Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5A_622/2010
Urteil vom 27. Juni 2011
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,
Bundesrichter Marazzi, von Werdt,
Gerichtsschreiber Möckli.
Verfahrensbeteiligte
X.________, Tschechien,
vertreten durch Rechtsanwältin Rita Arnold Haas,
Beschwerdeführerin,
gegen
Z.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. iur. Patricia Jucker,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Abänderung von Eheschutzmassnahmen,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht, 5. Kammer, vom 9. August 2010.
Sachverhalt:
A.
Z.________ und X.________ haben die gemeinsamen Kinder S.________, geb. xxxx 2006, und T.________, geb. xxxx 2003, welche mit Eheschutzurteil vom 17. November 2008 unter die Obhut der Mutter gestellt wurden.
Mit Abänderungsklage vom 6. Februar bzw. 11. März 2009 verlangte sie, die Kinder seien unter ihre alleinige elterliche Sorge zu stellen und es sei ihr zu erlauben, für sich und die beiden Söhne den Wohnsitz nach Tschechien zu verlegen. Das Bezirksgericht Bremgarten stellte die beiden Kinder mit Urteil vom 8. Mai 2009 unter die alleinige Obhut und elterliche Sorge der Mutter. Das Obergericht des Kantons Aargau modifizierte dieses Urteil am 20. Oktober 2009 dahingehend, dass es die Kinder unter die Obhut der Mutter und (erst) ab dem Wegzug nach Tschechien unter ihre alleinige elterliche Sorge stellte. Das Bundesgericht hielt in seinem Urteil vom 1. Juni 2010 fest (Verfahren 5D_171/2009), dass die Mutter bereits aufgrund des Obhutsrechts über den Aufenthalt der Kinder bestimmen und mit diesen nach Tschechien ziehen könne, weshalb der (von den kantonalen Instanzen ausschliesslich mit dieser Zwecksetzung begründete) Entzug der elterlichen Sorge auf Seiten des Vaters hierfür nicht nötig sei; weil aber eventuell andere Gründe (mögliche Unfähigkeit der Eltern, zum Wohl der Kinder zusammenzuwirken) für die Alleinzuteilung der elterlichen Sorge sprechen könnten, wurde die Sache zur diesbezüglichen Abklärung und Neubeurteilung an das Obergericht zurückgewiesen.
B.
Ohne neue Sachverhaltserhebung befand das Obergericht mit Urteil vom 9. August 2010, dass keine (anderen) Gründe für einen Entzug der elterlichen Sorge zulasten des Vaters ersichtlich seien und das Urteil des Bezirksgerichts Bremgarten diesbezüglich ersatzlos aufgehoben werden müsse.
C.
Gegen dieses Urteil hat die Mutter am 7. September 2010 eine Beschwerde in Zivilsachen eingereicht mit den Begehren um dessen Aufhebung und um erneute Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Abklärung des relevanten Sachverhalts; ausserdem verlangte sie die unentgeltliche Rechtspflege. In seiner Vernehmlassung vom 29. November 2010 stellte der Vater den Hauptantrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, dies mit der Begründung, infolge Wegzuges der Kinder nach Tschechien seien die schweizerischen Gerichte für den Entscheid über die elterliche Sorge nicht mehr zuständig; eventualiter verlangte er die Abweisung der Beschwerde. Im Rahmen des mit Blick auf die internationale Zuständigkeit eröffneten zweiten Schriftenwechsels verlangte die Mutter mit Replik vom 16. Dezember 2010, auf ihre Beschwerde sei einzutreten, das Urteil vom 9. August 2010 sei aufzuheben und die Sache sei zur Sachverhaltsfeststellung und neuen Entscheidung zurückzuweisen, eventualiter sei das Urteil vom 9. August 2010 wegen fehlender internationaler Zuständigkeit aufzuheben. Mit Duplik vom 17. Januar 2011 verlangte der Vater, auf die neuen Anträge der Gegenseite sei nicht einzutreten bzw. diese seien abzuweisen, und im Übrigen sei im Sinn der Anträge in der Vernehmlassung zu entscheiden. Am 25. Januar 2011 stellte die Beschwerdeführerin einen Sistierungsantrag, da zwischen den Parteien Vergleichsverhandlungen geführt würden. Mit Verfügung vom 28. Januar 2011 wurde das Verfahren bis zum 15. März 2011 sistiert, wobei festgehalten wurde, eine weitere Sistierung würde nur im Einverständnis mit der Gegenpartei gewährt. Am 27. April 2011 erneuerte die Beschwerdeführerin ihren Sistierungsantrag. Der Beschwerdegegner widersetzte sich diesem mit Schreiben vom 4. Mai 2011 und hielt fest, die Parteien würden keine Vergleichsgespräche führen.
Erwägungen:
1.
In der Verfügung vom 28. Januar 2011 wurde die Verlängerung der Sistierung vom Einverständnis der Gegenpartei abhängig gemacht. Diese Zustimmung wurde mit Schreiben vom 4. Mai 2011 verweigert. Die Sache ist längst spruchreif und eine weitere Sistierung kann deshalb nicht gewährt werden.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer Zivilsache (Regelung der elterlichen Sorge), gegen den die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich offen steht (Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG ). Zentral ist die Frage, ob im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils die internationale Zuständigkeit gegeben war.
2.
Nach Darstellung durch die Parteien sind Mutter und Kinder am 2. Juli 2010 nach Tschechien ausgereist, wobei die Abmeldung in der Schweiz am 25. Juli 2010 erfolgte. Im Zeitpunkt des oberinstanzlichen Urteils am 9. August 2010 hatten Mutter und Kinder unbestrittenermassen schon Wohnsitz in Tschechien. Die Parteien vertreten indes mit Bezug auf die direkte Zuständigkeit zum Entscheid über die elterliche Sorge unterschiedliche Auffassungen:
Die Beschwerdeführerin macht geltend, bereits am 24. Juni 2010 habe sie beim Bezirksgericht Bremgarten die Scheidungsklage anhängig gemacht. Gemäss Art. 63 Abs. 1 IPRG sei das schweizerische Gericht auch für die Regelung der Scheidungsnebenfolgen zuständig und Art. 63 Abs. 2 IPRG enthalte lediglich mit Bezug auf das anwendbare Recht, nicht aber mit Bezug auf die Zuständigkeit einen Vorbehalt zugunsten des HKsÜ (zum Übereinkommen s. E. 3). Ohnehin würde aber Art. 10 HKsÜ eine Sonderzuständigkeit des Scheidungsgerichts begründen und sei auch davon auszugehen, dass die tschechischen Behörden ein Verfahren im Sinn von Art. 8 HKsÜ an die Schweiz abtreten würden. Schliesslich könne sich das Bundesgericht aufgrund der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV sowie der verschiedenen aus Art. 29 BV fliessenden Ansprüchen nicht als unzuständig erklären, denn auch nach einem Wegzug ins Ausland müsse der Instanzenzug im Ursprungsstaat ausgeschöpft werden können.
Der Beschwerdegegner macht geltend, das HKsÜ, welches als Staatsvertrag in Art. 1 Abs. 2 IPRG vorbehalten sei, sehe zwingend eine Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes vor. Eine Zuständigkeit am Scheidungsort würde gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. b HKsÜ das Einverständnis beider Elternteile voraussetzen; er habe die Zuständigkeit des schweizerischen Scheidungsgerichts aber ausdrücklich nicht anerkannt und in der Klageantwort vom 18. Oktober 2010 beantragt, dass auf die Scheidungsklage bzw. die Anträge betreffend die nicht-finanziellen Kinderbelange nicht eingetreten werde. Ohnehin gehe es im vorliegenden Verfahren nicht um die Scheidung, sondern um die Abänderung eines Eheschutzentscheides. Auch eine Abtretung im Sinn von Art. 8 HKsÜ könne nicht zur Debatte stehen, da in Tschechien kein Verfahren hängig sei.
3.
Seit dem Wegzug nach Tschechien liegt mit Bezug auf Anordnungen bezüglich der Vater-Kind-Beziehung ein internationaler Sachverhalt vor. Damit bestimmt sich die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte nach dem IPRG, welches in Art. 1 Abs. 2 völkerrechtliche Verträge vorbehält. Vorliegend richtet sich die Zuständigkeit deshalb nach dem sowohl von der Schweiz als auch von Tschechien unterzeichneten Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kindesschutzübereinkommen, HKsÜ, SR 0.211.231.011).
Aufgrund von Art. 5 Abs. 1 HKsÜ sind die Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kinder zuständig, wobei ab dem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts gemäss Art. 5 Abs. 2 HKsÜ grundsätzlich die Gerichte am neuen Aufenthaltsort zuständig sind. Nach dem HKsÜ gibt es demnach keine perpetuatio fori (vgl. explanatory Report von LAGARDE, Rz. 42, wo ausgeführt wird, dass der Antrag verschiedener Staaten, wonach ein angerufenes Gericht bis zum Verfahrensabschluss zuständig bleiben sollte, von der Kommission mit grosser Mehrheit abgelehnt wurde). Art. 5 Abs. 2 HKsÜ hält nunmehr explizit fest, was aufgrund eines Auslegungsergebnisses bereits für das Vorgängerübereinkommen, dem (von Tschechien nicht unterzeichneten) Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (Minderjährigenschutzabkommen, MSA, SR 0.211.231.01), galt, welches bei einem Aufenthaltswechsel ebenfalls keine perpetuatio fori kannte (BGE 132 III 586 E. 2.2.4 S. 591), weshalb die Zuständigkeit auch während hängigem Appellationsverfahren verloren gehen konnte (BGE 132 III 586 E. 2.3 S. 592; vgl. zu beiden Übereinkommen auch Urteil 5A_131/2011 vom 31. März 2011 E. 3.3.1).
Freilich kennt das HKsÜ gewisse Ausnahmen vom vorgenannten Grundsatz, die aber entgegen den Behauptungen der Beschwerdeführerin nicht gegeben sind: Eine Abtretung des Verfahrens an die Schweiz im Sinn von Art. 8 HKsÜ kann nicht zur Debatte stehen, wenn in Tschechien kein betreffendes Verfahren anhängig gemacht wurde und dementsprechend die schweizerischen Gerichte auch nicht um eine Übernahme des Verfahrens ersucht wurden bzw. werden konnten. Von vornherein nicht in Frage kommen kann sodann die - ohnehin an weitere Bedingungen und Einschränkungen geknüpfte - Scheidungszuständigkeit gemäss Art. 10 HKsÜ, da es vorliegend um die Abänderung eines Eheschutzentscheides bzw. um vorsorgliche Massnahmen geht und nicht um das Scheidungsverfahren selbst.
4.
Nach dem Gesagten war das Obergericht am 9. August 2010 nicht mehr zuständig, über den Entzug der elterlichen Sorge materiell zu entscheiden und entsprechend ist das betreffende Urteil aufzuheben.
Entgegen der Vorstellung der Beschwerdeführerin hat dies in der vorliegenden Konstellation aber nicht zur Konsequenz, dass mit Bezug auf den Entzug der elterlichen Sorge der erstinstanzliche Entscheid in Rechtskraft erwachsen würde: Gleich wie die Appellation im Sinn von § 317 ff. ZPO/AG hat auch die Beschwerde gemäss § 335 ff. ZPO/AG, mit welcher der erstinstanzliche Entscheid seinerzeit vor Obergericht gebracht wurde, aufschiebende Wirkung und vollen Devolutiveffekt (BÜHLER/EDELMANN/KILLER, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau 1998, N. 14 f. zu § 335). Entfiel aber die schweizerische Zuständigkeit zu einem Zeitpunkt, als das Verfahren mit den vorgenannten Effekten vor oberer Instanz hängig war, konnte der erstinstanzliche Entscheid vom 8. Mai 2009 mit Bezug auf die elterliche Sorge zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Wirkungen entfalten. Der obergerichtliche Entscheid vom 20. Oktober 2009 wurde vom Bundesgericht am 1. Juni 2010 aufgehoben, ohne dass materiell über den Entzug der elterlichen Sorge entschieden worden wäre; vielmehr wurde die Sache diesbezüglich an das Obergericht zurückgewiesen, wo sie im Zeitpunkt des Wegzuges von Mutter und Kindern mit vollem Devolutiveffekt hängig war. Mangels eines bis dahin ergangenen schweizerischen Entscheides bleibt es demnach vorläufig bei der gesetzlichen Rechtslage, wonach die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht.
Für die Prüfung und Entscheidung, ob der Entzug der elterlichen Sorge allenfalls wegen unüberwindbarer Konflikte oder ähnlicher Gründe angezeigt wäre, sind nunmehr - gestützt auf Art. 5 Abs. 1 HKsÜ - allein die Gerichte am neuen gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kinder zuständig, und mangels eines schweizerischen Entscheides zu dieser Frage sind die dortigen Gerichte bei einem allfälligen Entscheid frei von jeder Bindewirkung.
5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die fehlende Entscheidzuständigkeit festzustellen ist. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführerin ist zufolge Prozessarmut die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen und sie ist durch Rechtsanwältin Rita Arnold Haas zu verbeiständen (Art. 64 BGG). Die aus der Bundesgerichtskasse zu leistende Entschädigung ist jedoch noch an ihren früheren Rechtsanwalt Y.________ auszuzahlen, welcher sämtliche Eingaben vor Bundesgericht gemacht und damit die zu entschädigenden Leistungen erbracht hat; eine allfällige interne Abrechnung ist direkt durch die Rechtsvertreter vorzunehmen. Von der Sache her ist die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht vollumfänglich unterlegen, weshalb ihr die Gerichtskosten aufzuerlegen sind (Art. 66 Abs. 1 BGG), unter Vorbehalt der unentgeltlichen Rechtspflege, und sie die Gegenpartei zu entschädigen hat (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf weitere Verfahrenssistierung wird abgewiesen.
2.
Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. August 2010 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass für einen Entscheid betreffend die elterliche Sorge über die Kinder S.________ und T.________, welche zur Zeit beiden Elternteilen gemeinsam zusteht, keine schweizerische Zuständigkeit mehr besteht. Im Übrigen wird die Beschwerde in Zivilsachen abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
3.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen und sie wird durch Rechtsanwältin Rita Arnold Haas verbeiständet.
4.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.
5.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
6.
Rechtsanwalt Y.________ wird aus der Gerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.
7.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Zivilgericht, 5. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. Juni 2011
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Der Gerichtsschreiber:
Hohl Möckli