Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_92/2011
Urteil vom 29. April 2011
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Merkli,
Gerichtsschreiber Störi.
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Otmar Kurath,
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510 Frauenfeld.
Gegenstand
Ausstandsbegehren,
Beschwerde gegen den Zirkularentscheid vom
28. Januar 2011 des Obergerichts des Kantons Thurgau.
Sachverhalt:
A.
Das Bezirksgericht Steckborn verurteilte X.________ am 8. Juli/8. Dezember 2010 wegen schwerer Körperverletzung etc. zu zwei Jahren Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 9. Dezember 2008.
X.________ erhob gegen diese Verurteilung Berufung ans Obergericht des Kantons Thurgau und verlangte den Ausstand der Oberrichter Zweidler, Thürer, Reinhard, Glauser Jung und Ogg sowie der Gerichtsschreiberin Schneider wegen Vorbefassung.
Das Obergericht lehnte das Ausstandsbegehren, soweit es nicht gegenstandslos geworden war, am 28. Januar 2011 ab. Die Verfahrenskosten auferlegte es X.________.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen und Verfassungsbeschwerde beantragt X.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Oberrichter Zweidler, Thürer, Reinhard und Glauser Jung sowie die Gerichtsschreiberin Schneider zu verpflichten, in den Ausstand zu treten. Ausserdem seien die Kosten des Ausstandsverfahren dem Staat aufzuerlegen und sein Anwalt sei für dieses Verfahren als unentgeltlicher und notwendiger Rechtsvertreter einzusetzen und mit Fr. 760.-- aus der Gerichtskasse zu entschädigen. Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht X.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verteidigung.
C.
Das Obergericht beantragt in seiner Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab, er ermöglicht vielmehr dessen Weiterführung. Es handelt sich um einen selbstständig eröffneten, kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren, gegen den die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 92 Abs. 1 BGG zulässig ist; damit bleibt für die Verfassungsbeschwerde kein Raum. Als Angeklagter bzw. erstinstanzlich Verurteilter ist der Beschwerdeführer zur Beschwerde berechtigt ( Art. 81 Abs. 1 lit. a und b BGG ). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.
2.
2.1 Am 30. Januar 2007 verurteilte das Obergericht den Beschwerdeführer unter Mitwirkung der Richter und der Gerichtsschreiberin, deren Ausstand im vorliegenden Verfahren verlangt wird, wegen eventualvorsätzlicher schwerer Körperverletzung, fahrlässiger Tötung etc. zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Gegenstand des Verfahrens waren Vorfälle aus dem Jahre 2003. In dieses Verfahren führte die Staatsanwaltschaft nach der unbestrittenen Darstellung des Beschwerdeführers am 12. Januar 2007 polizeiliche Ermittlungsakten zu einem Vorfall vom 19. August 2006 ins Verfahren ein; dabei soll der Beschwerdeführer in der Bar Rabenkeller in Eschenz A.________ mit einem abgebrochenen Glas angegriffen und verletzt haben. Dieser Sachverhalt ist Gegenstand des Urteils des Bezirksgerichts Steckborn vom 8. Juli/ 8. Dezember 2010 und der hängigen Berufung.
2.2 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe sich im Urteil vom 30. Januar 2007 in einer Weise zum Vorfall vom 19. August 2006 geäussert, aus der klar hervorgehe, dass es seinen Standpunkt, er habe in Notwehr gehandelt, für unglaubhaft halte. Es sei daher zu befürchten, dass die daran beteiligten Richter und die Gerichtsschreiberin voreingenommen und damit nicht mehr in der Lage sein könnten, den Vorfall im Berufungsverfahren unbefangen zu beurteilen. Das Obergericht habe dies im angefochtenen Entscheid verkannt und dabei den Fall zu Unrecht nach dem bisherigen kantonalen Strafprozessrecht, anstatt nach der Eidgenössischen Strafprozessordnung, beurteilt.
3.
Am 1. Januar 2011 trat die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) in Kraft (AS 2010 1881), welche die kantonalen Strafprozessordnungen ablöst. Sie ist grundsätzlich sofort anwendbar (Art. 448 Abs. 1 StPO). Erging jedoch ein Entscheid vor dem 1. Januar 2011, so werden die Rechtsmittel dagegen nach bisherigem Recht beurteilt (Art. 453 Abs. 1 StPO). Das Ausstandsverfahren ist Teil des Berufungsverfahrens gegen die am 8. Juli/8. Dezember 2010 erfolgte erstinstanzliche Verurteilung des Beschwerdeführers. Das Obergericht hat es zu Recht nach bisherigem Recht - der Strafprozessordnung des Kantons Thurgau vom 30. Juni 1970 (StPO/TG) - beurteilt, welches auch für das Bundesgericht massgebend bleibt (Art. 454 Abs. 2 StPO).
4.
4.1 Nach § 32 Ziff. 6 StPO/TG hat ein Richter oder eine Gerichtsschreiberin u.a. in den Ausstand zu treten, wenn Tatsachen vorliegen, die sie als befangen erscheinen lassen. Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, denen in dieser Hinsicht dieselbe Tragweite zukommt, hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie verletzt (BGE 135 I 14 E. 2; 133 I 1 E. 6.2; 131 I 113 E. 4.4; 125 I 219 E. 3a). Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen in das Gericht kann bei den Parteien immer dann entstehen, wenn einzelne Richter oder der Gerichtsschreiber in einem früheren Verfahren mit der konkreten Streitsache schon einmal befasst waren. In einem solchen Fall so genannter Vorbefassung stellt sich die Frage, ob sich diese durch ihre Mitwirkung an früheren Entscheidungen in einzelnen Punkten bereits in einem Mass festgelegt haben, die ihn nicht mehr als unvoreingenommen und dementsprechend das Verfahren als nicht mehr offen erscheinen lassen. Ob dies der Fall ist, kann nicht generell gesagt werden; es ist nach der Rechtsprechung vielmehr in jedem Einzelfall zu untersuchen, ob die konkret zu entscheidende Rechtsfrage trotz Vorbefassung als offen erscheint (BGE 131 I 113 E. 3.4; 126 I 68 E. 3c mit Hinweisen). Dabei ist allerdings nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen, das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt allerdings, dass Umstände vorliegen, die objektiv den Anschein der Befangenheit erwecken; für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 136 I 207 E. 3.1 mit Hinweisen).
4.2 Der Beschwerdeführer beantragte dem Obergericht im Verfahren, das zum Urteil vom 30. Januar 2007 führte, die von der Staatsanwaltschaft ins Verfahren eingeführten polizeilichen Ermittlungsakten zum Vorfall vom 19. August 2006 im Rabenkeller aus dem Recht zu weisen. Die Staatsanwaltschaft habe diesbezüglich (noch) keine Anklage erhoben. Die Unschuldsvermutung verbiete es, aus den Akten dieser unfertigen Untersuchung und den daraus abgeleiteten Unterstellungen der Staatsanwaltschaft irgend etwas zu seinen Ungunsten abzuleiten.
4.3 Das Obergericht wies diese polizeilichen Ermittlungsakten nicht aus dem Recht und nahm in seinem Urteil vom 30. Januar 2007 ausdrücklich darauf Bezug. Es widerlegte die Behauptung des Beschwerdeführers, sich in einer Notwehrsituation befunden zu haben, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass er dies bisher in sämtlichen ihn betreffenden Verfahren behauptet habe. Dies gelte "für den Vorfall vom 14. September 2003, als er B.________ weggestossen haben will, um sein Hausrecht zu verteidigen, ebenso wie für die Auseinandersetzung mit C.________ am 10. August 2003 und diejenige in Eschenz vom 19. August 2006, bei welchen der Angeklagte jeweils (entgegen der Aussagen der übrigen Beteiligten) angab, er sei vom späteren Opfer angegriffen worden" (E. 7c/bb/ccc S. 26).
4.4 Das Obergericht hatte in diesem Strafverfahren den Vorfall vom 19. August 2006 nicht zu beurteilen und sich dementsprechend auch nicht mit der Frage zu befassen, ob die Berufung auf Notwehr glaubhaft sei. Gegenstand des Verfahrens bildeten die beiden oben in E. 4.3 erwähnten Vorfälle aus dem Jahr 2003. Dabei verwarf das Obergericht aufgrund einer eingehenden Beweiswürdigung die Aussage des Beschwerdeführers, er sei von den späteren Opfern angegriffen worden und habe sich in Notwehr gegen seine Angreifer gewandt. Im Sinne einer weiteren Argumentation gegen das Vorliegen der vom Beschwerdeführer geschilderten Notwehrsituationen führte das Obergericht an der oben in E. 4.3 angeführten Stelle weiter aus, der Beschwerdeführer verteidige sich gegen sämtliche Vorwürfe, Menschen angegriffen und (in einem Fall tödlich) verletzt zu haben, stereotyp mit der Behauptung, er sei vom späteren Opfer vorher angegriffen worden. Damit stellte es die Aussagen des Beschwerdeführers hinsichtlich des noch nicht zu beurteilenden Vorfalls vom 19. August 2006 in eine Linie mit dessen als unglaubhaft eingestuften Aussagen in Bezug auf die zur Beurteilung anstehenden beiden Fälle aus dem Jahre 2003. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass das Obergericht bei allen drei Vorfällen undifferenziert von "den späteren Opfern" des Beschwerdeführers sprach. Mit diesen Ausführungen brachte es klar zum Ausdruck, dass es die sich offenbar aus dem polizeilichen Ermittlungsbericht ergebende Darstellung des Beschwerdeführers, er sei beim Vorfall vom 19. August 2006 im Rabenkeller von seinem Kontrahenten angegriffen worden und habe diesen erst als Reaktion darauf seinerseits in Notwehr angegriffen, als reine Schutzbehauptung beurteilte. Diese im Urteil vom 30. Januar 2007 enthaltene, allein auf dem polizeilichen Ermittlungsbericht und damit auf einer völlig unzureichenden Aktenlage beruhende Feststellung vermag objektiv Zweifel daran zu erwecken, dass die daran beteiligten Richter und die Gerichtsschreiberin in der Lage sind, die gegen den Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem Vorfall vom 19. August 2006 im Rabenkeller erhobenen Tatvorwürfe unvoreingenommen neu zu beurteilen. Sie erscheinen damit als befangen; daran ändert weder der Umstand etwas, dass sie im Urteil vom 30. Januar 2007 an anderer Stelle (E. 12e S. 32) darauf hinwiesen, dass der Vorfall vom 19. August 2006 nicht Gegenstand des Verfahrens sei und für den Beschwerdeführer diesbezüglich die Unschuldsvermutung gelte, noch der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer nicht mehr auf Notwehr zu berufen scheint.
5.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Die abgelehnten Richter und die Gerichtsschreiberin haben bei der Beurteilung der Berufung des Beschwerdeführers in den Ausstand zu treten. Mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids fällt die Auferlegung der kantonalen Gerichtskosten an den Beschwerdeführer ohne Weiteres dahin. Aus prozessökonomischen Gründen und entsprechend dem Antrag des Beschwerdeführers ist der Kanton Thurgau zu verurteilen, die im kantonalen Ausstandsverfahren angefallenen Anwaltskosten des Beschwerdeführers von Fr. 760.--, deren Höhe nicht bestritten wurde und die angemessen scheint, zu bezahlen. Damit braucht das Obergericht in dieser Sache keinen neuen Entscheid zu fällen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Kanton Thurgau dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Entschädigung zu leisten ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 28. Januar 2011 aufgehoben. Die Oberrichter Zweidler, Thürer, Reinhard und Glauser Jung sowie die Gerichtsschreiberin Schneider haben im Berufungsverfahren gegen den Beschwerdeführer in den Ausstand zu treten.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Thurgau hat dem Beschwerdeführer für das kantonale und das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 2'260.-- zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Generalstaatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 29. April 2011
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Fonjallaz Störi