BGer 2C_685/2010
 
BGer 2C_685/2010 vom 30.05.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
2C_685/2010
Urteil vom 30. Mai 2011
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Stadelmann,
Gerichtsschreiber Moser.
 
Verfahrensbeteiligte
1. X.________,
2. Y.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bivetti,
gegen
Migrationsamt des Kantons Thurgau,
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau.
Gegenstand
Familiennachzug,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. Juni 2010.
Sachverhalt:
A.
X.________, türkischer Staatsangehöriger, wurde am 6. April 1977 in F.________ geboren, wo er heute noch lebt. Er ist Inhaber einer Niederlassungsbewilligung. X.________ leidet seit einigen Jahren an einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer er nicht mehr arbeitsfähig ist. Im Sommer 2008 wurde ihm rückwirkend ab April 2004 eine volle IV-Rente zugesprochen. Zusätzlich bezieht er Ergänzungsleistungen.
Am 8. September 2008 heiratete X.________ seine Landsfrau Y.________, während eines Besuchsaufenthaltes derselben in der Schweiz. Am 11. September 2008 stellte er ein Familiennachzugsgesuch für seine Ehefrau. Mit Schreiben vom 25. März 2009 teilte das Migrationsamt des Kantons Thurgau X.________ mit, dass er nicht über genügend finanzielle Mittel für den Unterhalt der Familie verfüge und das Gesuch deshalb voraussichtlich abgelehnt werden müsse.
B.
Mit Verfügung vom 28. Mai 2009 lehnte das Migrationsamt das Gesuch um Familiennachzug ab.
Dagegen beschwerten sich die Eheleute X.________ und Y.________ ohne Erfolg beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau (Entscheid vom 22. Dezember 2009). Die gegen den Entscheid des Departementes erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau am 16. Juni 2010, zugestellt am 6. Juli 2010, ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 6. September 2010 beantragen X.________ und Y.________, den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 16. Juni 2010 aufzuheben und Y.________ die Einreise- und Aufenthaltsbewilligung im Rahmen der Bestimmungen über den Familiennachzug bei ihrem Ehemann zu gewähren. Eventuell sei die Angelegenheit zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter stellen sie das Begehren, es sei ihnen für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren.
Das Verwaltungsgericht, das Departement für Justiz und Sicherheit und das Migrationsamt des Kantons Thurgau wie auch das Bundesamt für Migration beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:
1.
1.1 Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG schliesst die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen Entscheide über ausländerrechtliche Bewilligungen aus, auf deren Erteilung weder nach dem Bundes- noch dem Völkerrecht ein Rechtsanspruch besteht.
1.2 Das vorliegende Gesuch um Familiennachzug wurde nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) am 1. Januar 2008 eingereicht, womit es nach Massgabe der Bestimmungen des neuen Rechts zu behandeln ist (Art. 126 Abs. 1 AuG e contrario).
1.3 Der beschwerdeführende Ehemann verfügt über eine Niederlassungsbewilligung und hat darum ersucht, seine Ehefrau in die Schweiz nachziehen zu können, um mit dieser hier zusammenzuwohnen. Er und seine Ehefrau verfügen damit im Grundsatz über einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung der anbegehrten Aufenthaltsbewilligung (Art. 43 Abs. 1 AuG). Ob der Anspruch erloschen ist, weil - wie die Vorinstanzen angenommen haben - ein Widerrufsgrund nach Art. 62 AuG (in Verbindung mit Art. 51 Abs. 2 lit. b AuG) vorliegt, ist eine Frage der materiellen Beurteilung und nicht der Zulässigkeit des Rechtsmittels (vgl. BGE 128 II 145 E. 1.1.5 S. 149 f.; Urteil 2C_793/ 2008 vom 27. März 2009 E. 1). Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist damit einzutreten.
1.4 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 bzw. Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 90 Abs. 1 BGG).
Insofern hat für die Beurteilung des vorliegenden Falles ausser Acht zu bleiben, dass die Beschwerdeführer inzwischen Eltern einer Tochter geworden sind und während hängigem Verfahren vor Bundesgericht beim kantonalen Migrationsamt auch für diese um Nachzug in die Schweiz ersucht haben.
2.
2.1 Nach Art. 43 Abs. 1 AuG haben ausländische Ehegatten von Personen mit Niederlassungsbewilligung Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit diesen zusammenwohnen. Die Rechtsansprüche gemäss dieser Bestimmung gelten unter Vorbehalt der Erlöschensgründe von Art. 51 Abs. 2 AuG. Nach Art. 51 Abs. 2 lit. b AuG erlöschen die Ansprüche nach Art. 43 AuG, wenn Widerrufsgründe nach Art. 62 AuG vorliegen. Ein solcher besteht unter anderem, wenn die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist (Art. 62 lit. e AuG).
2.2 Die Vorinstanz führt aus, für die Gewährung des Familiennachzuges müssten finanzielle Mittel vorhanden sein, welche gewährleisteten, dass der Familiennachzug nicht zu einer Sozialhilfeabhängigkeit führe. Mindestens sollten finanzielle Mittel gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) vorhanden sein. Es liege aber im kantonalen Ermessen, zusätzliche Mittel vorauszusetzen, die es den Ausländerinnen und Ausländern ermöglichten, ihre soziale Integration in der Schweiz sicherzustellen. Im Rahmen dieses kantonalen Ermessens hätten sich einige Kantone zur Vereinigung der Fremdenpolizeichefs der Ostschweizer Kantone und des Fürstentums Liechtenstein (VOF) zusammengeschlossen und zusätzliche Regelungen getroffen. Für die Berechnung der finanziellen Lage in Bezug auf das Gesuch um Familiennachzug seien vorliegend die VOF-Richtlinien anwendbar. Gemäss diesen Richtlinien entstehe für den Beschwerdeführer und dessen Ehefrau, entsprechend der neuen Berechnung durch die Vorinstanz, ein monatlicher Fehlbetrag von Fr. 646.35. Damit sei der Widerrufsgrund von Art. 62 lit. e AuG erfüllt.
Die Beschwerdeführer machen unter anderem geltend, der Ehemann sei aktuell nicht von der Sozialhilfe abhängig. Er habe sämtliche Schulden mit der Rentengutsprache getilgt und es bestünden gegenüber ihm von Seiten der sozialen Dienste der Stadt F.________ keine Forderungen mehr. Sie rügen, die Vorinstanzen hätten zu Unrecht die VOF- und nicht die SKOS-Richtlinien angewandt. Zudem sei ihnen kein Einblick in diese Richtlinien gewährt worden, so dass sie keine Möglichkeit gehabt hätten, die Berechnungsgrundlagen von Behörde und Vorinstanz einzusehen oder zu überprüfen. Sie weisen sodann darauf hin, die Vorinstanz berücksichtige auf der Einkommensseite lediglich die dem Ehemann derzeit monatlich ausbezahlte IV-Rente von Fr. 1'407.-- sowie die Ergänzungsleistungen von Fr. 1'588.75. Werde die zukünftige finanzielle Entwicklung berücksichtigt, so sei auch das mögliche Einkommen der Ehefrau zu berücksichtigen.
2.3
2.3.1 Art. 62 lit. e AuG setzt eine konkrete Gefahr der Fürsorgeabhängigkeit voraus; blosse finanzielle Bedenken genügen nicht (vgl. zum analogen altrechtlichen Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG: BGE 119 Ib 81 E. 2d S. 87; 125 II 633 E. 3c S. 641). Nach gefestigter Rechtsprechung stellen dabei Sozialversicherungsleistungen unter Einschluss der Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung keine Sozialhilfe im Sinne von Art. 62 lit. e (bzw. Art. 63 Abs. 1 lit. c) AuG dar (BGE 135 II 265 E. 3.7 S. 272 mit Hinweis). Für die Beurteilung der Gefahr der Sozialhilfeabhängigkeit ist von den aktuellen Verhältnissen auszugehen; die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung ist aber auf längere Sicht abzuwägen. Weiter darf nicht einfach auf das Einkommen des hier anwesenden Familienangehörigen abgestellt werden, sondern es sind die finanziellen Möglichkeiten aller Familienmitglieder über eine längere Sicht abzuwägen (vgl. BGE 122 II 1 E. 3c S. 8). Das Einkommen des Angehörigen, der an die Lebenshaltungskosten der Familie beitragen soll, ist daran zu messen, ob und in welchem Umfang es tatsächlich realisierbar ist. In diesem Sinne müssen die Erwerbsmöglichkeiten und das damit verbundene Einkommen konkret belegt und mit gewisser Wahrscheinlichkeit sowie, soweit möglich, auf mehr als nur kurze Frist erhärtet sein, um Berücksichtigung zu finden (vgl. BGE 122 II 1 E. 3 S. 8/9; Urteil 2C_452/2008 vom 13. Februar 2009 E. 2).
2.3.2 Angesichts der vorstehend dargelegten Grundsätze erscheint es diskutabel, wenn die Vorinstanz bei der Beurteilung des Familiennachzugsgesuches - bei einem von ihr berechneten monatlichen Manko von nur gerade Fr. 646.35 - ohne weiteres ausschliesst, dass auch die Ehefrau zum ehelichen Einkommen beitragen könne, wiewohl die Beschwerdeführer sowohl eine Bestätigung über eine mögliche Beschäftigung der Ehefrau in einem Coiffeursalon als auch einen Arbeitsvertrag beibringen konnte, welcher ihr ab dem Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthalts- bzw. Arbeitsbewilligung eine Arbeit als Reinigungskraft mit einem Monatsbruttolohn von rund Fr. 680.-- zusicherte. Die Nichtberücksichtigung dieser Belege begründete die Vorinstanz damit, die Bestätigung sei als reines Gefälligkeitsschreiben zu werten und - bezüglich des Arbeitsvertrages - es komme oft vor, dass Arbeitgeber nach Ablauf der Probezeit nicht gewillt seien, ein Arbeitsverhältnis zu verlängern. Auch sei bei jungen Paaren damit zu rechnen, dass innert Kürze das Einkommen eines Ehepartners im Falle der Geburt eines Kindes wegfallen würde. Aufgrund der Invalidität des beschwerdeführenden Ehemannes und des Familienverständnisses im türkischen Kulturkreis sei davon auszugehen, dass die Ehefrau die Kinderbetreuung übernehmen und deshalb kaum in der Lage sein werde, längerfristig einer Arbeitstätigkeit nachzugehen. Derartig pauschalierte Gründe und hypothetische Annahmen dürften es unter den gegebenen Umständen noch nicht rechtfertigen, um bei der Ehefrau von keinerlei Erwerbseinkommen auszugehen.
2.3.3 Die vorinstanzliche Bejahung einer konkreten Gefahr von Sozialhilfeabhängigkeit ist aber auch aus einem weiteren Grund zu beanstanden: Das Verwaltungsgericht hat es unterlassen, zu begründen, weshalb es neben dem Grundbedarf für den Lebensunterhalt von zwei Personen von Fr. 1'550.-- einen Ergänzungsbedarf in der Höhe von Fr. 452.-- (nebst Wohnkosten und Krankenversicherung) in ihre Berechnung des Lebensbedarfs hat einfliessen lassen. Im Lichte der ratio legis des vorliegend in Frage stehenden Widerrufsgrundes, Sozialhilfeausgaben des Staates zu verhindern, erscheint es sachfremd, im Rahmen von Art. 62 lit. e AuG andere Kriterien anzuwenden als für die effektive Zusprache von Sozialleistungen. Bleibt der erwähnte, von der Vorinstanz veranschlagte Ergänzungsbedarf ausgeklammert, liegt bei einem Totalbedarf von monatlich Fr. 3'190.10 und einem (Ersatz-)Einkommen des Ehemannes aus Invalidenrente und Ergänzungsleistungen von Fr. 2'995.75 ein Manko von Fr. 194.35 vor. Es kann unter den gegebenen Umständen davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin in der Lage ist, ein Einkommen in dieser Höhe zu erzielen, zumal die Erwerbseinkünfte bei den Ergänzungsleistungen nur in beschränktem Umfang angerechnet (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a ELG [SR 831.30]) und somit nicht zu einer Kürzung im selben Umfang führen werden.
2.3.4 Infolgedessen ist der Beschwerdeführerin die Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Ehegattennachzugs zu erteilen. Der gegenteilige Entscheid der Vorinstanz erweist sich als bundesrechtswidrig. Sollte sich herausstellen, dass die Ehefrau - entgegen ihren Zusicherungen - nicht in der Lage ist, die erforderlichen Erwerbseinkünfte zu erzielen, und sollten die Eheleute dennoch auf Sozialhilfe angewiesen sein, obliegt es dem Migrationsamt, die Aufenthaltsbewilligung in Anwendung von Art. 51 Abs. 2 lit. b in Verbindung mit Art. 62 lit. e AuG nicht mehr zu verlängern.
3.
3.1 Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben, und das Migrationsamt des Kantons Thurgau anzuweisen, der beschwerdeführenden Ehefrau eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wird über die Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens neu zu entscheiden haben.
3.2 Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren dem Ausgang entsprechend zu entschädigen (Art. 68 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird gutgeheissen, und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. Juni 2010 wird aufgehoben.
2.
Das Migrationsamt des Kantons Thurgau wird angewiesen, der Ehegattin des Beschwerdeführers eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
3.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat über die Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens neu zu entscheiden.
4.
4.1 Es werden keine Kosten erhoben.
4.2 Der Kanton Thurgau hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen.
4.3 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben.
5.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, dem Migrationsamt, dem Departement für Justiz und Sicherheit und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau sowie dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 30. Mai 2011
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Zünd Moser