BGer 9C_179/2011 |
BGer 9C_179/2011 vom 16.05.2011 |
Bundesgericht
|
Tribunal fédéral
|
Tribunale federale
|
{T 0/2}
|
9C_179/2011
|
Urteil vom 16. Mai 2011
|
II. sozialrechtliche Abteilung
|
Besetzung
|
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
|
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
|
Gerichtsschreiber Fessler.
|
Verfahrensbeteiligte |
CSS Kranken-Versicherung AG, Recht & Compliance, Tribschenstrasse 21, 6005 Luzern,
|
Beschwerdeführerin,
|
gegen
|
E.________,
|
Beschwerdegegnerin.
|
Gegenstand
|
Krankenversicherung,
|
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Wallis, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 27. Januar 2011.
|
Sachverhalt:
|
A.
|
Nachdem bei E.________ 1985 eine Mammareduktionsplastik beidseits durchgeführt worden war, stellte der plastische Chirurg Dr. med. Z.________ am 25. September 2008 bei der CSS Kranken-Versicherung AG (nachfolgend: CSS), bei welcher sie obligatorisch krankenpflegeversichert war, das Gesuch um Kostenübernahme für einen weiteren solchen Eingriff. Als Diagnosen gab er eine beidseitige weiterhin bestehende Mammahypertrophie bei Disproportion der Brüste in Bezug auf die Körpergrösse und Thorax sowie eine instabile Narbe mit frischen kutanen Hautnekrose-Folgen an der linken Brust an. Die CSS lehnte das Gesuch mit Schreiben vom 16. Oktober 2008 ab. Im Rahmen eines stationären Aufenthalts vom 3. bis 5. November 2008 in der Klinik V.________ liess E.________ den Eingriff (Narbenkorrekturen und Mammareduktionsplastik beidseits) vornehmen. Mit Verfügung vom 4. Juni 2009 lehnte die CSS eine Kostenübernahme durch die obligatorischen Krankenpflegeversicherung ab. Daran hielt sie nach Stellungnahme ihres Vertrauensarztes Dr. med. S.________, Facharzt FMH Chirurgie, mit Einspracheentscheid vom 29. Dezember 2009 fest.
|
B.
|
In Gutheissung der Beschwerde von E.________ verpflichtete das Kantonsgericht Wallis, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 27. Januar 2011 die CSS, sich an den Kosten (inklusive Verzugszins) im Zusammenhang mit der Mammareduktionsplastik beidseits vom 3. November 2008 im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu beteiligen.
|
C.
|
Die CSS führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. Januar 2011 sei aufzuheben, eventualiter die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
|
E.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich nicht vernehmen lassen.
|
Erwägungen:
|
1.
|
Im Streite liegt der - vorinstanzlich bejahte - Anspruch der Beschwerdegegnerin auf Vergütung der Kosten der Mammareduktionsplastik beidseits vom 3. November 2008 samt Aufenthalt in der Klinik V.________ vom 3. bis 5. November 2008 durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung. Die diesbezüglich massgeblichen Rechtsgrundlagen werden im angefochtenen Entscheid wiedergegeben, worauf verwiesen wird (vgl. BGE 130 V 299 und Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts K 123/04 vom 24. März 2005 E. 2.2 sowie K 12/04 vom 4. April 2005 E. 2.2 und K 15/04 vom 26. August 2004 E. 2.2).
|
2.
|
2.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, der operierende Arzt Dr. med. Z.________ habe im Bericht vom 25. September 2008 glaubhaft die Diagnose einer Mammahypertrophie gestellt und wie der Frauenarzt der Versicherten im Bericht vom 27. Januar 2009 die längst notwendige medizinische Indikation für eine Mammareduktionsplastik beidseits bestätigt. Es hätten durch die Volumenzunahme resultierende Wundheilungsstörungen bestanden, welche jährlich über einen Zeitraum von Mai bis September aufgetreten seien und jeweils nur sehr langsam geheilt hätten. Die applizierten konservativen Massnahmen (Salben, Antibiotika) hätten keine Linderung und keinen andauernden Erfolg gebracht. Trotz ständiger ärztlicher Behandlung seien die fokalen Entzündungen immer öfter und während längerer Zeit aufgetreten. Entgegen den Vorbringen des Krankenversicherers würden sich die von der Versicherten und ihrem Frauenarzt vorgebrachten psychischen Beschwerden nicht nur auf die Infektionssituation, sondern auch auf eine Hypertrophie beziehen. Aktenmässig stehe fest, dass sich die Versicherte im Sommer 2004 psychiatrisch habe behandeln lassen. Zudem sei nachvollziehbar, dass die Mammahypertrophie und die ständigen Wundheilungsstörungen ihr auch in psychischer Hinsicht zu schaffen gemacht hätten, wobei sie nach glaubhaften Vorbringen während den Sommermonaten und beim Sport Treiben Einschränkungen habe hinnehmen müssen, was sich in relevanter Weise auf ihre Lebensweise und derjenigen der Kinder ausgewirkt habe. In Bezug auf die Wundheilungsstörungen müsse aufgrund deren Intensität von einem unmittelbaren pathologischen Gehalt gesprochen und sowohl Krankheitswert als auch Behandlungsbedürftigkeit angenommen werden. Lediglich die erneut durchgeführte chirurgische Korrektur mittels Mammareduktionsplastik habe die Störungen dauernd zu beseitigen vermocht. Es sei der Versicherten nicht zuzumuten gewesen, sich über Jahre und während Monaten unwirksamen konservativen Behandlungen zu unterziehen, wenn ein chirurgischer Eingriff einen entscheidend höheren Nutzwert darzustellen vermocht habe. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit sei davon auszugehen, dass die Hypertrophie körperliche oder psychische Beschwerden mit Krankheitswert verursacht habe, deren dauernde Behebung das eigentliche Ziel des Eingriffs vom 3. November 2008 gewesen sei. Somit sei die Kostenübernahmepflicht für diese Massnahme gegeben. Daran ändere nichts, dass weniger als 500 Gramm Gewebe je beidseits (rechts: 365 Gramm, links: 340 Gramm) entnommen worden sei, zumal nachvollziehbar bei einer Reoperation die Gewebeentnahme geringer ausfalle.
|
2.2 Der Beschwerde führende Krankenversicherer bestreitet nicht, dass Wundheilungsstörungen (nach der Geburt der zwei Kinder 1998 und 2000) aufgetreten waren, jedes Jahr von Mai bis September anhielten, diesen Beeinträchtigungen aufgrund ihrer Intensität Krankheitswert zukam und dass die eingeleiteten konservativen Massnahmen nur "bescheidenen" Erfolg gebracht hatten. Indessen hätten sich die Wundheilungsstörungen, Infekte und Narbenprobleme einzig linksseitig manifestiert, wie der Vertrauensarzt Dr. med. S.________ in seiner ausführlichen Stellungnahme vom 16. November 2009 festgehalten habe. Auch der operierende Arzt sowie der Frauenarzt der Versicherten hätten in ihren Berichten an keiner Stelle erwähnt, dass die gesundheitlichen Störungen beidseitig vorliegen würden. Gemäss Vertrauensarzt sei indessen lediglich ein chirurgischer Eingriff durch Exzision der kutanen, d.h. oberflächlich beschränkten Infektrezidive links indiziert gewesen. Sodann habe Dr. med. S.________ eine Mammahypertrophie und damit zusammenhängende psychische Beschwerden verneint. Vielmehr liege die beidseitige Brustgrösse im Normbereich. Die Vorinstanz habe die Meinung des Vertrauensarztes übergangen, ohne dafür entsprechende Gründe zu liefern, und diese damit faktisch aus dem Recht gewiesen.
|
3.
|
Mit seinen Vorbringen rügt der am Recht stehende Krankenversicherer - sinngemäss - eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) und - ausdrücklich - eine willkürliche Beweiswürdigung durch die Vorinstanz.
|
3.1
|
3.1.1 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach Art. 61 lit. c ATSG bedeutet umfassende und pflichtgemässe Würdigung der Beweise ohne Bindung an förmliche Beweisregeln. Die kantonalen Versicherungsgerichte haben somit alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Anspruchs gestatten. Insbesondere dürfen sie bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, weshalb sie auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellen (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; Urteil 9C_629/2009 vom 4. Juni 2010 E. 4.1 mit Hinweisen).
|
Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Auf einen diesen Anforderungen an sich genügenden ärztlichen Bericht darf jedoch dann nicht abgestellt werden, wenn Umstände vorliegen, die in objektiver Weise und nicht bloss aufgrund des subjektiven Empfindens der Partei geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Verfassers zu erwecken (BGE 132 V 93 E. 7.1 S. 109 mit Hinweis; Urteil 9C_1061/2009 vom 11. März 2010 E. 4.1).
|
3.1.2 Die konkrete Beweiswürdigung durch die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, namentlich wenn sie den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_1061/2009 vom 11. März 2010 E. 4.1).
|
3.2
|
3.2.1 Nach Auffassung der Vorinstanz sind die Berichte des Vertrauensarztes des Krankenversicherers vom 15. April und 16. November 2009 nicht "sehr" schlüssig und nicht nachvollziehbar. Namentlich wecke der Bericht des operierenden Arztes vom 25. September 2008 Zweifel an der versicherungsinternen ärztlichen Schlussfolgerung, es habe im Zeitpunkt des Eingriffs vom 3. November 2008 keine Mammahypertrophie beidseits bestanden. Zudem habe der Vertrauensarzt die Versicherte nie selber untersucht. Die Vorinstanz hat somit begründet, weshalb nicht auf die vertrauensärztliche Beurteilung abgestellt werden könne. Insofern kann nicht von einer Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung gesprochen werden.
|
3.2.2 Indessen hat das kantonale Versicherungsgericht zu Unrecht der Stellungnahme des Vertrauensarztes vom 16. November 2008 keinen Beweiswert zuerkannt und daraus unhaltbare Schlüsse gezogen. Vorab bestehen keine Anhaltspunkte, welche Anlass zu Zweifeln an dessen Objektivität und Unvoreingenommenheit wecken könnten. Sodann stützte sich die vertrauensärztliche Beurteilung auf die Berichte des operierenden Arztes und des Frauenarztes der Versicherten vom 25. September 2008 bzw. 27. Januar 2009 sowie auf die verfügbare Fotodokumentation. Dessen Feststellungen und Schlussfolgerungen sind begründet und entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nachvollziehbar. Sie verlieren nicht etwa deshalb an Beweiskraft, weil der Vertrauensarzt die Versicherte nicht untersucht hatte. Es ist nicht ersichtlich und die Vorinstanz legt auch nicht dar, inwiefern eine eigene Untersuchung nach bereits durchgeführter Operation neue Erkenntnisse in Bezug auf Indikation und Zweckmässigkeit des Eingriffs hätte bringen können. Andere Gründe, welche gegen den Beweiswert der vertrauensärztlichen Beurteilung sprechen könnten, sind nicht auszumachen und ergeben sich auch nicht aus den vorinstanzlichen Erwägungen.
|
Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz nicht einfach auf die Berichte der behandelnden Ärzte vom 25. September 2008 und 27. Januar 2009 abstellen und gestützt darauf die Frage der Zweckmässigkeit der Mammareduktionsplastik beidseits bejahen, ohne sich zum Standpunkt des Krankenversicherers zu äussern, dass gemäss Vertrauensarzt lediglich ein chirurgischer Eingriff durch Exzision der kutanen, d.h. oberflächlich beschränkten Infektrezidive links indiziert gewesen sei. Dazu bestand umso mehr Anlass, als im Verfahren unbestritten geblieben war, dass einzig linksseitig Wundheilungsstörungen, Infektionen und Narbenprobleme bestanden hatten und beim Eingriff lediglich 365 Gramm (rechts) und 340 Gramm (links) Gewebe entfernt wurden, was für die vertrauensärztliche Feststellung spricht, wonach sich die Volumenzunahme (nach der Mammareduktionsplastik beidseits 1985 und der Geburt der zwei Kinder 1998 und 2000) im Normbereich gehalten habe. Es kommt dazu, dass nach nicht offensichtlich unrichtiger Feststellung der Vorinstanz die Versicherte sich im Sommer 2004 psychiatrisch behandeln liess. Diese offenbar einmalige und nicht weiter dokumentierte Massnahme lässt indessen nicht ohne weiteres den Schluss auf überwiegend wahrscheinlich von einer allfälligen Mammahypertrophie verursachte psychische Beschwerden von Krankheitswert zu.
|
3.3 Die Beschwerde ist somit im Eventualstandpunkt begründet. Die Vorinstanz wird ein fachärztliches Gutachten einholen, welches sich insbesondere zur Indikation und zur Zweckmässigkeit (vgl. zu diesem Begriff allgemein BGE 130 V 299 E. 6.1 S. 304) der im Raume stehenden möglichen Behandlungen (Exzision links oder Mammareduktionsplastik beidseits, allenfalls nur links) äussert. Danach wird sie über die Vergütung des im stationären Rahmen durchgeführten Eingriffs vom 3. November 2008 - auch unter dem Titel operative Behandlung sekundärer krankheits- oder unfallbedingter Beeinträchtigungen, insbesondere äusserliche Verunstaltungen an sichtbaren und in ästhetischer Beziehung speziell empfindlichen Körperteilen (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 12/04 vom 4. April 2005 E. 2.2) - durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung neu entscheiden.
|
4.
|
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
|
Demnach erkennt das Bundesgericht:
|
1.
|
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts Wallis, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 27. Januar 2011 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne von E. 3 ein Gutachten einhole und danach über die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der Mammareduktionsplastik beidseits vom 3. November 2008 neu entscheide.
|
2.
|
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
|
3.
|
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Wallis, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
|
Luzern, 16. Mai 2011
|
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
|
des Schweizerischen Bundesgerichts
|
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
|
Meyer Fessler
|