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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B_5/2011
Urteil vom 14. Juli 2011
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys,
Gerichtsschreiber Briw.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Nichttragen der Sicherheitsgurten,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 3. November 2010.
Sachverhalt:
A.
X.________ hielt am 27. Juni 2009 um 20.00 Uhr sein Taxi in der Stadt Luzern auf der Zentralstrasse in Richtung Bahnhof vor einer auf Rot geschalteten Lichtsignalanlage an. Während der Rotlichtphase hatte er den Sicherheitsgurt gelöst, um in der unter dem Beifahrersitz deponierten Schublade eine Visitenkarte für den neben ihm sitzenden Fahrgast hervorzuholen. Beim Wechsel der Ampel auf Grün war nach seiner Darstellung sein Sicherheitsgurt wieder eingeklinkt. Anschliessend wurde er beim Bahnhof von der Polizei, die ihn im Taxi beobachtet hatte, angehalten und kontrolliert. Sie händigte ihm wegen Nichttragens des Sicherheitsgurtes eine Ordnungsbusse aus. Weil er die Busse nicht akzeptierte, wurde er verzeigt.
B.
Das Amtsstatthalteramt Luzern büsste X.________ mit Strafverfügung vom 22. September 2009 wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten beim Führen eines Personenwagens mit 60 Franken. Mit begründetem Entscheid vom 15. Januar 2010 bestätigte das Amtsstatthalteramt die Strafverfügung.
Das Amtsgericht Luzern-Stadt fand ihn auf seine Einsprache hin am 24. Juni 2010 wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten als Fahrzeugführer beim Führen eines Personenwagens der Zuwiderhandlung gegen Art. 3a Abs. 1 Verkehrsregelnverordnung (VRV; SR 741.11) schuldig und bestrafte ihn gemäss Ziff. 312.1 Ordnungsbussenverordnung (OBV; SR 714.031) mit 60 Franken Busse (entsprechend 1 Tag Ersatzfreiheitsstrafe).
Das Obergericht des Kantons Luzern wies seine Kassationsbeschwerde am 3. November 2010 ab.
C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und ihn von Schuld und Strafe freizusprechen.
In der Vernehmlassung beantragte das Obergericht, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Abweisung der Beschwerde. X.________ nahm Stellung dazu.
D.
Das Bundesgericht hat den Entscheid öffentlich beraten (Art. 59 Abs. 1 BGG).
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, beim Schuldspruch gemäss Art. 3a Abs. 1 VRV würden die Ausnahmeregelungen von Art. 3a Abs. 2 lit. b, c und d VRV in keiner Weise berücksichtigt. Nach diesen entfalle die Gurtentragpflicht, wenn im Schritttempo gefahren oder die Geschwindigkeit von 25 km/h nicht überschritten werde. Daher sei anzunehmen, "während der Fahrt" im Sinne von Art. 3a Abs. 1 VRV bedeute, dass das Fahrzeug in Bewegung sein müsse. Bei einer Geschwindigkeit entsprechend diesen Ausnahmeregeln bestehe keine Gefahr bedeutender Verletzungen, weshalb die Gurten nicht getragen werden müssten.
2.
Nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 105 Abs. 1 BGG) ist zugunsten des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass "er im Auto, das vor der Rotlichtampel in einer Kolonne gestanden habe, den Sicherheitsgurt für bloss kurze Zeit vor dem Lichtsignalwechsel auf Grün nicht getragen habe".
Die Vorinstanz führt aus, zwar setze der Begriff der "Fahrt" gemäss Art. 3a Abs. 1 VRV einen Zustand der Bewegung des Motorfahrzeugs voraus. Dieser wörtlichen Auslegung stehe aber die Zweckbestimmung von Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG entgegen. Die Gurten dienten der Sicherheit im Strassenverkehr. Die Gefahrenlage für Fahrzeuginsassen werde bei einem kurzzeitigen Stehen im Strassenverkehr nicht gänzlich beseitigt. Zu denken sei namentlich an Auffahrkollisionen. Eine abstrakte Gefahr genüge. Die Dauer des Nichttragens sei nicht von Bedeutung. Anders entscheiden hiesse, Tür und Tor für Rechtsmissbräuche öffnen.
3.
Gemäss Art. 3a Abs. 1 VRV müssen bei Fahrzeugen, die mit Sicherheitsgurten ausgerüstet sind, Führer und mitfahrende Personen die vorhandenen Sicherheitsgurten während der Fahrt tragen. [...]
Gemäss Art. 3a Abs. 2 VRV sind von der Gurtentragpflicht in Absatz 1 ausgenommen:
a. [ärztliches Zeugnis];
b. Von-Haus-zu-Haus-Lieferanten im Auslieferungsquartier, wenn nicht schneller als 25 km/h gefahren wird;
c. Führer und Mitfahrer bei Fahrten auf Feld- und Waldwegen und im Werkareal, wenn nicht schneller als 25 km/h gefahren wird;
d. Führer beim Manövrieren im Schritttempo;
e. [konzessionierte Transportunternehmungen];
f. [Begleitpersonen bei Sanität und Behindertenfahrdiensten].
3.1 Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers sind somit nicht bloss unter 25 km/h fahrende Fahrzeuge ausgenommen, sondern auch andere Kategorien von Fahrzeugen, und zwar ohne spezifische Geschwindigkeitsbeschränkungen. Die Fahrgeschwindigkeit ist nicht der Grund dieser Ausnahmeregelung. Auch eine Kollision unter 25 km/h kann zu Verletzungen führen, die durch das Tragen von Sicherheitsgurten vermieden werden könnten. Wie aus Art. 3a Abs. 2 VRV klar hervorgeht, liegen der Ausnahmeregelung bestimmt umschriebene, besondere tatsächliche Verhältnisse zugrunde. So muss etwa beim Manövrieren (lit. d) der Fahrzeugführer den Gurt nicht tragen, wohl aber der Mitfahrer, während bei Sanität und Behindertenfahrdiensten (lit. f) nicht die Fahrzeugführer, sondern einzig die "Begleitpersonen von besonders betreuungsbedürftigen Personen" von der Gurtentragpflicht befreit sind. Keine der Ausnahmekonstellationen von Art. 3a Abs. 2 VRV ist im Falle des Beschwerdeführers einschlägig.
3.2 Art. 3a VRV findet seine gesetzliche Grundlage in Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG. Der Bundesrat kann vorschreiben, dass "Insassen von Motorwagen Rückhaltevorrichtungen (Sicherheitsgurten u. dgl.) benützen". Während diese Gesetzesbestimmung keine Ausnahmen kennt, hat der Bundesrat in Art. 3a Abs. 2 VRV eine Ausnahmeregelung vorgesehen. Diese muss restriktiv ausgelegt und als abschliessend betrachtet werden.
Ferner kann darauf hingewiesen werden, dass gemäss Art. 119 lit. i der Verordnung vom 19.6.1995 über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge (VTS; 741.41) für Motorwagen mit einer Höchstgeschwindigkeit bis 30 km/h Sicherheitsgurten nicht erforderlich sind. Die VTS ist hier nicht anwendbar.
3.3 In Frage steht die Auslegung "während der Fahrt". Das Gesetz ist nach seinem Sinn und Zweck auszulegen, wobei von seinem Wortlaut auszugehen ist (BGE 133 IV 228 E. 2.2; 133 III 175 E. 3.3.1). Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt (BGE 131 V 242 E. 5.1).
Nach allgemeinem Sprachgebrauch hält ein Fahrzeugführer "während der Fahrt" vor einem Stoppsignal an und nimmt anschliessend die "Fahrt" wieder auf. Insoweit kann der Ausdruck "während der Fahrt" das Fahrzeug in Bewegung oder im Stillstand bedeuten. Man spricht auch von einer "Fahrt" durch Luzern, wenn "während der Fahrt" vor Signalen oder aus anderen Gründen angehalten werden muss. Ein Zwischenhalt auf einem Park- oder Ausstellplatz lässt sich dagegen nicht mehr unter Art. 3a Abs. 1 VRV subsumieren. "Während der Fahrt" muss mithin in dem Sinne ausgelegt werden, dass damit die Teilnahme im Verkehr gemeint ist. Dann handelt der Fahrzeugführer, während er sich in den Verkehr einfügt oder sich im Verkehr befindet, "während der Fahrt". Diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck von Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG, wonach Insassen von Motorwagen Sicherheitsgurten benützen. Gliedert sich ein Fahrzeug in den Verkehr ein oder ist es im Verkehr eingegliedert, besteht für die Insassen die Gurtentragpflicht. Es widerspricht dem Gesetzeszweck, die Gurtentragpflicht bei einem Halt vor einem Rotlicht zu verneinen. Für eine solche Auslegung sind keine Gründe ersichtlich.
3.4 Wie der Amtsstatthalter in seinem Entscheid vom 15. Januar 2010 ausführte, dauert die Fahrt eines Taxis vom Start bis zum Erreichen des Fahrtziels, mithin bis zum Erreichen des vom Kunden gewünschten Ausstiegsorts beim Bahnhof Luzern. Diese Auslegung wird durch den französischen und italienischen Wortlaut von Art. 3a Abs. 1 VRV bestätigt: "[..] le conducteur et les passagers doivent porter, pendant le trajet (durante la corsa), les ceintures de sécurité existantes." Die Bedeutung von "trajet" ist insbesondere "espace à franchir, à traverser; fait de parcourir un certain espace, pour aller d'un lieu à un autre; chemin ainsi parcouru", und es wird dazu verwiesen auf "chemin, course, parcours, route, voyage" (Le Grand Robert, 2. Aufl. 1985). Die Wortbedeutung von "trajet" stützt somit die erwähnte Auslegung. Der gleiche Begriff findet sich auch in Art. 3b Abs. 1 VRV, wonach die Schutzhelme "während der Fahrt" getragen werden müssen (wobei diese Bestimmung ebenfalls Ausnahmen kennt). Die Sicherheitsgurten "müssen" (doivent, devono) getragen werden. Wer die Sicherheitsgurten zu locker anlegt, verletzt bereits Art. 3a Abs. 1 VRV (Urteil 6S.41/2007 vom 25. Juni 2007). Umso mehr wird dieser Bestimmung zuwidergehandelt, wenn keine Sicherheitsgurten getragen werden, und sei dies auch nur für kurze Zeit.
Ferner kann auf den insoweit gleichlautenden § 21a Abs. 1 der [deutschen] Strassenverkehrsordnung hingewiesen werden: "Vorgeschriebene Sicherheitsgurte müssen während der Fahrt angelegt sein." Nach der deutschen Auslegung meint "Fahrt" den Gesamtvorgang der Benutzung des Kraftfahrzeugs als Beförderungsmittel, weswegen auch kurzzeitige verkehrsbedingte Fahrtunterbrechungen umfasst sind (HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Strassenverkehrsrecht, 41. Aufl., München 2011, § 21a StVO N 3).
3.5 Auch wenn daraus unmittelbar für die Auslegung von Art. 3a VRV nichts folgt, kann angemerkt werden, dass bereits in BGE 103 IV 192 die Nützlichkeit und Effektivität der Sicherheitsgurten betont wurde, und dass das Nichttragen von Sicherheitsgurten gegebenenfalls erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. So kann von einer Bestrafung nicht abgesehen werden, selbst wenn der Täter im Übrigen von seiner Tat im Sinne von Art. 54 StGB schwer betroffen ist (BGE 6B_592/2010 vom 17. März 2011 E. 2.3.5). Auch kann dies ein mitbestimmender Faktor für die Verneinung des adäquaten Kausalzusammenhangs sein, so dass eine strafrechtliche Haftung entfällt und Geschädigte ohne Sicherheitsgurten die Folgen selber tragen müssen (Urteil 6B_509/2010 vom 14. März 2011 E. 3.5). Unabhängig von der strafrechtlichen Qualifikation führt das Nichttragen des Sicherheitsgurts im Unfallversicherungsrecht (Kausalität vorausgesetzt) zur Kürzung der Geldleistungen um 10 % wegen Grobfahrlässigkeit (BGE 118 V 305; Urteile 8C_963/2009 vom 11. März 2010, 8C_396/2009 vom 23. September 2009, 8C_257/2008 vom 4. September 2008, jeweils Bst. A). Ferner ist auf mögliche zivilrechtliche Folgen hinzuweisen (Art. 59 Abs. 2 SVG; vgl. BGE 132 III 249 E. 3.1 sowie 117 II 609 E. 5a mit Erwähnung einer Herabsetzung der Haftungsquote um 10 % wegen Selbstverschuldens).
3.6 Gemäss Art. 3 Abs. 1 VRV muss der Fahrzeugführer seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden. Er darf beim Fahren keine Verrichtung vornehmen, welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert. Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten konkreten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (Urteil 6P.68/2006 und 6S.128/2006 vom 6. September 2006 E. 3.2 mit Hinweisen). In diesem Sinne entschied das Bundesgericht, dass ein Lenker, der in den Phasen des Stillstands seines Fahrzeugs im Stau eine Zeitung las und diese in den Phasen des Aufrückens um einige Meter im Schritttempo teils auf seinen Oberschenkeln, teils am Lenkrad aufgestützt liess, sich unter den gegebenen konkreten Umständen nicht der Verletzung von Verkehrsregeln schuldig machte (a.a.O., E. 3.3.6).
Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer keine Verkehrsgefährdung vor, sondern alleine das Nichttragen der Sicherheitsgurten. Sie geht dabei von einem zutreffenden Begriff von Art. 3a VRV aus. Diese Bestimmung regelt nicht den Verkehr, sondern das Tragen der Sicherheitsgurten. Es handelt sich demnach nicht um eine Verkehrsregel (BGE 103 IV 192 E. 2c S. 196), so dass die oben erwähnte Rechtsprechung hier nicht anwendbar ist. Das Nichttragen der Sicherheitsgurten gefährdet (primär) nicht den Verkehr, sondern ist in erster Linie Selbstgefährdung. Entsprechend ist die Busse auf Art. 96 VRV zu stützen (YVAN JEANNERET, Les dispositions pénales de la Loi sur la circulation routière, Bern 2007, S. 729; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, Zürich/St. Gallen 2011, Art. 90 N 4). Anders würde es sich verhalten, wenn dem Fahrzeugführer durch das An- oder Ablegen der Sicherheitsgurten während der Fahrt die Bedienung des Fahrzeugs erschwert würde oder er deswegen seine Aufmerksamkeit nicht dem Verkehr zuwenden könnte (Art. 3 Abs. 1 VRV).
3.7 Rechtfertigungsgründe sind weder erkennbar noch geltend gemacht worden. Die Visitenkarte konnte nach Beendigung der Fahrt übergeben werden.
4.
Das angefochtene Urteil verletzt kein Bundesrecht. Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten vor Bundesgericht zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. Juli 2011
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Mathys
Der Gerichtsschreiber: Briw