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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_153/2011
Urteil vom 5. Mai 2011
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb, Raselli, Merkli,
Gerichtsschreiber Störi.
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Kaspar Hemmeler,
gegen
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
Bahnhofstrasse 4, Postfach, 5600 Lenzburg 2
Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, Untere Grabenstrasse 30, 4800 Zofingen.
Gegenstand
Anordnung von Untersuchungshaft,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 21. März 2011 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.
Sachverhalt:
A.
X.________ wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, beim Grenzübertritt in Diepoldsau/SG vorläufig festgenommen wegen des Verdachts, einer international tätigen, auf Luxusautomobile spezialisierten Diebesbande anzugehören. Am 2. März 2011 wurde er der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau zugeführt, welche ihn tags darauf befragte und ihm anschliessend die Festnahme eröffnete. Am 4. März 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Aarau-Lenzburg dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, gegen X.________ vorläufig bis zum 3. Juni 2011 Untersuchungshaft anzuordnen.
Am 5. März 2011 führte das Zwangsmassnahmengericht eine Verhandlung durch und versetzte X.________ bis zum 3. Juni 2011 in Untersuchungshaft.
Am 7. März 2011 erhob X.________ beim Obergericht des Kantons Aargau Beschwerde mit dem Antrag, ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Am 21. März 2001 erkannte die Beschwerdekammer des Obergerichts:
"1. Es wird festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau das prozessuale Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt hat.
2. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Haftrichterin zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
3. und 4. (Kosten- und Entschädigungsfolgen)"
B.
Am 25. März 2011 versetzte das Zwangsmassnahmengericht X.________ einstweilen bis zum 1. Juni 2011 in Untersuchungshaft.
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 1. April 2011 beantragt X.________, Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids des Obergerichts vom 21. März 2011 aufzuheben und wie folgt neu zu fassen:
"Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau vom 5. März 2011 aufgehoben. Der Beschwerdeführer wird unverzüglich aus der Haft entlassen."
Eventualiter sei Dispositiv-Ziffer 2 dieses Urteils aufzuheben und die Sache dem Obergericht zu neuer Beurteilung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
D.
Die Verfahrensleiterin der Beschwerdekammer des Obergerichts reicht ihre Sistierungsverfügung vom 6. April 2011 ins Recht. Aus dieser ergibt sich, dass bei der Beschwerdekammer eine Beschwerde von X.________ gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 25. März 2011 hängig ist, das Verfahren indessen bis zum Entscheid des Bundesgerichts in vorliegender Angelegenheit sistiert bleibt.
E.
Das Zwangsmassnahmengericht und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Als kantonal letztinstanzlicher Rechtsmittelentscheid über die Anordnung von Untersuchungshaft unterliegt der angefochtene Obergerichtsentscheid der Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer rügt, die von ihm beanstandeten Fristverletzungen hätten zu seiner sofortigen Haftentlassung ohne weitere Prüfung der Haftvoraussetzungen führen müssen. Damit hat er ein aktuelles Rechtsschutzinteresse (Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG) an der Anfechtung des Rückweisungsentscheids, da bei einer Gutheissung dieser Rüge der am 25. März 2011 ergangene Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, mit welchem es die Haftvoraussetzungen prüfte und bejahte, ohne Weiteres hinfällig würde. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann.
2.
Der Beschwerdeführer wurde am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, festgenommen. Der Haftanordnungsantrag der Staatsanwaltschaft ging nach den unbestrittenen Feststellungen der kantonalen Instanzen am 4. März 2011, um 07.36 Uhr, beim Zwangsmassnahmengericht ein. Dieses führte die Haftverhandlung am 5. März 2011, ab 08.30 Uhr, durch und eröffnete dem Beschwerdeführer den Haftentscheid um 9.15 Uhr mündlich.
2.1 Nach Art. 224 Abs. 1 der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen (AS 2010 1881) Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) befragt die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person unverzüglich und gibt ihr Gelegenheit, sich zum Tatverdacht und zu den Haftgründen zu äussern. Sie erhebt unverzüglich jene Beweise, die zur Erhärtung oder zur Entkräftung des Tatverdachts und der Haftgründe geeignet und ohne Weiteres verfügbar sind. Bestätigen sich der Tatverdacht und die Haftgründe, so beantragt die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber innert 48 Stunden seit der Festnahme, die Anordnung von Untersuchungshaft oder einer Ersatzmassnahme. Sie reicht ihren Antrag schriftlich ein, begründet ihn kurz und legt die wesentlichen Akten bei (Abs. 2). Nach Art. 226 Abs. 1 StPO hat daraufhin das Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens aber innert 48 Stunden nach Eingang des Antrags zu entscheiden.
2.2 Die Staatsanwaltschaft beantragte die Anordnung von Untersuchungshaft rund 60 Stunden nach der Festnahme des Beschwerdeführers, mithin 12 Stunden zu spät. Das ist unstrittig und wurde vom Obergericht mit einer entsprechenden Feststellung in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids sanktioniert.
Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 224 Abs. 2 StPO statuiere eine Gültigkeits-, keine blosse Ordnungsvorschrift. Sie könne zwar im Ausnahmefall zugunsten des Festgenommenen - z.B. für die Abnahme eines Entlastungsbeweises - in engem Rahmen überschritten werden. Abgesehen davon sei sie zwingend einzuhalten, bei Verletzung der Frist müsse der Festgenommene unverzüglich auf freien Fuss gesetzt werden, da die Bestimmung sonst toter Buchstabe bleibe.
3.
3.1 Der Anspruch des Festgenommenen auf einen unverzüglichen richterlichen Entscheid über die Anordnung von Untersuchungshaft bzw. die entsprechende Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, einen Haftantrag mit besonderer Beschleunigung dem zuständigen Haftrichter vorzulegen, ergeben sich unabhängig vom anwendbaren Prozessrecht aus den entsprechenden verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien von Art. 31 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK; eine übermässige Haftdauer oder ungerechtfertigte, von den Strafverfolgungsbehörden zu vertretende Verzögerungen im Haftanordnungsverfahren stellen unverhältnismässige Beschränkungen dieser Grundrechte dar (BGE 133 I 270 E. 1.2.2.; 128 I 149 E. 2.2.1; je mit Hinweisen). Die Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot geht zwar davon aus, dass die Frist zwischen Festnahme und haftrichterlicher Anhörung 48 Stunden grundsätzlich nicht überschreiten sollte (BGE 136 I 274 E. 2.2; 131 I 36 E. 2.6 S. 44). Diese Zeitspanne ist allerdings nicht als starre Frist zu verstehen; vielmehr ist stets im Einzelfall zu prüfen, ob die Zeitspanne zwischen Festnahme und haftrichterlicher Verhandlung unter Berücksichtigung aller massgeblicher Umstände noch als "unverzüglich" im Sinn der verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien gelten kann oder nicht. Die Verletzung des Beschleunigungsgebotes kann im Weiteren nur zur Haftentlassung führen, wenn die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und die Strafverfolgungsbehörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (BGE 128 I 149 E. 2.2.1; 133 I 168 nicht publ. E. 4.3).
3.2 Der Gesetzgeber hat für den Zeitablauf zwischen Festnahme und Haftentscheid nunmehr konkrete Fristen aufgestellt. Danach hat die Staatsanwaltschaft maximal 48 Stunden Zeit bis zur Einreichung des Haftantrags, und dem Zwangsmassnahmengericht stehen anschliessend maximal 48 Stunden zu, seinen Entscheid zu fällen (Art. 224 Abs. 2, Art. 226 Abs. 1 StPO). Das Gesetz regelt die Säumnisfolgen nicht, und die Botschaft (BBl 2006 1085 ff., insbesondere 1230 ff.) schweigt sich dazu aus.
3.2.1 Diese gesetzlichen Fristen sollen offensichtlich die oben in E. 3.1 dargestellten verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben konkretisieren. Bereits daraus ergibt sich ohne Weiteres, dass es sich dabei nicht um reine Ordnungsfristen handelt, aus deren Überschreitung der Betroffene in der Regel nichts zu seinen Gunsten ableiten kann. Für den Festgenommenen entscheidend ist allerdings nur die Zeitspanne zwischen Festnahme und Haftentscheid. Von untergeordneter Bedeutung ist für ihn hingegen, wie sich die einzelnen Verfahrensschritte vor dem Haftentscheid zeitlich verteilen. Insofern richtet sich die Frist von Art. 224 Abs. 2 StPO in erster Linie an die Staatsanwaltschaft, die durch deren Einhaltung gezwungen werden soll, dem Haftrichter ausreichend Zeit für die Prüfung des Haftantrags einzuräumen. Es handelt sich damit um eine vor allem die inneren Abläufe der Strafverfolgungsbehörden betreffende Frist, deren Einhaltung grundsätzlich auch im Interesse der festgenommenen Person liegt. Daraus ergibt sich, dass die Aufrechterhaltung der Haft nicht schon dann gesetzwidrig wird, wenn die Staatsanwaltschaft den Haftantrag nicht innert 48 Stunden nach der Festnahme dem Haftrichter einreicht, sondern erst, wenn der Haftrichter den Haftentscheid dem Festgenommenen nicht innert 96 Stunden nach der Festnahme eröffnet hat.
Allerdings ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass das verfassungs- und konventionsrechtliche ebenso wie das strafprozessuale Beschleunigungsgebot eine besonders beförderliche Behandlung des Haftverfahrens verlangen, was bedeutet, dass diese gesetzlichen Maximalfristen im Normalfall weit unterschritten werden müssen und höchstens in begründeten Einzelfällen ausgeschöpft werden dürfen.
3.2.2 Vorliegend wurde der Beschwerdeführer am 1. März 2011, um 19.30 Uhr, bei der Einreise in die Schweiz im Kanton St. Gallen verhaftet und am nächsten Tag ins Bezirksgefängnis Unterkulm überführt, wo er um 17.30 Uhr eintraf. Die Erledigung der mit der Festnahme verbundenen Formalitäten und die Organisation des Transports sind mit einem nicht unerheblichen Zeitaufwand verbunden, weshalb diese Überführung in zeitlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist.
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau führte mit dem Beschwerdeführer am 3. März 2011, um 08.25 Uhr, eine Einvernahme durch. Sie erstellte gleichentags den Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft und faxte diesen unbestrittenermassen um 17.45 Uhr dem Verteidiger des Beschwerdeführers. Dem Zwangsmassnahmengericht stellte sie den Antrag am 4. März 2011, um 07.36 Uhr, zu. Das Obergericht hat zu Recht beanstandet, dass die Staatsanwaltschaft die Zustellung an das Zwangsmassnahmengericht ohne zwingenden Grund über Nacht hinausschob. Dieses hat den Haftentscheid dann innert 26 Stunden gefällt und eröffnet. Dieser Zeitbedarf erscheint unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots nicht übermässig, insbesondere weil auch noch eine Dolmetscherin aufgeboten werden musste.
3.2.3 Eine zusammenfassende Würdigung der Verfahrensführung in zeitlicher Hinsicht ergibt somit, dass zwar der Staatsanwaltschaft vorzuwerfen ist, dass sie den Antrag auf Haftanordnung dem Zwangsmassnahmengericht nicht am Abend des 3., sondern erst am frühen Morgen des 4. März 2011 zustellte und damit die Frist von Art. 224 Abs. 2 StPO verletzte. Die richterliche Eröffnung der Untersuchungshaft erfolgte indessen 86 Stunden nach der Festnahme und damit innerhalb der gesetzlichen Maximalfrist von 96 Stunden. Das ist insbesondere mit Blick auf die Schwierigkeiten des Verfahrens - Zuführung des Beschwerdeführers aus einem anderen Kanton und Notwendigkeit, eine Dolmetscherin für eine in der Schweiz wenig gängige Sprache aufzubieten - gerade noch akzeptabel. Die Rüge, der Beschwerdeführer hätte wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots umgehend auf freien Fuss gesetzt werden müssen, ist unbegründet. Das Obergericht hat zudem der Verletzung der Frist von Art. 224 Abs. 2 StPO durch die Staatsanwaltschaft bereits Rechnung getragen, indem es die Verletzung des Beschleunigungsgebots feststellte und entgegen dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens die gesamten Gerichtskosten auf die Staatskasse nahm, obwohl es die Beschwerde nur teilweise guthiess und damit der Beschwerdeführer an sich einen Teil der Verfahrenskosten hätte übernehmen müssen.
3.2.4 Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe auch selber das Beschleunigungsgebot verletzt, indem es die Sache zu neuem Entscheid an das Zwangsmassnahmengericht zurückgewiesen habe, anstatt selber zu entscheiden. Mit einem Entscheid in der Sache hätte das Obergericht indessen den Rechtsmittelzug des Beschwerdeführers um eine Instanz verkürzt, und es steht keineswegs fest, dass es in der Lage gewesen wäre, schneller neu zu entscheiden als es das Zwangsmassnahmengericht tat, nämlich am 25. März 2011, nur vier Tage nach dem Rückweisungsentscheid. Dieser ist daher auch unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots vertretbar. Die Rüge ist unbegründet.
4.
Die Beschwerde ist somit als unbegründet abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht aussichtslos war und die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
2.2 Rechtsanwalt Kaspar Hemmeler, Aarau, wird für das bundesgerichtliche Verfahren als unentgeltlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Gerichtskasse entschädigt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau, dem Zwangsmassnahmengericht und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Mai 2011
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Fonjallaz Störi