug regelmässig als mittelschwere Ereignisse im Grenzbereich zu den leichten Unfällen eingestuft werden (SVR 2010 UV Nr. 3 S. 11 E. 9.1.1 [8C_283/2009]). Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt, dass die Frage der Unfallschwere vorliegend offen bleiben kann, da auch bei einem leichten Unfall die Adäquanz anhand der Kriterien aus dem mittleren Bereich zu prüfen ist, sofern - was hier gegeben erscheint - die unmittelbaren Unfallfolgen die gesundheitliche Fehlentwicklung nicht als offensichtlich unfallunabhängig erscheinen lassen (RKUV 1998 Nr. U 297 S. 243). Unbestritten und nicht zu beanstanden ist zudem die Feststellung der Vorinstanz, die Adäquanzprüfung sei nach der Schleudertraumpraxis vorzunehmen; in diesem Rahmen hat sie zu Recht die im Zeitpunkt des ersten Einspracheentscheides vom 18. Januar 2006 geltende Praxis BGE 117 V 359 und nicht die präzisierte Rechtsprechung BGE 134 V 109 (Urteil vom 19. Februar 2008) angewandt (vgl. E. 3 hievor). Weiter hat die Vorinstanz richtig dargelegt, dass die Voraussetzungen für die streitige Wiedererwägung nicht gegeben waren mangels zweifelloser Unrichtigkeit der damaligen Zusprechung von Rente und Integritätsentschädigung. Die Leistungszusprechung vom 18. Januar 2006 stützte sich auf das interdisziplinäre (neurologische und psychiatrische) Gutachten des Instituts X.________ vom 24. August 2004. Entscheidend ist dabei, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten gestützt auf dieses Gutachten zuverlässig beurteilen liess und dass die Basler mit Zusprechung von Rente und Integritätsentschädigung unter Hinweis auf Art. 18 UVG ihre Leistungspflicht anerkannte und damit implizit auch die Adäquanz der geklagten Beschwerden, welche dafür vorausgesetzt wird, als gegeben erachtete. Es kann nicht gesagt werden, die Adäquanzbeurteilung, bei der es sich um eine rechtliche Wertung handelt, sei zweifellos unrichtig gewesen. Damit ist ein Zurückkommen auf den unangefochten gebliebenen Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 und insbesondere die Adäquanzbeurteilung unter dem Titel der hier streitigen Wiedererwägung nicht zulässig (vgl. auch Urteile 8C_512/2008 E. 6.2.2 und 8C_436/2007 E. 4; zur rechtskräftigen Adäquanz-Verneinung siehe Urteile U 210/00 vom 22. Oktober 2003 E. 3.4.2 und U 66/94 vom 4. November 1994 E. 3b). Die Einwendungen der Basler vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.
Offen bleiben kann nach dem Gesagten die von der Vorinstanz bejahte Frage, ob organisch objektiv ausgewiesene Unfallfolgen vorlagen, bei denen die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers praktisch keine Rolle spielt, da sich hier die adäquate und die natürliche Kausalität weitgehend decken (BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 112).
5.
Die unterliegende Basler trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 133 V 642).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Januar 2011
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Ursprung Jancar