BGer 6B_789/2010
 
BGer 6B_789/2010 vom 31.03.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
6B_789/2010
Urteil vom 31. März 2011
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger,
Gerichtsschreiber Briw.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, vertreten durch Rechtsanwältin Séverine Zimmermann,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Qualifizierte Widerhandlung gegen das BetmG; rechtliches Gehör,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 12. Mai 2010.
Sachverhalt:
A.
X.________ wurde am 14. Dezember 2007, neben fünf weiteren Personen, die in der Zwischenzeit alle rechtskräftig verurteilt worden sind, auf dem Flughafen in Zürich wegen Verdachts auf unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln verhaftet. Mit Anklageschrift vom 25. Juni 2009 wurde er an das Bezirksgericht Bülach zur gerichtlichen Beurteilung überwiesen, wobei ihm die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland unter anderem zur Last legte, im bewussten und arbeitsteiligen Zusammenwirken mit A.________, B.________, C.________, D.________ (Kurierin) und E.________ (Kurier) die Einfuhr von 23,26 Kilogramm reinen Kokains (zweimal je ca. 15 Kilogramm Kokaingemisch) aus der Dominikanischen Republik am 14. Dezember 2007 organisiert zu haben. Die einzelnen Strafverfahren gegen die Beteiligten wurden von der Staatsanwaltschaft getrennt geführt und in der Folge an das Bezirksgericht Bülach überwiesen. Sie stützte ihre Anklage insbesondere auf die Aussagen von A.________, C.________ und B.________ sowie auf die Aussagen von Verhagen. Die Staatsanwaltschaft beantragte wegen qualifizierter Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) eine Freiheitsstrafe von neun Jahren.
B.
Das Bezirksgericht Bülach verurteilte X.________ am 29. Oktober 2009 wegen qualifizierter Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG zu 8 Jahren Freiheitsstrafe.
Auf seine Berufung hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 12. Mai 2010 dieses Urteil.
C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das obergerichtliche Urteil aufzuheben, die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Obergericht und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Vorinstanz stimmt dem Bezirksgericht zu, dass die den Beschwerdeführer belastenden Aussagen von B.________ und C.________ nicht in den Verfahrensakten dokumentiert und deshalb auch nicht in die Beweiswürdigung einzubeziehen sind (angefochtenes Urteil S. 9). In diesem Punkt ist das Urteil denn auch nicht angefochten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Teilnahmerechte an der bezirksgerichtlichen Verhandlung, sein rechtliches Gehör sowie sein Anspruch auf Verteidigung seien verletzt worden. Die Aussagen des Mitangeklagten und Belastungszeugen A.________ seien nichtig und unverwertbar. Darauf hätte nicht abgestellt werden dürfen.
Die Vorinstanz verkenne, dass die Präsidialverfügung des Bezirksgerichts vom 3. Juli 2009 der Verteidigung nie zugestellt worden sei, sondern bloss die Anklageschrift (am 3. Juli 2009) sowie die Vorladung des Bezirksgerichts vom 14. Juli 2009. Weder er noch die Verteidigung hätten gewusst, dass das Verfahren gegen A.________ mitverhandelt werde. Das Bezirksgericht wäre verpflichtet gewesen, ihm und seiner Verteidigung rechtzeitig mitzuteilen, dass über einen Mitangeklagten, und zwar den Hauptbelastungszeugen, gleichentags verhandelt werde. Diese Unterlassung verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und gehörige Verteidigung. Denn weder er noch die Verteidigung hätten sich gehörig auf die Hauptverhandlung und auf Ergänzungsfragen an A.________ vorbereiten können.
Im Weiteren seien Akteneinsichtsgesuche stets unbeantwortet geblieben. Erstmalige und vollständige Akteneinsicht habe er erst durch das Bezirksgericht erhalten, wobei habe festgestellt werden müssen, dass die wichtigen Aussageprotokolle, unter anderem von A.________, gefehlt hätten. Es sei ihm nicht möglich gewesen, das Zustandekommen der Aussagen nachzuvollziehen beziehungsweise zu überprüfen, ob die mündlichen Vorhalte während der polizeilichen Einvernahme den tatsächlichen Aussagen von A.________ entsprochen hätten. Somit seien auch dessen ihn belastenden Aussagen vor dem Bezirksgericht nicht verwertbar.
2.2 Die Vorinstanz hält mit dem Bezirksgericht zu den Aussagen A.________ fest, dass - anders als bei B.________ und C.________ - dessen sämtliche Verfahrensakten, einschliesslich der Einvernahmeprotokolle der Untersuchungsbehörde und der Polizei, im Hinblick auf die Verhandlung vom 29. Oktober 2009 sowohl dem Beschwerdeführer als auch seiner Verteidigung zur Einsicht zugänglich gewesen seien. Ausserdem habe anlässlich der Hauptverhandlung die Gelegenheit bestanden, zu den belastenden Aussagen von A.________ Stellung zu nehmen und ihm Ergänzungsfragen zu stellen. Es sei nicht zu beanstanden, wenn das Bezirksgericht den Schluss ziehe, der Beschwerdeführer und seine Verteidigerin hätten damit hinreichend Gelegenheit gehabt, allfällige Versäumnisse nachzuholen, und ein diesbezüglicher Verfahrensmangel sei geheilt worden. Der Verwertbarkeit sämtlicher Aussagen von A.________ stehe nichts entgegen (angefochtenes Urteil S. 9).
2.3 Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch jeder angeklagten Person, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Entsprechend sind Rügen unter dem Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen. Mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wurde, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen. Dieser Anspruch wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet. Ziel dieser Normen ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens (BGE 129 I 151 E. 3.1 mit Hinweisen). Aussagen von Zeugen und Auskunftspersonen dürfen in der Regel nur nach erfolgter Konfrontation zum Nachteil eines Angeschuldigten verwendet werden. Dem Anspruch, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, kommt grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Er erfährt in der Praxis aber eine gewisse Relativierung. Er gilt uneingeschränkt nur, wenn dem streitigen Zeugnis alleinige oder ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt (BGE 129 I 151 E. 3.1 S. 154). Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, ist erforderlich, dass die Gelegenheit zur Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeführt werden kann. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage stellen zu können. Das kann entweder zum Zeitpunkt erfolgen, zu dem der Belastungszeuge seine Aussage macht, oder auch in einem späteren Verfahrensstadium (BGE 125 I 127 E. 6b S. 132 f. mit Hinweisen; Urteil 1P.102/2006 vom 26. Juni 2006 E. 3.1, in: Pra 2007 Nr. 27 S. 164).
2.4 Den Akten lässt sich zwar nicht entnehmen, dass dem Beschwerdeführer oder seiner Verteidigung mitgeteilt worden wäre, es werde an der bezirksgerichtlichen Verhandlung vom 29. Oktober 2009 gleichzeitig auch gegen den Mitangeklagten A.________ verhandelt. Unbestritten ist aber, dass ihnen sowohl die Anklageschrift (act. 77) als auch die Vorladung auf den 29. Oktober 2009 (act. 79-81) zugegangen sind. Aus der Anklageschrift geht klar hervor, dass den Mitangeklagten B.________, C.________ und A.________ eine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. Plädoyer der Staatsanwaltschaft vom 29. Oktober 2009, act. 86). Zutreffend bezeichnet der Beschwerdeführer den Mitangeklagten A.________ denn auch als Hauptbelastungszeugen. Aus den Plädoyernotizen vom 29. Oktober 2009 geht ferner deutlich hervor, dass er sich ausführlich mit den hier nicht mehr interessierenden Mitangeklagten C.________ und B.________ sowie insbesondere mit A.________ auseinandergesetzt hatte (act. 87, A.________ betreffend insbesondere S. 13-22). Diesen Plädoyernotizen ist auch zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer sehr gute Aktenkenntnisse besass. Die Vorinstanz weist zu Recht darauf hin, dass seit der Einvernahme vom 16. April 2008 auch die Verteidigerin des Beschwerdeführers präsent war (mit Ausnahme von act. 28). Gerade an dieser Einvernahme nahm die Befragung des Beschwerdeführers zum Mitangeklagten breiten Raum ein (act. 21 S. 3 f.). Während der ganzen Untersuchung wurden somit dem Beschwerdeführer laufend konkrete und detaillierte Vorhalte betreffend A.________ und dessen Aussagen gemacht, namentlich auch zu den für die Anklage wesentlichen Vorgängen vom 14. Dezember 2007 beziehungsweise der Vorgeschichte dazu. Der Beschwerdeführer erhielt nach Eingang der Anklageschrift vollständige Akteneinsicht. Es standen ihm sämtliche Verfahrensakten auch des Mitangeklagten A.________ einschliesslich aller Einvernahmeprotokolle im Hinblick auf die Hauptverhandlung vom 29. Oktober 2009 zur Verfügung (Urteil Bezirksgericht S. 10). Trotzdem unterliess er es sowohl vor als auch in der Verhandlung, weitere Beweisanträge zu stellen (vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, S. 6 und 59/60). Er hätte die nochmalige Konfrontation mit den Mitangeklagten C.________, B.________ und insbesondere A.________ verlangen können, ferner etwa eine Parteibefragung der Beschwerdegegnerin oder eine Ergänzung der Akten betreffend die behaupteten fehlenden Protokolle. Er hätte eine Unterbrechung oder Verschiebung der Verhandlung beantragen können. Auch das unterliess er. Insbesondere wurde er nach seiner Berufungserklärung vom 30. Oktober 2009 (act. 90) mit Präsidialverfügung vom 11. März 2010 aufgefordert, allfällige Beweisanträge zu stellen (act. 105). Er verzichtete indessen ausdrücklich auf Beweisanträge (act. 107).
2.5 Schliesslich rügt der Beschwerdeführer mangelhafte Protokollierung und Aktenführung sowie verweigerte Akteneinsicht. Darauf ist nicht einzutreten, weil diese Rügen nicht bereits vor der Vorinstanz vorgebracht wurden.
2.6 Zusammenfassend geht die Vorinstanz zutreffend davon aus, dass der Beschwerdeführer zweimal im Rahmen einer Konfrontation mit A.________ Gelegenheit gehabt hatte Fragen zu stellen, ohne davon Gebrauch zu machen, nämlich anlässlich der Konfrontationseinvernahme vom 13. Februar 2009, an welcher A.________ seine früheren Aussagen in Anwesenheit des Beschwerdeführers bestätigt hatte (act. 53/5 S. 8), und anlässlich der bezirksgerichtlichen Hauptverhandlung vom 29. Oktober 2009, als A.________ die Anklage erneut anerkannt hatte (Protokoll S. 6, namentlich S. 11 und 27).
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit des Rechtsbegehrens abzuweisen (Art. 64 BGG). Seiner finanziellen Lage ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 i.V.m. Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 31. März 2011
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Favre Briw